NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 24. April 2024  

zurück  
Druckversion

Kommentar
Der (historischen) Wahrheit die Ehre geben!
Der Erste Weltkrieg und die Rolle Serbiens
Von Dr. Rudolf Hänsel

Den Leitspruch „Mut zur Wahrheit“ hat sich ein deutsches Nachrichten-Magazin auf die Fahnen geschrieben. Ein hoher Anspruch für ein Printmedium. Aber was sonst ist die Aufgabe der Medien, als uns Bürger wahrheitsgemäß zu informieren. Junge Deutsche wollen zum Beispiel mehr über den Ersten Weltkrieg erfahren, so eine Forsa-Umfrage. (1) Sie wollen wissen, wer schuld war an dem furchtbaren Morden vor bald 100 Jahren und ob ein solcher Krieg in Europa heute noch möglich sei. Was sagen wir unserer Jugend? Natürlich die historische Wahrheit! Was aber ist die geschichtliche Wahrheit? Wer hatte Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs? Welche vorherrschende Ideologie, welche politischen Ereignisse und geopolitischen Interessen führten zu dieser Katastrophe? Und – cui bono? – wem nützte dieser Krieg? Obwohl sich Historiker bereits seit Generationen mit der Frage der Kriegsschuld beschäftigen, bei der Beantwortung dieser Frage scheiden sich die Geister.

Friedenskämpferin Bertha von Suttner
NRhZ-Archiv
 
Historische Wahrheit als Orientierung für die Jugend
 
Kriege beginnen in der Regel mit einer Lüge oder einer „False Flag Operation“ als „Auslöser“ von Kriegen und werden verursacht durch wirtschaftliche und geopolitische Interessen von Großmächten. Dass Regierungen wie „Schlafwandler“ in einen Krieg schlittern, wovon der australische Historiker Christopher Clark in seinem Buch „Die Schlafwandler“ ausgeht, ist für mich nicht nachvollziehbar. Die Schüsse von Sarajevo am 28. Juni 1914 durch den Serben Gavrilo Princip waren der Auslöser des Ersten Weltkriegs, wobei bis heute nicht geklärt ist, welche (Groß-)Macht ihm dabei die „Hand führte“. Die Ursachen des jahrelangen Krieges waren das Streben der europäischen Großmächte nach militärischer und wirtschaftlicher Vorherrschaft in Europa, nach Sicherung und auch Vergrößerung des eigenen Imperiums bzw. Reiches sowie der Kampf ums Erdöl, einem „strategischen Rohstoff der Zukunft“ (Engdahl). Deshalb ist die Auffassung einiger deutscher und englischer Publizisten, dass die Serben eine große Mitschuld am Krieg hätten bzw. „die Schurken in dem Drama“ seien (2) meines Erachtens abwegig und ein durchsichtiges Ablenkungsmanöver.
 
Wenn wir der Jugend nicht die historische Wahrheit erzählen, wird sie aus den damaligen Ereignissen die falschen Schlüsse ziehen und die unüberschaubare politische Weltsituation heute – die von einigen Historikern mit derjenigen vor 100 Jahren verglichen wird – falsch interpretieren. Heraufziehende Gefahren, die sich wieder zu einem Krieg in Europa oder zu einem Weltbrand entwickeln können, wird sie dann nicht rechtzeitig erkennen, um wirkungsvoll gegenzusteuern (3).
 
Vielleicht kommen wir durch das Studium der Chroniken von Zeitzeugen und der
Forschungsergebnisse unabhängiger Historiker der Wahrheit etwas näher. Sie beschreiben die Jahrzehnte vor 1914 als Zeiten ständiger Kriegsdrohungen, Kriegshandlungen, des Strebens nach Vorherrschaft in Europa oder gar der Welt und als erbitterten Kampf ums Erdöl. Denn das Erdöl war im Ersten Weltkrieg wegen des erstmaligen Einsatzes von Panzern, dieselbetriebenen Unterseebooten und Militärflugzeugen von einer Krieg entscheidenden Bedeutung.
 
Bertha von Suttners langer Kampf um die Vermeidung des Weltkrieges
 
Bertha von Suttner (1843-1914) studierte in ihrem Kampf für den Frieden alle politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die zum Kriegsfall werden könnten. Bereits in ihrem pazifistischen Roman „Die Waffen nieder!“ (1889) beschrieb sie die Schrecken der damaligen Kriege. Das in einer Zeit, in der die Gesellschaft in Österreich und Deutschland aufs heftigste über den Militarismus und den Krieg diskutierte. Sie sprach darin als „Frau zu feigen, lebensfeigen Männern, (…) von der Pflicht des Menschen zu kämpfen: zu kämpfen gegen den Mord, gegen den Selbstmord. Zu kämpfen gegen die organisierte Verdummung, (…)." Sie nahm „offen den Kampf auf mit dem Fatalismus und mit der Kriegsgläubigkeit, mit der Kriegsfrömmigkeit…“ (4)
 
Fast 20 Jahre später, im November 1908, schreibt Bertha von Suttner in ihrer Chronik „Der Kampf um die Vermeidung des Weltkrieges: Randglossen aus zwei Jahrzehnten zu den Zeitereignissen vor der Katastrophe" (Band II:1892-1900 und 1907-1914): „So wie unser Europa heute noch organisiert oder vielmehr unorganisiert ist, ist der Ausbruch einer Konflagration (Feuersbrunst) allstündlich möglich. Eben darum, weil es so ist, und weil die Pazifisten es wissen, geht ihr Streben dahin, dem ganzen Völkerverkehrsystem eine andere Grundlage zu geben. Die zivilisierte Welt braucht ein feuersicheres Gebäude.“ (S.134) Die Zeit, meinte sie, sei mit latenten Kriegsgefahren und auch offenen Kriegsdrohungen gefüllt. Dabei erwähnte sie die Ereignisse bzw. Wirren und Kriege auf dem Balkan, die Gefahren der internationalen Aufrüstung und die Interessen der Rüstungsindustrie. Ab 1912 sah sie schließlich die Gefahr eines internationalen Vernichtungskrieges. Beim Lesen dieser Chronik hat man das Gefühl, als spräche sie von heute.
 
Das Urteil unabhängiger Experten zur Frage der Kriegsschuld
 
Nicht nur Suttners einzigartige Chronik der damaligen kriegsschwangeren Zeitereignisse führt meines Erachtens zu dem Schluss, dass Serbien, das im Schatten der Großmächte stand, die Schuld an diesem Krieg nicht zugeschoben werden kann – auch wenn Serbien und andere Balkanländer an den Vorkriegswirren aktiv beteiligt waren. Die nachfolgend zitierten Historiker bestätigen diese Einschätzung.
 
Für den renommierten Schweizer Historiker und Friedensforscher Daniel Ganser war es der Kampf ums Erdöl, der den Ersten Weltkrieg beeinflusste. In seinem 2012 erschienenen und bestens recherchierten Buch „Europa im Erdölrausch. Die Folgen einer gefährlichen Abhängigkeit" (5) schreibt Ganser: „Erdöl war nicht der Auslöser des Ersten Weltkrieges, aber der Kampf um das schwarze Gold beeinflusste den Krieg auf dem europäischen Kontinent. Meiner Ansicht nach wird der Einfluss des Erdöls auf den Ersten Weltkrieg unterschätzt.“ (S.52) Sodann beschreibt er Deutschlands Ölpolitik und den Bau der Bagdadbahn, die Berlin mit Bagdad und damit den Erdölquellen des Nahen Ostens verbinden sollte. Das wollte die damalige Großmacht England nicht hinnehmen. Sie befürchtete dadurch eine Gefährdung des britischen Imperiums.
 
Ganser stützt sich bei seiner Einschätzung zum einen auf den amerikanischen Historiker Caroll Quigley, für den das Eisenbahnprojekt Berlin-Bagdad „von größter wirtschaftlicher, strategischer und politischer Bedeutung war (…), da es Deutschland den Zugang zum Erdöl ermöglichen sollte“ (S. 57), und zum anderen auf den amerikanischen Wirtschaftsjournalisten William Engdahl. (6) Nach Engdahl haben die Briten die Entwicklung hin zum Ersten Weltkrieg gezielt herbeigeführt. Er schreibt: „Selten werden in der Literatur die geopolitischen Ziele erörtert, die England lange vor 1914 anstrebte und jetzt mit diesem Krieg verfolgte.“ Für Engdahl war das Erdöl ein „gewichtiger Faktor des Kriegsausbruchs, der zu lange unberücksichtigt blieb“. „Da ging es ja nicht nur darum, den aufsteigenden großen industriellen Rivalen Deutschland ein für allemal aus dem Feld zu schlagen“, erläutert Engdahl. „Man wollte sich durch Eroberungen und territoriale Neuordnung nach dem Krieg vor allem die uneingeschränkte Kontrolle über die wichtigsten Lagerstätten des strategischen
Rohstoffs der Zukunft sichern: Erdöl.“ (7)
 
Jedem Interessierten ist die Lektüre der beiden Bücher von Daniele Ganser und William Engdahl wärmstens zu empfehlen, um zu verstehen, welche Großmachtinteressen zum Ausbruch des verheerenden Krieges führten. Schließlich sei noch der Historiker Andreas Bracher zitiert, der in seinem Buch „Europa im amerikanischen Weltsystem. Bruchstücke zu einer ungeschriebenen Geschichte des 20. Jahrhunderts“ (2007³) über den starken Einfluss einer englischen Geheimgesellschaft, der Milner Group, berichtet, die antideutsch war und behauptete, Deutschland wolle das britische Empire zerstören. Nach Bracher „spielte sie in den Jahren vor dem Krieg eine Rolle darin, England für den Krieg vorzubereiten und auch die Mobilisierung in den Kolonien des britischen Empire zu organisieren.“ (S.29)
 
Opfer werden zu Tätern gemacht – Geschichtsklitterung gestern und heute. Serbien erlitt im Ersten Weltkrieg die schwersten Verluste. Nahezu eineinhalb Millionen serbische Bürger starben – ein Viertel der Bevölkerung. Gemessen an seiner Gesamtbevölkerung war dies die höchste Totenzahl, der höchste Blutzoll aller vom Krieg betroffenen Länder! In dem Drama „Die letzten Tage der Menschheit“ beschreibt der bedeutende österreichische Schriftsteller Karl Kraus den antiserbischen Rassismus beim deutsch-österreichischen Kleinbürgertum zu
Kriegsbeginn 1914. Serbien als „notorischer Störenfried“ sollte zerstört werden. Der österreichische Schlachtruf „Serbien muss sterbien“ stammt aus dieser Zeit. Im Zweiten Weltkrieg starben nochmals mehr als eine halbe Million Serben. Der antiserbische Rassismus herrschte noch immer vor. Hitler nahm – wie es jüngst in einigen Zeitungen stand – auch Rache für das Attentat von Sarajewo. (8)
 
Und 1999 musste die NATO-Kriegsallianz das serbische Volk in einem 78 Tage
andauernden Bombardement und dem Einsatz von Raketen mit abgereichertem Uran angeblich von einem „Diktator“, einem „zweiten Hitler“ befreien. Das Resultat: ca. 4000 Tote, 10.000 Verwundete und Schäden von rund 120 Milliarden US-Dollar. (9)-. Nach einem Bericht der serbischen Tageszeitung „Blic“ vom 13. Dezember 2013 erwartet Serbien als Folge dieses Einsatzes radioaktiver Munition 15 Jahre nach der völkerrechtswidrigen NATO-Aggression (Karenzzeit) 20.000 Tote und 40.000 Krebskranke! (10)
 
Hier werden Opfer zu Tätern gemacht!
 
Wer steckt hinter einer solchen Geschichtsklitterung, die von Medienschaffenden bereitwillig transportiert wird – und wem nützt sie? Wollen die europäischen Großmächte damit von ihrer eigenen Kriegsschuld ablenken? Ist das von Serbien geforderte Eingeständnis, an den mehrfachen Kriegsverbrechen gegen sein Volk im letzten Jahrhundert selbst schuld zu sein, neben der erzwungenen Abspaltung seiner Provinz Kosovo eine weitere Bedingung für eine eventuelle Mitgliedschaft im „Paradies“ Europäische Union? Was sagen die serbischen Historiker und Politiker zu dieser Geschichtsfälschung – und was sagt das mutige und freiheitsliebende serbische Volk dazu? (PK)
 
(1) s. sueddeutsche.de v. 15.01.2014
(2) Volker Ullrich in einem „Zeit online“-Artikel v.17.09.2013
(3) vgl. Kopp online v. 27.01.2014 „Bewegen wir uns in Richtung eines größeren Krieges? Weltweite Militarisierung und die Weltwirtschaft: ‚Die Lage ist wie 1914…kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs’“
(4) Friedrich Heer, Einführung, in: Die Waffen nieder!, S. XIX u. XVI
(5) Orell Füssli Verlag AG, Zürich
(6) „Mit der Ölwaffe zur Weltmacht. Der Weg zur neuen Weltordnung“
(7) Zit. nach Ganser, a.a.O., S.59
(8) u.a. sueddeutsche.de v. 23.01.2014.
(9) vgl. Zivadin Jovanovic: Strapazierung (un)diplomatischen Verhaltens, in: „Berliner Umschau“ v. 12.12.2013)
(10) Vgl. auch: Vladislav Jovanovic et a. (2012): "Crime in War – Genocide in Peace. The consequences of NATO bombing of Serbia in 1999"
 
Dipl.-Psych. Dr. Rudolf Hänsel ist Psychologe in eigener Praxis in Lindau (Bodensee)
www.tugenderziehung.com
 


Online-Flyer Nr. 444  vom 05.02.2014

Druckversion     



Startseite           nach oben

KÖLNER KLAGEMAUER


Für Frieden und Völkerverständigung
FOTOGALERIE