NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

zurück  
Druckversion

Kommentar
Dieser Film zeigt, wie das ist: die Hölle
"Ihre Mütter, ihre Väter"
Von Uri Avnery

Wir sind im Sommer 1941. Fünf junge Leute – drei junge Männer und zwei junge Frauen – treffen sich in einer Bar und verbringen einen glücklichen Abend. Sie flirten miteinander, betrinken sich und tanzen verbotene ausländische Tänze. Sie sind in einem Stadtteil Berlins gemeinsam aufgewachsen. Es ist eine glückliche Zeit. Der Krieg, den Adolf Hitler vor eineinhalb Jahren angefangen hat, ist unglaublich gut fortgeschritten. In dieser kurzen Zeit hat Deutschland Polen, Dänemark, Norwegen, Holland, Belgien und Frankreich erobert.
 
Die Wehrmacht ist unbesiegbar. Der Führer ist ein Genie, „der größte Feldherr aller Zeiten“.
So beginnt der Film, der jetzt in unseren Kinos läuft – ein einzigartiges historisches Dokument. Er dauert fünf atemberaubende Stunden und er beschäftigt Gedanken und Gefühle seiner Zuschauer noch Tage und Wochen danach.
Im Grunde ist es ein Film von Deutschen für Deutsche. Der deutsche Titel lautet: „Unsere Mütter, unsere Väter“. Er soll die Fragen, die so viele junge Deutsche heute verwirren, beantworten: „Wer waren unsere Großeltern und Urgroßeltern? Was haben sie während des schrecklichen Krieges getan? Was haben sie empfunden? Welche Rolle haben sie bei den furchtbaren Verbrechen gespielt, die die Nazis begangen haben?“
Diese Fragen werden im Film nicht explizit gestellt. Aber jeder deutsche Zuschauer stellt sie zwangsläufig. Es gibt keine eindeutigen Antworten. Der Film erforscht nicht die Tiefen. Stattdessen zeigt er ein breites Panorama der Deutschen im Krieg, die verschiedenen Teile der Gesellschaft, die unterschiedlichen Typen von den Kriegsverbrechern über die passiven Zuschauer bis zu den Opfern.
Der Holocaust steht nicht im Mittelpunkt der Ereignisse, aber er ist die ganze Zeit über gegenwärtig, nicht als abgetrenntes Ereignis, sondern in den Stoff der Realität eingewebt.
 
DER FILM setzt 1941 ein und deshalb kann er die Frage, die meiner Meinung nach die wichtigste ist, nicht beantworten: Wie konnte eine zivilisierte Nation, vielleicht die kultivierteste der Welt, eine Regierung wählen, deren Programm unverblümt kriminell war?
Es stimmt, Hitler wurde niemals in freien Wahlen von einer absoluten Mehrheit gewählt. Aber er war nicht weit davon entfernt. Und er fand leicht politische Partner, die bereit waren, ihm bei der Regierungsbildung zu helfen.
Damals sagten einige, es sei ein einzigartiges deutsches Phänomen, der Ausdruck der besonderen deutschen Mentalität, die sich in Jahrhunderten der Geschichte geformt habe. Diese Theorie wird jetzt angezweifelt. Aber wenn sie falsch ist, ergibt sich daraus, dass in irgendeinem anderen Land dasselbe geschehen kann? Kann es in unserem Land geschehen? Kann es heute geschehen? Welche Umstände ermöglichen, dass es geschieht?
Diese Frage beantwortet der Film nicht. Er überlässt dem Zuschauer die Antworten.
Die jungen Helden im Film stellen keine Fragen. Sie waren zehn Jahre alt, als die Nazis an die Macht kamen, und für sie war das „Tausendjährige Reich“ (wie die Nazis es nannten) die einzige Realität, die sie kannten. Es war der selbstverständliche Zustand. An dieser Stelle setzt die Handlung ein.
 
ZWEI DER jungen Leute waren Soldaten. Einer hatte schon den Krieg erlebt und trug eine Tapferkeitsmedaille. Sein Bruder war gerade eingezogen worden. Der dritte junge Mann war Jude. Ebenso wie die beiden Mädchen waren sie voller jugendlicher Ausgelassenheit. Alles sah gut aus.
Der Krieg? Der kann doch wohl nicht viel länger dauern, oder? Der Führer hat versprochen, dass gegen Weihnachten der Endsieg errungen sein wird. Die fünf jungen Leute versprechen einander, sich Weihnachten wiederzutreffen. Keiner von ihnen hat die leiseste Vorahnung der schrecklichen Erlebnisse, die allen bevorstehen.
Als ich diese Szene sah, musste ich an meine frühere Schulklasse denken. Ein paar Wochen nach der Machtübernahme der Nazis kam ich in die erste Klasse des Gymnasiums. Meine Klassenkameraden waren ebenso alt wie die Filmhelden. Sie wurden wohl 1941 eingezogen und, da es eine Eliteschule war, wurden sie wahrscheinlich alle Offiziere.
Ich war gerade ein halbes Jahr im Gymnasium gewesen, als mich meine Familie mit nach Palästina nahm. Ich habe außer einem (Rudolf Augstein, den Gründer der Zeitschrift Der Spiegel, den ich Jahre nach dem Krieg traf und der wieder mein Freund wurde) keinen meiner Schulkameraden wiedergetroffen. Was geschah mit allen anderen? Wie viele haben den Krieg überlebt? Wie viele wurden verstümmelt? Wie viele wurden zu Kriegsverbrechern?
Im Sommer 1941 waren sie wahrscheinlich ebenso glücklich wie die jungen Leute im Film und hofften, sie wären Weihnachten wieder zu Hause.
 
DIE BEIDEN Brüder wurden an die russische Front geschickt, in eine unvorstellbare Hölle. Dem Film gelingt es, die Kriegsrealität zu zeigen, die jeder, der Soldat im Kampfeinsatz gewesen ist, leicht wiedererkennen kann. Nur dass dieser Kampf hundertmal schlimmer war. Das zeigt der Film auf hervorragende Weise.
Der ältere Bruder, der Oberleutnant ist, versucht, den jüngeren zu schützen. Das Blutbad, das vier Jahre lang Tag für Tag, Stunde für Stunde weitergeht, verändert ihren Charakter. Sie verrohen. Tod umgibt sie von allen Seiten, sie sehen schreckliche Kriegsverbrechen mit an, es wird ihnen befohlen, Gefangene zu erschießen, sie sehen mit an, wie jüdische Kinder abgeschlachtet werden. Zu Anfang wagen sie noch, schwach zu protestieren, dann behalten sie ihre Zweifel für sich und dann beteiligen sie sich ganz selbstverständlich.
Eine der jungen Frauen meldet sich freiwillig zum Dienst in einem Militärhospital an der Front, wird Zeugin der furchtbaren Qualen der Verwundeten, denunziert eine jüdische Krankenschwester und fühlt sofort Gewissensbisse darüber. Am Ende wird sie in der Nähe von Berlin von sowjetischen Soldaten vergewaltigt wie fast alle deutschen Frauen in den Gebieten, die die rachsüchtige Sowjetarmee eroberte.
Die israelischen Zuschauer sind vielleicht mehr am Schicksal des jungen Juden interessiert, der an dem glücklichen Fest am Filmanfang teilgenommen hat. Sein Vater ist ein stolzer Deutscher, der sich nicht vorstellen kann, dass Deutsche etwas so Böse tun werden, wie das ist, mit dem Hitler gedroht hat. Er denkt nicht im Traum daran, sein geliebtes Vaterland zu verlassen. Aber er warnt seinen Sohn davor, eine sexuelle Beziehung zu seiner arischen Freundin einzugehen. „Es ist gegen das Gesetz!“
Als sein Sohn versucht, ins Ausland zu fliehen, wobei ihm ein verräterischer Gestapo-Offizier vorgeblich hilft, wird er verhaftet und in die Todeslager geschickt. Auf dem Weg dorthin gelingt ihm die Flucht. Er schließt sich polnischen Partisanen an (die die Juden mehr als die Nazis hassen) und überlebt schließlich. 
Die tragischste Figur ist wohl das zweite Mädchen, eine leichtfertige, sorglose Sängerin, die mit einem hohen SS-Offizier schläft, um ihre Karriere zu fördern. Sie wird mit ihrer Truppe zur Unterhaltung der Soldaten an die Front geschickt. Dort sieht sie, was wirklich geschieht, äußert sich über den Krieg, kommt ins Gefängnis und wird in den letzten Stunden des Krieges hingerichtet.
 
DAS SCHICKSAL der Protagonisten ist jedoch nur das Gerüst des Films. Wichtiger sind die kleinen Momente, das tägliche Leben, die Portraits der unterschiedlichen Charaktere der deutschen Gesellschaft.
Zum Beispiel, als eine Freundin die Wohnung besichtigt, in der die jüdische Familie gelebt hat, beklagt sich die blonde arische Frau, der die Wohnung zugeteilt worden ist, über den Zustand der Wohnung, aus der die Juden abgeholt und in den Tod geschickt worden sind: „Sie haben nicht mal aufgeräumt, bevor sie die Wohnung verlassen haben. So sind die Juden eben, dreckige Leute!“
Alle leben in ständiger Furcht, denunziert zu werden. Es ist ein in alles eindringender Terror, dem sich niemand entziehen kann. Sogar an der Front, wo ihnen der Tod ins Gesicht starrt, wird auch die Spur eines Zweifels am Endsieg, den ein Soldat äußert, sofort von seinen Kameraden zum Schweigen gebracht: „Bist du verrückt?“
Noch schlimmer ist die erstickende Atmosphäre des allgemeinen Konformismus. Vom höchsten Offizier bis zum niedrigsten Dienstmädchen wiederholen alle endlos die Propagandasprüche des Regimes. Nicht aus Furcht, sondern weil sie jedes Wort der alles durchdringenden Propagandamaschine glauben. Sie hören nichts anderes.
Es ist enorm wichtig, das zu verstehen. In einem totalitären Staat, ganz gleich, ob er nun faschistisch, kommunistisch oder sonst etwas ist, können nur die sehr wenigen freien Geister den endlos wiederholten Sprüchen der Regierung standhalten. Alles außer diesen Sprüchen klingt unrealistisch, abnorm und verrückt. Als die sowjetische Armee sich schon ihren Weg durch Polen erkämpfte und sich Berlin näherte, hielten die Menschen unerschütterlich an ihrem Glauben an den Endsieg fest. Schließlich sagt das der Führer und der Führer irrt sich nie. Schon allein die Idee ist absurd.
Dieser Bestandteil der Situation ist für viele schwer zu verstehen. Ein Bürger in einem kriminellen totalitären Regime wird zum Kind. Propaganda wird für ihn zur Realität, der einzigen Realität, die er kennt. Diese ist noch wirksamer als Terror.
 
DAS IST die Antwort auf die Frage, die wir unbedingt immer wieder stellen müssen: Wie war der Holocaust möglich? Er wurde von einigen wenigen geplant, aber er wurde von Hunderttausenden Deutschen umgesetzt, vom Zugführer bis zu den Beamten, die die Papiere ausstellten. Wie konnten sie das nur tun?
Sie konnten es, weil es selbstverständlich war. Schließlich wollten die Juden Deutschland vernichten. Die kommunistischen Horden bedrohten das Leben jedes wahren Ariers. Deutschland brauchte mehr Lebensraum. Das hatte der Führer gesagt.
Aus diesem Grund ist der Film nicht nur für die Deutschen so wichtig, sondern für alle Völker, auch für unseres.
Leute, die achtlos mit ultra-nationalistischen, faschistischen, rassistischen oder anderen antidemokratischen Ideen spielen, machen sich nicht klar, dass sie mit dem Feuer spielen. Sie können sich nicht einmal vorstellen, was es heißt, in einem Land zu leben, das die Menschenrechte missachtet, das Demokratie verachtet, das ein anderes Volk unterdrückt und Minderheiten dämonisiert. Dieser Film zeigt, wie das ist: die Hölle.
 
DER FILM verbirgt nicht, dass die Juden die Hauptopfer des Nazireiches waren und dass keine Leiden anderer ihren Leiden auch nur ähnlich sind. Aber das zweite Opfer war das deutsche Volk, es war sein eigenes Opfer.
Viele versichern, dass sich Juden nach diesem Trauma nicht wie ein normales Volk verhalten können und dass Israel deshalb nicht an den Maßstäben normaler Staaten gemessen werden darf. Die Menschen sind traumatisiert.
Das gilt auch für das deutsche Volk. Die bloße Notwendigkeit, diesen ungewöhnlichen Film zu produzieren, beweist, dass das Gespenst des Nazismus die Deutschen immer noch verfolgt, dass sie immer noch von ihrer Vergangenheit traumatisiert sind.
Als Angela Merkel diese Woche Benjamin Netanjahu besuchte, lachte die ganze Welt über das Foto des Fingers unseres Ministerpräsidenten, der versehentlich der Kanzlerin einen Schnurrbart ins Gesicht malte.
Aber die Beziehung zwischen unseren beiden traumatisierten Völkern ist weit von einem Scherz entfernt. (PK)

Uri Avnery, geboren am 10. September 1923 in Deutschland, ist israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist. Er war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein neues
Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ hat einer  unserer Autoren für die NRhZ rezensiert. Für die Übersetzung dieses Buches und des hier vorliegenden Artikels aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler.
 


Online-Flyer Nr. 448  vom 05.03.2014

Druckversion     



Startseite           nach oben

KÖLNER KLAGEMAUER


Für Frieden und Völkerverständigung
FOTOGALERIE