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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Kommentar
Vom Abbau der Konfrontation in Europa zu deren Wiederaufbau
Die Toten von Kiew - Opfer dieses Wahnsinns
Von Albrecht Müller

Auf der Basis einer dpa-Meldung hat meine Regionalzeitung, „Die Rheinpfalz“ am 18. Februar über das Treffen der ukrainischen Oppositionsführer Klitschko und Jazenjuk mit der Bundeskanzlerin berichtet. Da ist davon die Rede, die Ukraine brauche „eine europäische“ Perspektive, es wird von „proeuropäischer“ Opposition geschrieben. In anderen Texten wird wie selbstverständlich davon erzählt, der Konflikt in der Ukraine rühre daher, dass die Russen den Ukrainern nicht erlauben wollten, sich für Europa zu entscheiden. Und selbstverständlich schwingt immer mit: Wir hier im Westen sind die Guten, dort im Osten sind die Bösen. Der Konflikt hat das Zeug für einen Bürgerkrieg und birgt zusammen mit anderen ähnlich arrangierten Konflikten nach meiner Einschätzung auch das Risiko eines Übergreifens auf andere Staaten wie Weißrussland oder Russland selbst und damit das Risiko eines dritten Weltkrieges, jedenfalls eines maßlosen Blutvergießens.

Ich muss zu Anfang anmerken, dass meine Abneigung gegen kriegerische und kriegsähnliche Gewalt auf der Erfahrung mit Krieg und der frühen politischen Sozialisation in einer ersten Friedensbewegung zu Beginn der Fünfzigerjahre gründet. Ich wiederhole dazu einiges, was ich in den NachDenkSeiten z.B. hier und auch in einem Gespräch mit dem Bayerischen Rundfunk berichtet habe. Die Forderung „Nie wieder Krieg“ war keine dummdreiste Nachkriegsparole, sondern die ernst genommene Erfahrung mit den Schrecken eines Krieges.
 
Statt Verständigung der Roll-Back-Versuch und Kalter Krieg …
 
Es gab damals, zu Beginn der Fünfzigerjahre, den Versuch – in Deutschland von Seiten des späteren Bundespräsidenten Heinemann – , die Konfrontation zwischen Ost und West nicht zu verschärfen, sondern abzubauen. Aber dieser Versuch fand in den fünfziger Jahren bei uns und im Westen insgesamt keine Mehrheit. Stattdessen wurde der Versuch gemacht, den Einfluss der „Russen“ zurück zu drängen. Das Konzept maßgeblicher Kräfte in den USA und auch bei uns war das so genannte „Roll Back“; dieser Gedanke war vor allem verbunden mit dem amerikanischen Außenminister Dulles. Es kam im weiteren Verlauf des auf beiden Seiten massiv geführten Kalten Krieges zu gefährlichen Situationen.
 
… Und dann der erfolgreiche Versuch der Verständigung und mit dem Abbau der Konfrontation auch der Wandel im Inneren des früheren Ostblocks
 
Mit der Friedens- und Vertragspolitik ist dann der Abbau der Konfrontation zwischen Ost und West eingeleitet worden und gelungen und darauf bauend dann auch die innere Veränderung in den Staaten des ehemaligen Ostblocks einschließlich Russlands.
 
Diese positive Erfahrung wird heute nicht mehr ernst genommen. Schon die nahe liegende Konsequenz, die Militärbündnisse Warschauer Pakt und die NATO aufzulösen, fand sich als Ziel nur noch im SPD-Grundsatzprogramm vom Dezember 1989. Politische Realität wurde diese Zielvorstellung nicht.
 
Heute wird ein neues, nur ein bisschen anders gelagertes Roll Back versucht. Das Gezerre darum, ob die Ukraine europäisch sein soll oder unter russischem Einfluss, ist Ausdruck des Aufbaus einer neuen und – wie ich meine – gefährlichen Konfrontation. Der normale Berichterstatter im deutschen Fernsehen oder in den deutschen Zeitungen ist schon so eingeübt in die neue Konfrontation, dass die entsprechenden Begriffe wie "pro-europäisch“ oder "nicht europäisch" unreflektiert in die Fernseh- und Printberichte fließen. Der normale Reporter und die normale Reporterin wie gestern Abend zum Beispiel die Berichterstatterin des ZDF-heute journal aus Moskau denken ganz selbstverständlich in den Schablonen der Schützengräben einer neuen Konfrontation. Es ist beachtlich, wie schnell und nachhaltig diese Gehirnprägung stattgefunden hat.
 
Manche der heute üblichen Berichte und Kommentare erinnern mich an das Denken und Reden aggressiver Vertreter der Jungen Union in den fünfziger und sechziger Jahre. Jürgen Wohlrabe zum Beispiel redete so, als ich ihn zum ersten Mal im Jahre 1960 auf dem Gelände der Freien Universität Berlin reden hörte. Damals gab es in Deutschland immerhin noch Gegenstimmen. Heute hat man den Eindruck, das Freund-Feind-Denken und die Einteilung in Gut und Böse seien die beherrschenden Denkmuster in der öffentlichen Diskussion.
 
In der Ukraine gibt es Unrecht von Seiten der Regierenden. Es gibt Menschenrechtsverletzungen. Es gibt Zweifel am Funktionieren der Demokratie. Aber wo gibt es das alles nicht?
 
In den USA gibt es die Todesstrafe. Aus meiner Sicht eine grundlegende Verletzung der Menschenrechte. Dort gibt es nicht nur in Guantanamo die Aussetzung des Rechtsstaats. Das Grundrecht auf sozialen Ausgleich und auf Gerechtigkeit wird in nahezu allen westlichen Staaten verletzt. Bei uns und in vielen anderen Ländern des Westens gibt es dank der mit viel Geld und publizistischer Macht durchgesetzten Gleichschaltung des Denkens in den Kategorien der neoliberalen Ideologie de facto keine Chance zu einer politischen Alternative, die diesen Namen verdient. Das Menschenrecht der Jugendlichen auf Arbeit und eine berufliche Zukunft wird in Griechenland, in Spanien und anderen Ländern von der verordneten Wirtschaftskrise außer Kraft gesetzt – vor allem auch dank deutschen Einflusses. Europa hat Berlusconi hingenommen, Europa nimmt die Bedrohung demokratischer Verhältnisse in Ungarn hin, Europa und der Westen stützen die "Musterdemokratien“ der Golfstaaten und Saudi-Arabiens. Wir lassen uns bespitzeln und bespitzeln andere.
 
Und die veröffentlichte Meinung unseres Landes ist – mit wenigen Ausnahmen – alles andere als plural. Sie ist in vielen für die Gestaltung unseres Landes und auch unserer Außenpolitik und unseres Umgangs mit anderen Völkern in entscheidenden Fragen gleichgerichtet, von strategisch ausgedachten Kampagnen geprägt und einseitig. Ein Musterbeispiel für diese anti-demokratische Verfassung unserer Medien ist die aktuelle Berichterstattung aus Kiew. Schuld am blutigen Konflikt sind in der überwältigenden Mehrheit der Berichte die Regierung und der Präsident. Sie haben mit der Gewalt angefangen. Der deutsche Außenminister Steinmeier hat sich diese Version heute Nacht schon zu eigen gemacht und damit zu einem Einheitsbrei der Meinungen innerhalb der Europäischen Union beigetragen. Typisch dafür war eine halbe Stunde im Deutschlandfunk zwischen 12:00 Uhr und 12:30 Uhr: Frau Adler mit bekannter Einseitigkeit und dann noch wie schon gestern Abend im ZDF-heute journal und heute bei SpiegelOnline der Pfarrer der evangelischen Kirche in Kiew, Ralf Haska. Der weiß vom Hörensagen seiner Freunde ganz genau, was abläuft. Im Deutschlandfunk kam dann noch der Europa-Abgeordnete Brok zur Sprache und selbstverständlich wurde verschwiegen, dass dieser Abgeordnete im Dienste von Bertelsmann steht.
 
In der Ukraine Ist ein neuer Versuch des Roll Back gestartet worden, auch mit deutscher Unterstützung.
 
Das Ritual verlangt von mir zunächst festzustellen, dass ich den dortigen Präsidenten nicht für einen lupenreinen Menschenfreund und Demokraten halte. Aber seine jetzige Macht geht auf Wahlen zurück, vermutlich auch keine besonders demokratischen Wahlen. Sind sie das bei der Wahl von George W. Bush in den USA gewesen? Und in anderen Ländern wie Italien.
 
Der feine demokratische Westen hat ganz selbstverständlich in die inneren Angelegenheiten der Ukraine eingegriffen. Die CDU nahe Adenauer Stiftung hat den Oppositionspolitiker Klitschko aufgebaut. Die USA maßen sich an, auf dem Personaltableau der Ukraine nach eigenem Gusto die ihnen genehmen Personen zu setzen und zu verschieben. Lesen Sie dazu bitte die Übersetzung des Mitschnitts des Telefongesprächs zwischen dem Botschafter der USA in der Ukraine Pyatt und Frau Nuland, der im State Departement der USA zuständigen Diplomatin für Europa und Eurasien. Dieses Gespräch ist am allerwenigsten wegen des berühmten "Fuck EU“ interessant, sondern wegen der erkennbaren Selbstverständlichkeit, mit der sich Regierungsvertreter der USA mit der Besetzung von öffentlichen Ämtern in fremden Ländern beschäftigen.
 
Noch bei der Schadensbegrenzung zu diesem Mitschnitt funktioniert im Übrigen die kampagnenmäßig aufgebaute Public Relations der westlichen Seite: um von dem Inhalt des Mitschnitts abzulenken, wurde versucht, die ukrainische Staatsführung selbst zum Schuldigen zu machen. Ich würde das nicht erwähnen, wenn mir gegenüber nicht gleich zwei Personen betont hätten, dieser Mitschnitt sei von der russischen, wahlweise ukrainischen Seite gestreut, d.h. veröffentlicht worden. Damit sollte wohl insinuiert werden, dass die Veröffentlicher die Bösen sind und nicht jene, die sich anmaßen, das Personaltableau fremder Völker zu bestimmen. In der allgemeinen Öffentlichkeit funktioniert auch diese Manipulation.
 
Wie einseitig die Betrachtung der Vorgänge in der Ukraine sind, könnte man erkennen, wenn man die Frage danach stellt, wie die Urteile ausfielen, wenn sich bei uns im Westen zutrüge, was in der Ukraine geschieht:
 
Nehmen Sie an, eine russische oder eine arabische oder eine türkische Stiftung würde einen deutschen oder amerikanischen Oppositionspolitiker ausbilden und finanzieren. Es wäre die Hölle los. Man würde es als antidemokratischen Eingriff werten.
 
Nehmen Sie an, Deutschland hätte sich angemaßt, offiziell die Wahl George W. Bushs zum Präsidenten wegen der Machenschaften bei der Auszählung der Stimmen als undemokratisch zu kennzeichnen.
 
Nehmen Sie an, es würde ein Telefongespräch zwischen den Verantwortlichen in der russischen Regierung und ihrem Botschafter in Deutschland bekannt, das sichtbar macht, wie intensiv die russische Regierung die Personalauswahl der Regierenden in Deutschland mit bedenkt und mit beeinflusst.
 
Nehmen Sie an, ein deutscher Oppositionspolitiker würde nach Moskau fliegen und von Putin verlangen, Sanktionen gegen die Mitglieder der deutschen Regierung zu ergreifen.
 
Das waren doch alles Interventionen, die sich normalerweise keine Regierung bieten lassen kann. Viel wichtiger jedoch. Alle diese Vorgänge lassen erkennen, dass die jetzt Verantwortlichen Deutschland anders als noch in Zeiten der Vertragspolitik nichts davon wissen wollen, dass man Spannungen und Fehlentwicklungen verhindern kann, wenn man die Richtung der inneren Entwicklung verändert. Eine Möglichkeit, dabei weiterzukommen, ist der Abbau von Spannungen und von Konfrontation.
 
Der Westen spiegelt sich im Zerrbild echter und so genannter Diktaturen und sieht wunderbar aus. Auch der tödlich gewordene Konflikt in der Ukraine dient der Selbstbespiegelung und Verherrlichung des eigenen Lagers.
 
Wir sehen nur deshalb so mustergültig aus, weil wir uns gegen Diktaturen wie in Syrien oder Libyen und gegen ein unsympathisches Regime wie in der Ukraine und gegen Putin engagieren. Das war schon immer ein eleganter Propagandatrick, durch Angriff und Beschimpfen eines Dritten sich selbst zu glorifizieren. Auch militärische Interventionen dienen der Selbstbefriedigung und Selbstbespiegelung. Die USA intervenieren gegen den internationalen Terrorismus und erscheinen so als Kämpfer für die Humanität. Großbritannien und Frankreich intervenieren gegen den diktatorischen Herrscher Libyens, Gaddafi, und werden so zu Kämpfern für die Menschenrechte. Und jetzt engagiert sich die Europäische Union für Sanktionen gegen das Regime in Kiew und erscheint so als ein Hort der Demokratie und Menschenrechte.
 
Das wirkliche Ende militärischer Gewalt und Intervention, in allen seinen Facetten, mit seinen Opfern und Nachteilen und ungelösten Problemen, wird selten bedacht.
 
Der Einstieg wird meist gefeiert. Dann ersetzt oft Propaganda den Erfolg für Menschenrechte und Frieden. Wo sind der Friede und die Demokratie in Libyen geblieben? Wo sind die Menschenrechte und die Frauenrechte in Afghanistan? Ist die militärische Intervention in Afghanistan ein Erfolg? Ist die militärische Intervention im Irak ein Erfolg? Von dort werden täglich Dutzende von Menschenopfern gemeldet – allerdings ohne Bezug auf die Intervention von Briten, US-Amerikanern, Polen und anderer Nationen vor über zehn Jahren. Es ist schon seltsam, Bilanzen der Kämpfer für Menschenrechte und Frieden gibt es meist nicht. Sie bedenken das Ende nicht. Deshalb dürfen sie die Erfolge und Misserfolge nicht bilanzieren.
 
Der Sinn des Krieges – er macht populär, er ist innenpolitisch nutzbar, er beschäftigt die Rüstungsindustrie.
 
Mit Krieg zu drohen macht populär. Krieg führen bringt Bilder. Krieg führen beschäftigt die Medien und besorgt Ihnen eine billige Programmgestaltung. Krieg führen bringt Arbeitsplätze für die Rüstungsindustrie. Das ist ein banales Argument. Aber ein stimmig erscheinendes Argument, so ausgelutscht es auch ist. Die Rüstungsindustrie braucht Kriege und sie hat vermutlich die strategische Kampagne zur Förderung kriegerischer Interventionen statt der mühsamen aber erfolgreichen Versuche, Konflikte friedlich zu lösen, geplant, planen lassen und finanziert.
 
Wenn Sie das nicht glauben wollen, dann machen Sie einen Selbstversuch: Stellen Sie sich vor, Sie betreiben eine erfolgreiche Public Relations Agentur. Sie beschäftigen intelligente und fantasievolle junge Leute. Es hapert aber ein bisschen am Geld Und jetzt klopft die Rüstungsindustrie an Ihre Tür und bietet Ihnen fürs erste 200 Million € für die Entwicklung und Betreuung einer Strategie zur Beschäftigung der Rüstungsindustrie. Wetten, dass Sie weich werden. Bei 100 Millionen hört die Moral auf. Und da Sie und ihre Betriebswirtschafts- und Werbejungs über Fantasie verfügen, denken Sie sich ein Konzept und die Wege zur Umsetzung aus. Als erstes schlagen Sie dann vor, die alte Idee, Kriege für die Menschenrechte und für die Demokratie zu führen, umzuformulieren und neu aufzulegen.
 
Das ist der aktuelle Stand der Dinge. Die Opfer sehen wir jetzt in der Ukraine. Bei uns werden sie irgendwann später beim nächsten und übernächsten Bürgerkrieg und dann beim großen Konflikt ankommen. Der geplante Wahnsinn. (PK)
 
 
Albrecht Müller war Planungschef im Bundeskanzleramt unter den Bundeskanzlern Brandt und Schmidt. Weiter war er von 1987 bis 1994 für die SPD Mitglied des Deutschen Bundestages und ist seit 2003 als Autor und Herausgeber der NachDenkSeiten tätig (http://www.nachdenkseiten.de), von denen wir im Einverständnis mit ihm diesen Artikel mit Dank übernommen haben.
 


Online-Flyer Nr. 447  vom 26.02.2014

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