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Aktueller Online-Flyer vom 28. März 2024  

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Kommentar
Dies ist eine Liebeserklärung. - Tatsächlich sind es drei Lieben.
Drei Frauen
Von Uri Avnery

Ich liebe Achinoam Nini. Ich liebe sie von Weitem. Ich bin ihr nie begegnet. Ich liebe sie für das, was sie vor ein paar Wochen getan hat. Die israelische Organisation der Komponisten und Schriftsteller hat sie mit dem Preis für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Zwar ist sie erst 44 Jahre alt, aber gewiss hat sie den Preis verdient. Sie ist eine wunderbare Sängerin. Noa (wie sie im Ausland genannt wird) hat etwas Ungewöhnliches getan: Sie hat die Annahme des Preises verweigert.
 
Ihr Grund: der Sänger Ariel Silber sollte dieselbe Auszeichnung wie sie bekommen. Noa ist eine entschiedene Linke. Silber ist ein entschiedener Rechter. Ist das ein Grund, die Annahme eines Preises zu verweigern? Durch das ganze Land ging ein Aufschrei: Wie kann sie es wagen? Wie steht es mit der Redefreiheit? Wie steht es mit der künstlerischen Freiheit?
 
Die Rechten prangerten sie lautstark an. Ihnen schlossen sich viele rechtschaffene Linke an. Es stimmt schon, sagen sie, Silber ist ein Rechter, aber Demokratie fordert, dass die Redefreiheit für alle gesichert sei, selbst – und besonders – für die, die kritikwürdige Ansichten vertreten. Sogar der alte Voltaire wurde in die hitzige Debatte eingebracht. “Ich missbillige, was du sagst, aber würde bis auf den Tod dein Recht verteidigen, es zu sagen.”
 
WAS VON DEM, was Silber gesagt hat, hat also Noa dazu gebracht, sich zu weigern, mit ihm auf derselben Bühne zu stehen? Erst einmal hat er seinen abgrundtiefen Hass gegen Homosexuelle geäußert. “Homo sein ist eine Perversion”, sagte er und forderte, sie müssten aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Nicht nur sie. Alle Säkularen. “Die Säkularen haben nichts zu bieten, nichts als sich mit AIDS anzustecken und nackte Frauen anzugucken. Pfui!”
 
Schwule und Säkulare sind nicht die einzigen Leute, die er verdammt. Linke können sogar noch schlimmer sein. “Alle Linken sollten vertrieben und zum Teufel geschickt werden. Sie sind Amalek!” Wie jeder Jude weiß, befahl Gott den Kindern Israels, alle Amalekiter zu töten, sodass ihr Name für immer und ewig ausgelöscht sei. Der Natioalheld König Saul wurde vom Propheten Samuel entthront, weil er nicht alle seine amalekitischen Gefangenen, Männer, Frauen und Kinder, getötet hatte.
 
Aber das ist nur ein Teil von Silbers öffentlicher Rolle. Er glaubt auch, dass Jigal Amir, der Mörder Jitzchak Rabins, sofort freigelassen werden sollte. Er lobte den Siedler Baruch Goldstein, der 29 Muslime beim Gebet in der Abrahams-Moschee (von den Juden Höhle Machpela genannt) in Hebron ermordet hat. Er sympathisiert auch mit den “Preisschild”-Schlägern, den Ku-Klux-Klan-Siedlern, die nachts ausziehen, um wehrlose arabische Dorfbewohner zu terrorisieren. Sie tun das Richtige, denn “die Araber sind nichts wert. Sie können nichts anderes als töten!” Der Gipfel von allem war, dass Silber verkündete: “Kahane hatte recht!” Rabbi Meir Kahane wurde vom Obersten Gerichtshof Israels als Faschist verurteilt und seine Kach-Bewegung wurde verboten. Das war ein fast einzigartiges Urteil über einen Juden. Um die Sache abzurunden, schrieb und komponierte Silber ein Lied über dieses Thema.
 
Verdient so einer den Schutz der Redefreiheit? Juden in aller Welt verurteilen die französische Regierung dafür, dass sie den verabscheuungswürdigen Antisemiten Dieudonné M’bala M’bala duldet, den Erfinder des Neonazi-“Quenelle”-Grußes. Aber dieser Demagoge ist, verglichen mit Silber, ein Gemäßigter. Sollte Noa mit diesem “Geschenk Gottes” gemeinsam auf einer Bühne erscheinen? Oder, wenn sie vor drei Generationen in der Weimarer Republik gelebt hätte, mit dem clownesken Demagogen Adolf Hitler? Und hätten unsere sentimentalen Demokraten sie dafür verurteilt, wenn sie das abgelehnt hätte?
 
GUT, ich für meinen Teil bewundere sie. Sie hat selbstlos gehandelt. Sie hat mit dem, was sie getan hat, ein sehr großes Opfer gebracht. Die gesamte rechte Zuhörerschaft wird sie boykottieren. Sie wird nicht von Organisatoren zu Festivals eingeladen, denen das Herz in die Hose rutscht, wenn sie an den möglichen Verlust der Regierungssubventionen denken. Ich erinnere mich, dass es vor 45 Jahren, gleich nach dem Ausbruch der Ersten Intifada auf dem Platz in Tel Aviv, der später Rabin-Platz genannt worden ist, eine sehr große Demonstration für Frieden gab. So gut wie alle berühmten Künstler waren an diesem Tag dort. Die Künstler kämpften miteinander um das Recht, dort aufzutreten. 
 
Diese Tage sind längst vergangen. Selbst bekannte linke Künstler fürchten sich jetzt, ihre Meinung zu vertreten. Gott bewahre. Es könnte den finanziellen Ruin bedeuten. Wo fand Noa also den Mut aufzustehen und die Annahme des Preises zu verweigern? Ihre Eltern sind beide Jemeniten – wie, seltsam genug, auch Silbers Mutter war, die in meiner Jugend eine berühmte Sängerin gewesen ist. In der Regel tendieren Jemeniten – wie auch andere orientalische Juden - zur politischen Rechten. Des Rätsels Lösung kann sein, dass sie in den USA aufgewachsen ist, wo ihr Vater arbeitete. Ihr Besuch jüdischer Schulen in den 70er und 80er Jahren hat ihr wohl gewisse Werte eingeimpft.
Ich liebe sie.
 
Ich liebe Anat Kim
 
Anat war Soldatin. Ihre militärischen Aufgaben verschafften ihr Zugang zu Geheimdokumenten. Sie kopierte 2000 Dokumente, die Beweise für Kriegsverbrechen enthielten, die israelische Soldaten begangen hatten, und gab sie einem Reporter von Haaretz. Die Zeitung veröffentlichte den Geheimbericht über einen dieser Zwischenfälle. Die Ermittler der Armee entdeckten die Quelle. 
 
Nach fast zwei Jahren Hausarrest wurde Anat zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt. Auf Einspruch wurde die Strafe auf vier Jahre herabgesetzt. Letzte Woche, nach zwei Jahren und zwei Monaten Gefängnis wurde sie auf ihr Ehrenwort freigelassen. Ein paar Tage später gab sie in einem Zeitungsinterview Auskunft über ihren Gemütszustand. Es ist eine gute Lektüre. Anat ist sehr intelligent und aufmerksam. Die Beschreibung ihrer Erfahrungen im Gefängnis ist lebhaft und faszin-ierend. Anscheinend haben die Gefängnisbehörden sie vergleichs- weise gut behandelt. Bevor sie ins Gefängnis gekommen war, hatte sie sich sehr davor gefürchtet, geschlagen oder vergewaltigt zu werden. Die Insassen des Frauenge-fängnisses, die meist primitive Patriotinnen waren, ließen sie ihre Vergangenheit als Verräterin nicht entgelten und freundeten sich fast ausnahmslos mit ihr an. Frauen, die ihre Kinder oder Geliebten ermordet hatten, baten sie um Hilfe beim Abfassen von Petitionen. Anat war offenbar voller Empathie.
Sie ist über Haaretz und den Reporter verbittert, die, wie sie glaubt, aus Angst ihr Vertrauen missbraucht haben. Man kann auch über das Friedenslager im Allgemeinen verbittert sein, das sich so sehr fürchtete, dass fast niemand die Stimme erhob, um Noas mutige Handlungsweise zu verteidigen.
 
Mich macht ihre Reue traurig. Sie sagt in dem Interview, was sie getan habe, tue ihr leid. Ich glaube nicht, dass es ihr wegen des hohen Preises, den sie zu zahlen hatte, leid tut. Im Alter von 28 Jahren muss sie ihr Leben neu beginnen und sie ist als Volksverräterin gebrandmarkt. Vier wertvolle Jahre sind ihr gestohlen worden. Sie will nicht auswandern. “Warum sollte ich? Hier bin ich zu Hause!”, sagt sie.
Sie bereut ihr Handeln, weil sie glaubt, es sei umsonst gewesen. Sie denkt, dass, anders als die Enthüllungen ihrer amerikanischen Kameraden, Chelsea Manning und Edward Snowden, die die Welt verändert haben, ihre Tat keine Früchte getragen habe. Sie habe nichts verändert.
Diesem Glauben möchte ich widersprechen. Er ist grundlos. Mutige Taten wie diese, die von engagierten Einzelnen begangen werden, sind niemals sinnlos. Sie dienen als Vorbilder. Sie ermutigen andere. Sie legen Zeugnis für das menschliche Gewissen ab. Sie säen Samen. Ebenso wie das Meer aus vielen Tropfen besteht, bauen viele, viele Handlungen Einzelner wie diese historischen Wandel auf.  
 
Ich liebe Daphni Leef
 
Sie ist die junge Frau – wie Anat ist sie 28 Jahre alt -, die, da sie über die Miete, die von ihr verlangt wurde, wütend war, auf einem Boulevard im Zentrum Tel Avivs ein Zelt aufbaute, um darin zu wohnen. Der Protest wuchs spontan und fand seinen Höhepunkt in einer nie dagewesenen Massendemonstration von 400tausend Menschen.

Die Bewegung hatte Einfluss auf die Wahlen im letzten Jahr. Der Fernsehmann Yair Lapid, der nichts getan hatte, um den Demonstranten beizustehen, übernahm ihre Slogans und gewann bei der Wahl sehr viele Stimmen. Zwei von Daphnis Mitstreitern wurden in die Knesset gewählt, aber Daphni entschwand den Blicken der Öffentlichkeit.
 
Ich habe mit ihr nur ein paar Worte bei einer Demonstration gesprochen. Ich habe sie kritisiert, weil sie sich nicht um die großen nationalen Probleme, z. B. die Besetzung, kümmere, sondern sich auf die Preise für Wohnungen und Käse konzentriere.
 
In dieser Woche ist sie wieder aufgetaucht – auf der Anklagebank im Gericht. Zwar waren alle ihre Demonstrationen streng gewaltfrei, in einer jedoch gab es ein paar Rempeleien. Die Polizei misshandelte Daphni, sie wurde am Arm verletzt. Aber wie gewöhnlich klagte die Polizei Daphni an, sie habe den Polizisten angegriffen und die öffentliche Ordnung gestört.
Der Richter wies die Klage ab.
 
ICH LIEBE diese drei Frauen, weil sie uns zeigen, dass es in Israel junge Leute gibt, die ihrem Gewissen gehorchen. Sie bewirken, dass wir stolz darauf sind, Israelis zu sein. Solange wir junge Leute wie sie haben, Menschen, die bereit sind, sich für Demokratie, Frieden und Gerechtigkeit einzusetzen, Risiken auf sich zu nehmen und persönliche Opfer zu bringen, hat Israel eine Zukunft. Für mich sind sie das wahre Israel. (PK)

Uri Avnery, geboren am 10. September 1923 in Deutschland, ist israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist. Er war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein neues
Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ hat unser Autor in dieser NRhZ-Ausgabe rezensiert. Für die Übersetzung dieses Buches und des hier vorliegenden Artikels aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler, die uns noch folgenden Hinweis gab: "Eben habe ich von Gush Shalom den Hinweis auf ein Video bekommen. Es wurde zur Feier von Uris 90. Geburtstag aufgenommen: "Turning points in Uri Avnery's life", 15 Minuten."
 


Online-Flyer Nr. 446  vom 19.02.2014

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