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Aktueller Online-Flyer vom 25. April 2024  

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Globales
Tagebuchtexte zu unserer Solidaritätsreise nach Griechenland – Teil VIII
Reise nach Thessaloniki
Von Andy, Hans, Manfred und Nina

Um sich selbst ein Bild von den verheerenden sozialen Zuständen zu machen, reiste im September eine Gruppe von GewerkschafterInnen zum dritten Mal nach Griechenland. Ihr Ziel: Kontakte von den ersten Begegnungen zu vertiefen und neue aufzubauen mit denjenigen, die sich seit drei Jahren gegen die von der Troika verordneten Spardiktate zur Wehr setzen. Und sie wollten den griechischen KollegInnen zeigen, dass es auch im relativ ruhigen Deutschland Menschen gibt, die sie solidarisch unterstützen. Hier der achte Teil der Tagebuchtexte von dieser dritten Solidaritätsreise. – Die Redaktion 

Die Hagia Sophia in Thessaloniki
NRhZ-Archiv
 
Reise nach Thessaloniki von 26. bis 28.9., ein Teil der Gruppe
 
Sie begann ein wenig abenteuerlich. Yannis und ein Kollege hatten uns zum Bahnhof gefahren. Es wirkte wie eine Zeitreise. Der Bahnhof liegt etwa 10 km außerhalb von Livadia. Der Schalter wie aus dem Bilderbuch einer vergangenen Zeit. Der Beamte kannte Yannis. Fast alle kennen ihn hier. Erst mal ein kleiner Plausch, dann unsere Fahrkarten, kurz bevor der Zug einfuhr. Es dauerte nicht lange, bis der Zug in einer kleinen Station stehenblieb. Feuer auf den Gleisen vor uns. Dauert es eine Stunde? Oder müssen wir den Zug wechseln? Wir sind entspannt. Im Speisewagen ist es ruhig, die meisten Fahrgäste waren ausgestiegen. Endlich haben wir Zeit die nötigen Telefonate zu führen, um die Verabredungen zu konkretisieren. Und Danae ist unermüdlich: Telefon, SMS Besprechung... Dann ist das meiste klar.
Die Leute von Vio.me können wir doch in der Fabrik besuchen. Thanassis freut sich, uns zu sehen. Einige Kollegen werden auch da sein. Freitag um die Mittagszeit ist auch für uns ganz OK. Es ist auch nett, Eleni wieder zusehen und vorher zu treffen. Das macht den Weg einfacher. Eleni kennt sehr viele in der politischen Szene Thessalonikis.
Der Freitag um 17 Uhr in der solidarischen Arztpraxis ist auch bestätigt. Dazu kommt nun am Samstagmorgen um 9 Uhr ein Besuch im Wasserwerk um mit Giorgios, dem Gewerkschaftsvorsitzenden dort, über den Kampf gegen die Privatisierung des Wassers in Thessaloniki zu reden. Am Samstag könnten wir auf dem Fest von Syriza noch eine Reihe weiterer Initiativen treffen.
Die Reise geht die Berge hinauf. Das eingleisige Schienenbett schlängelt sich durch kurze und lange Tunnel und über kleine Täler. Von hier aus kann man weit bis zum Meer am Fuße der Ebenen, die sich an die Berge anschließen, blicken. Der hintere Waggon, in dem mehrere von uns sitzen, setzt mehrmals auf und man glaubt fast, dass wir entgleisen und gleich den Berg hinab schießen. Steht man am Ende des Zuges, hat man durch das rückwärtige Fenster einen ganz anderen Blick auf die Strecke, als wenn man nur seitlich aus dem Fenster schaut. Man kann von hier auf die einspurige Strecke schauen, die sich bilderbuchartig am Berghang entlang und durch seitlich offene, in den Fels gehauene Tunnel windet, und sieht auch vor allem die alten, klapprigen Brücken, über die wir fahren. Wer kennt nicht diese Szenen aus irgendwelchen amerikanischen Filmen, wo ein Jugendlicher oder ein Tramp einsam durch die Berge oder Hügellandschaft auf dem Schienenbett wandert und dann über eine lange, einspurige Brücke muss, unter der sich eine tiefe, Schwindel erregende Schlucht auftut und die aussieht, als würde sie gleich beim nächsten Windstoß zusammenbrechen? Und immer, wenn der Protagonist genau mitten auf der Brücke ist, kommt ein Zugsignal und er muss springen oder um sein Leben laufen. So ungefähr sehen diese Brücken aus. Wohl ist einem nicht, wenn man sie hinter der nächsten Kurve verschwinden sieht. Aber gut, dass sie erst ins Blickfeld geraten, wenn man sie längst überquert hat.
Spät in der Nacht bringen uns zwei Taxis zum Hostel, etwas abseits vom Zentrum an einem Hang gelegen. Na ja, ein Qualitätsunterschied zum Hotel ist das schon. Hostel halt. Schmutzige Matratzen und stickige Zimmer. Das Dreierzimmer unserer „Youngsters“ hat nicht mal ein Fenster nach außen, sondern nur in einen Aufenthaltsraum. Und als Betten dienen ausgezogene Schlafsofas. So richtig bleiben will von uns keiner, zu verwöhnt sind wir vom Luxus aus Athen. Bei der Diskussion am Morgen ist die Gruppe gespalten. Einige wollen das Hostel verlassen und verweigern sich den hygienischen Zuständen der Betten und der Duschen, andere haben sich mit der Situation abgefunden, weil man auf seinen Reisen schon Schlimmeres erlebt hat. Um die Gruppe nicht zu teilen, ziehen wir in ein Hotel im Zentrum. Die Wirtin ist trotzdem nett, aber versteht unseren Kummer nicht ganz. Etwas peinlich berührt verlassen wir das Hostel.
 
Vio.me – fast eine Legende
 
Die Fahrt zu Vio.me mit dem Bus lief problemlos. Auf halber Strecke in Richtung Airport kamen wir über einen kurzen Schleichweg zum Tor, das uns kurze Zeit später geöffnet wurde. Thanassis, der Regisseur, und ein Kollege von Vio.me begrüßten uns herzlich. Die beiden Filmer drehen einen Langzeitfilm über die Entwicklung dieses besetzten Betriebs.
Wir sind sieben und die meisten kennen die Geschichte dieses Betriebes nur sehr oberflächlich. Seit zwei Jahren haben die Kollegen jetzt die Kontrolle über den Betrieb. Vio Metaliki ist ein Tochterbetrieb von Filkeram-Johnson. Der Mutterbetrieb hatte Konkurs angemeldet und seine Tochter mit einem Riesenberg Schulden zurückgelassen. Die Arbeiter, die seitdem keinen Lohn bekommen haben (aber auch nicht entlassen wurden) klagten und bekamen (fast) immer Recht.

Besichtigung der Betriebsräume von Vio.me
Foto: Andy
 
Es gibt keinen Zweifel, dass sie rechtmäßig im Besitz der zurückgelassenen Maschinen, Anlagen und Materialien sind. Allerdings können sie den Betrieb nicht übernehmen ohne dessen Schulden. Das aber wäre der Ruin. Die Weiterführung der bisherigen Produktion sowie die Lieferbeziehungen konnten deshalb nicht aufrechterhalten werden. Das bedauerten die Kollegen, denn der Betrieb arbeitete vor der Insolvenz mit Gewinn.
Der Versuch, das Material aus dem Lager - Fliesen und vor allem Fugenmörtel und Kleber – zu versteigern, scheiterte. Denn die Bieter auf der Auktion wollten alles für einen Euro. Mit einem Chemiker aus der Solidaritätsszene gelang es, eine neue Produktlinie aufzubauen.
Verschiedene Sorten von Reinigungsmitteln laufen jetzt über die Anlagen und Abfüllstationen. Waschmittel, Fensterreiniger und andere Putzmittel werden mit natürlichen Grundstoffen wie Olivenöl-Seife, Essig und natürlichen Aromen hergestellt. Die Lieferanten stellen die hochwertigen Grundstoffe auch selbst her. Der Vertrieb gestaltet sich allerdings noch schwierig, weil es (noch) keine legale Genehmigung gibt. Später kommen noch einige Vorschläge, wie der Absatz verbessert werden kann.
Inzwischen haben sich zu unserem Gesprächskreis noch zwei junge Leute aus Leipzig gesellt, die in Begleitung eines griechischen Freundes zu Vio.me gekommen waren. Eleni hatte am Beginn der Gesprächsrunde kurz erwähnt, dass es Kritik an den Arbeitern gäbe, sie würden nun selbst nur Kapitalisten sein wollen. Auf die Nachfrage, wer diese Kritik äußert und was sie darauf antworten würden sowie ob Einzelne des Betriebs vielleicht Teil der Kritiker seien und daher in einen Widerspruch geraten würden, antwortete man uns, dass es vor allem die KKE (Kommunistische Partei, stark stalinistisch orientiert) sei, die den Aktivisten und Arbeitern von Vio.me vorwerfe, sie würden sich nur innerhalb des Systems bewegen und sich nun selbst ausbeuten bzw. sich als Kapitalisten gerieren. Auf die Gegenfrage an die KKE, wie man sich denn sonst ernähren solle, sei nur geantwortet worden, dass die Zeit für die Übernahme der Betriebe noch nicht reif sei und man daher gar nichts machen dürfe oder solle. So einfach bügelt die KKE die Widersprüche innerhalb der bestehenden Verhältnisse weg, indem sie den Menschen eher empfiehlt zu verhungern, anstatt halt die Produktion innerhalb des möglichen Rahmens selbst zu übernehmen. Auf die Frage nach möglichen Widersprüchen innerhalb der Belegschaft antworten unsere Gegenüber, dass alle mit den Möglichkeiten, die man gerade ausschöpfe oder anstrebe, einverstanden seien, unabhängig von der eigenen politischen Überzeugung. Alle anderen hätten die Fabrik verlassen.
Wir besichtigen daraufhin das Lager und die (kleine) Produktion und haben den Eindruck, dass die Kapazitäten des Betriebes lange nicht ausgenutzt sind. Zurzeit arbeiten zwischen 29 und 39 Kollegen im Betrieb. 10 kommen nur temporär, vor allem um den Betrieb ideell zu unterstützen. Sie sind überzeugt von dem Projekt. Etwa die Hälfte der Belegschaft hat die Fabrik verlassen und versucht anderswo Arbeit zu finden.
Die anderen haben die Sache in die eigenen Hände genommen. Sie haben sich ein Statut gegeben, nach dem jeder die gleichen Rechte hat und Abstimmungen in Vollversammlungen stattfinden. You cannot? - Yes we can! ist ihr Motto, frei nach einem Wahlkampfslogan von Obama. Ihre Zuversicht wird getragen von einer breiten Solidaritätsbewegung weit über Griechenland hinaus. (Mehr Infos unter: http://www.viome.org/p/deutsch.html)
Die Kollegen, mit denen wir unter einem Sonnendach diskutieren und Kaffee trinken, sind genauso überzeugt wie wir, dass die Situation in Griechenland grundlegend verändert werden muss – und dass es ein langer harter Kampf sein wird. Über unsere Unterstützung sind sie sehr froh. Wir übergeben dem Kassenwart die mitgebrachten Spendengelder (1000, -€), was uns von der Buchhalterin auch quittiert wird.
Es wird Zeit aufzubrechen, weil die Kollegen zum Syriza-Fest wollen, um dort ihren Stand aufzubauen und ihre Produkte, Infos und Soli-T-Shirts anzubieten. Es blieb nicht viel Zeit, zum Essen und um sich zu erholen.
 
Solidarisches Gesundheitszentrum KIA
 
Um 17 Uhr klingelten wir in der Arztpraxix. Sie ist mitten in einem kleinen asiatischen Migrantenviertel im Zentrum Thessalonikis nahe dem Hauptbahnhof gelegen. Im Gegensatz zu Athen, wo man viele frei umherlaufende Hunde eingefangen und getötet hat, liegen hier gleich ein halbes Dutzend faul in der Abendsonne auf dem Bürgersteig herum. Vasilis erwartete uns schon und es ist noch ziemlich ruhig im Wartezimmer. Die Sprechstunde beginnt erst um sechs, aber ein Patient und mehrere Beschäftigte wuseln herum. Vasilis ist für uns bereits ein alter Bekannter. Er war Mitglied der griechischen Gruppe, die mit uns am 1. Mai demonstriert und an verschiedenen Diskussionsveranstaltungen teilgenommen hatte.
Natürlich drehte sich das Gespräch zunächst um die Schlagzeilen dieser Tage. Es wurde öffentlich, wie Teile der Polizeiführung eng mit der faschistischen Partei "Goldene Morgenröte" verbunden sind. Die Einschätzungen darüber, welchen Einfluss die Faschisten bereits im Staatsapparat haben, ob der Staatsapparat die Faschisten kontrolliert benutzt oder ob gar die Faschisten selbst für den durch die bürgerlichen Parteien regierten Staat ein Problem seien, gingen weit auseinander.
Wir mussten wieder auf den Grund unseres Besuches zurückkommen: Den Widerstand gegen die katastrophalen Auswirkungen der Spardiktate im Gesundheitswesen. Vasilis fasste kurz die Geschichte und die Entwicklung des Gesundheitszentrums bis heute zusammen: Die Unterstützung und die medizinische Betreuung eines Hungerstreiks von Flüchtlingen gegen die unmenschlichen Bedingungen in den Lagern. Daraus entstand die medizinische Versorgung von Menschen ohne Papiere. Die Verschlechterung der sozialen Lage vieler GriechInnen führte dazu, dass sich viele Menschen keine Sozialversicherung mehr leisten können. Bei unserem Besuch vor einem Jahr war bereits fast die Hälfte der PatientInnen Griechen, die keine Krankenversicherung mehr hatten. Bis heute hat ihre Zahl noch einmal dramatisch zugenommen. Offizielle Schätzungen gehen von drei Millionen aus. Das sind fast ein Drittel aller griechischen BürgerInnen. Über 100 Ärzte, Fachärzte, medizinisches und nicht medizinisches Personal sind hier engagiert. Alle arbeiten auf ehrenamtlicher Grundlage. Es gibt keine Hierarchie im Kollektiv. Es gilt der Grundsatz, dass Entscheidungen im Konsens getroffen werden. Mehrheitsbeschlüsse sind die absolute Ausnahme. Die Vollversammlungen finden öffentlich statt. Wer unterstützen und mitmachen möchte kann teilnehmen. Die Beteiligung der PatientInnen ist ausdrücklich erwünscht. Das gelingt nicht immer, aber es ist ein zentrales Anliegen.
Es ist geplant demnächst eine Pressekonferenz gemeinsam mit den PatientInnen durchzuführen, in der die Verschlechterungen der Gesundheitsversorgung angeprangert wird. Dafür wurden auch andere solidarische Gesundheitszentren, die ähnlich arbeiten, angefragt. Alle haben zugestimmt, gemeinsam an einem vereinbarten Termin an die Öffentlichkeit zu gehen.
Allen ist klar, dass die Gesundheitszentren kein Ersatz für ein funktionierendes staatliches Gesundheitssystem sein können. Die Krebspatienten haben es besonders schwer, an die teuren Medikamente heran zu kommen. Das Gesundheitszentrum kann nur bei akuten Fällen helfen. Operationen und aufwändigere Behandlungen sowie labordiagnostische Untersuchungen können nur in Krankenhäusern durchgeführt werden. Deshalb werden alle Möglichkeiten gesucht und genutzt, jenseits der Vorschriften den Menschen die notwendigen Behandlungen zu ermöglichen. Viele Ärzte in den Krankenhäusern und auch Krankenhausleitungen unterstützen dieses Anliegen.
Natürlich muss in den Krankenhäusern erste Hilfe geleistet werden und die Menschen dürfen nicht abgewiesen werden; allerdings erhalten die behandelten Patienten dann oft eine Rechnung und das Geld wird von den Steuerbehörden eingezogen. Das griechische Gesundheitswesen soll nach deutschem Vorbild nach ökonomischen Kriterien umgebaut werden. Wie in Deutschland ist geplant Fallpauschalen einzuführen, mit denen jede Gesundheitsleistung mit einem Preis abgerechnet wird. Darüber hinaus werden Aufnahmegebühren für jeden Krankenhausaufenthalt in Höhe von 25 € erhoben. Auch dagegen richtet sich die Kritik der AktivistInnen.
Die politische Überzeugung der Menschen im Gesundheitszentrum kommt auch in der Unterstützung der Protestbewegung in Chalkidike zum Ausdruck. Dort wehren sich Umweltschützer und Einwohner heftig gegen den Goldabbau durch einen kanadischen Konzern. Ihnen drohen Anklagen wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung. Bei ihren Kämpfen sind sie schweren Repressalien ausgesetzt. Bei Polizeieinsätzen gab es zahlreiche Verletzte, die auch durch Ärzte aus der Klinik versorgt wurden.
Wir fragten auch nach internen Konflikten, die es in dem Projekt gegeben hat. Ca. 20 Aktive, zum Teil Mitgründer der Initiative, hatten in einem Papier die Kritik geäußert, dass die ursprüngliche Identität des Projektes aufgegeben worden sei. Nach langen Debatten, in denen sie sich nicht durchsetzen konnten, haben sie vor einiger Zeit das Zentrum verlassen. Es ging um die stärkere gesellschaftliche Öffnung und auch um die Mitarbeit eines ehemaligen Polizisten.
Mein Eindruck ist, dass es der Linken in Griechenland trotz des gewaltigen Drucks schwer fällt mit Widersprüchen umzugehen. Diese Selbsthilfeinitiative ist eine der bestorganisierten und eine der wichtigsten in Griechenland, und auch hier waren wir sicher, dass 1000 € der eingesammelten Spendengelder gut eingesetzt werden.
(Hans)
 
Besuch bei der Wasserpumpstation der EYATH in Thessaloniki
 
Wir machen uns am frühen Morgen auf den Weg zur Wasserpumpstation in einem Außenbezirk von Thessaloniki. Dort treffen wir Giorgos Archontopoulos, der der Vorsitzende der Betriebsgewerkschaft mit ca. 150 Mitgliedern ist. Er hat gerade seine Nachtschicht beendet und nimmt sich Zeit für uns. Zu Beginn des Besuchs zeigt er uns ein Modell, auf dem das Wasserleitungssystem der Stadt dargestellt wird. Danach machen wir einen Rundgang durch die kleine Station mit den Pumpmaschinen, die über ein Computersystem kontrolliert werden. Außer ihm treffen wir auf nur zwei weitere Kollegen, die die nächste Schicht übernehmen.
Giorgos engagiert sich gegen die von der Troika und der Samaras-Regierung beschlossene Privatisierung der Wasserbetriebe in Thessaloniki und Athen. Die Wasserbetriebe EYATH in Thessaloniki sind 1997 in eine GmbH umgewandelt worden, seit 1999 sind sie noch zu 74 Prozent in öffentlicher Hand. Nun sollen insgesamt 51 Prozent der Anteile an der Gesellschaft an einen privaten Käufer gehen, der auch die Verwaltung übernehmen soll. Interessent ist u.a. der für dieses sogenannte Public Private Partnership bekannte französische Großkonzern Suez Environnement. Die Betriebe erwirtschaften insgesamt 20 Millionen ohne Steuern pro Jahr. Sie haben noch 50 Millionen Außenstände. Zur Hälfte bei der Stadt, zur Hälfte bei Privathaushalten. Der Verkaufspreis der Anteile an EYATH beläuft sich auf 130 Millionen Euro, wegen der Schulden wurde der Preis jedoch auf 80 Millionen gesenkt, die der private Anteilskäufer mindestens zahlen soll. Es gab bei EYATH früher 640 Beschäftigte, heute sind es nur noch 240. Giorgos erzählt, dass es die letzten zehn Jahre keine Neueinstellungen gegeben habe, stattdessen seien viele Dienstleistungen outgesourct worden. 2001 sei es zu der heutigen Teilprivatisierung gekommen, seitdem leide auch der Instandhaltungsservice für die Wasserleitungen. Es seien zwar zwei neue Fahrzeuge gekauft und ein neues, sechsstöckiges Gebäude für Werkzeuge und Werkstatt geplant worden. Die gekauften Fahrzeuge stünden aber nur herum, weil es zu ihrem Einsatz an Personal fehle, und der Bau des Gebäudes sei nach dem ersten Stockwerk abgebrochen worden, weil das Geld gefehlt habe.
2008 entstanden viele Solidaritätsgruppen. 2011 hat sich ein Wassertisch gegründet, wobei SYRIZA als einzige Partei die Anti-Privatisierungsinitiative unterstützt hat. Laut Giorgos verhält sich der Bürgermeister von Thessaloniki, Yiannis Boutaris, sehr wechselhaft in Bezug auf die Wasserprivatisierung, während mittlerweile alle Parteien die Initiative unterstützen. Dies sei auch eine Folge des Erfolgs der Kampagne, denn letztendlich habe die Stimmung der Bevölkerung gegen den Verkauf der Wasserwerke auch zur Niederlage von Nea Demokratia bei den letzten Bürgermeisterwahlen geführt. Der Forderung nach einem Referendum, in dem die Bürger selbst über den Verkauf oder Verbleib der Wasserwerke in staatlicher Hand abstimmen könnten, wird von der Regierung nicht stattgegeben bzw. es wird immer wieder hinausgezögert. Dies macht es laut Giorgos umso schwieriger, die Bewegung und ihre Kampfkraft aufrechtzuerhalten. Sie selbst als Gewerkschaft bekommen zwar keine Unterstützung von ihrem Dachverband GSEE, sie hätten aber große Unterstützung über die Public Service Union (PSU) sowie von gegen die Wasserprivatisierung kämpfenden Regierungsvertretern aus Bolivien, der Türkei und Frankreich erhalten. Auch habe die sogenannte 136-Bewegung an Bedeutung gewonnen. Ein großes Problem ist jedoch, dass die Ausrichtung der Kampagne auf den Kauf der Anteile durch die Bürger der Stadt die Verarmung der Bevölkerung außer Acht lässt. Das Ziel, durch eine finanzielle Beteiligung der Familien mit 136 Euro die Wasserwerke in quasi-genossenschaftliches Eigentum umzuwandeln, ist derzeit kaum realisierbar, weil viele Familien neben ihrer Existenzsicherung diesen Betrag schlichtweg nicht aufbringen können. Auch die Initiative des Geschäftsmanns Robert Apfel als Unterstützer von „136“, über bspw. die Bill und Melinda Gates-Stiftung diesen Familien Mikrodarlehen zu gewähren, klingt für uns nicht gerade überzeugend.
Der Verkauf der Anteile wird für Ende 2013 oder Beginn 2014 erwartet – auf jeden Fall noch vor den nächsten Bürgermeisterwahlen.
(Nina)
 
Samstagnachmittag, 28.9. - In der „Solidarischen Struktur“ Mirmigi
 
Nachdem nun auch Doris, Gisela und Reinhard abgeflogen sind, sind wir nur noch zu dritt. Christos von „solidarity4all“ hatte uns den Kontakt zu der „solidarischen Struktur“ Mirmigi besorgt, wir würden sagen „Sozialzentrum“. Mitsi holt uns mit dem Auto ab und wir fahren ein Stück in einen anderen Stadtteil, der von der Krise ziemlich betroffen ist. Dort treffen wir Samuel, auch schon älter, der Deutsch spricht. Ansonsten ist in dem Zentrum kein Betrieb, da sie nur dreimal die Woche geöffnet haben. Zwei weitere Ehrenamtliche sind gekommen, Migranten, die im Zentrum mitarbeiten.

Mirmigi - die Spuren des Brandanschlags
Foto: Andy
 
Natürlich ist das erste Thema die Nachricht von der Verhaftung der Führungsspitze der Goldenen Morgenröte, die sich am Morgen wie ein Lauffeuer verbreitet hatte. Klar ist ihre Reaktion erstmal Freude, in die sich aber gleich Skepsis mischt. Warum macht die Regierung das gerade jetzt? Sie wusste doch die ganze Zeit, dass es Verbrecher sind. Was bedeutet es für die Linke, wenn jetzt eine Partei ausgeschaltet wird mit der Begründung, sie sei eine kriminelle Vereinigung? Wird dieselbe Begründung demnächst gegen Syriza angewendet, die man ja sowieso immer mit der Goldenen Morgenröte gleichsetzt nach dem Motto: Rechter und linker Extremismus bedrohen die Demokratie?
Das Zentrum selbst wurde vor einigen Monaten auch schon angegriffen, die Spuren des Brandanschlags sind an der Eingangstür noch deutlich zu sehen. Daneben war auf die Wand gesprüht: „ Kaphir Raus!“ (Also: Kaffer raus! „Raus“ deutsch geschrieben.) Aus den Buchstaben haben sie jetzt Blumen und Gesichter gemalt.

Parole Kaphir Raus!
Foto: Andy
 
In das Zentrum kommen sehr viele Immigranten, aber auch griechische Einwohner und Familien aus dem Stadtteil. Sie akzeptieren alle, egal ob sie sich legal oder illegal aufhalten. Wenn jemand kommt, dann wird er/sie registriert, denn man darf sich pro Monat zweimal etwas mitnehmen. Sie haben dreimal die Woche geöffnet, und es kommen pro Woche etwa zweihundert Leute, das bedeutet also, dass sie monatlich 400 Menschen/Familien betreuen. Sie haben eine Speisekammer, Kleiderkammer und einen Raum mit Kinderspielzeug und Büchern. Sie bestreiten ihren Bedarf ausschließlich aus Spenden.

Mirmigi – Lebensmittel zur Verteilung an die Armen
Foto: Andy
 
Da wir abends bei Eurydike eingeladen sind, gehe ich zwischendurch ein Stück die Straße runter, wo ein kleiner Blumenladen ist, höchstens 200 Meter. Die Ladenbesitzerin, vielleicht Mitte 40, spricht ausgezeichnet Englisch, sie war früher Englischlehrerin. Ich spreche sie auf die schweren Zeiten an und sie fängt sofort an zu klagen. Ich sage, ich sei gerade da oben in dem Zentrum, was sie erst gar nicht zu kennen scheint. Dann erkläre ich ein bisschen, dass die Menschen helfen usw., da meint sie: „Ach da, wo die Afghanen sind.“ Ich sage, da gingen auch griechische Familien hin, davon weiß sie aber nichts. Und dann geht’s los: Die Immigranten und die Ausländer, die Griechenland überschwemmten! Jetzt seien es schon 2,5 Millionen (eine absurde Zahl), und sie seien damit überfordert. Die lungerten hier überall rum. Zweimal sei sie schon bewaffnet überfallen worden und sie habe ihr Geld rausrücken müssen, um nicht umgebracht zu werden.
Auf die Goldene Morgenröte spreche ich sie dann nicht mehr an. Aber es ist klar: Auch wenn man die Partei verbietet, dann bleiben doch die Menschen und deren Probleme, die natürlich der Krise geschuldet sind, die aber auf die Ausländer geschoben werden. Irgendjemand wird sich dieser Leute wieder mit Scheinlösungen und Parolen annehmen. Die Extreme liegen hier sehr dicht beisammen. Wir übergeben dem Zentrum 500€ von unseren mitgebrachten Spenden.
(Manfred)
(PK)
Liebe Griechenland-UnterstützerInnen,
wir haben unser Tagebuch nun in Buchform vorliegen, 60 Seiten mit Fotos, einem Vorspann und Nachspann. Wir wollen es zum Spendensammeln benutzen und stellen uns Folgendes vor. Der Selbstkostenpreis beträgt 3€. D.h. wenn man mehr bezahlt, z.B. 6€, gehen die Mehreinnahmen aufs Spendenkonto. Ihr könnt bei mir Manfred.Klingele@T-Online.de Tagebücher bestellen, z.B. 10 Stück, ich schicke sie Euch per Post und Ihr überweist einen entsprechenden Betrag auf unser Solikonto mit dem Stichwort "10 Tagebücher" bzw. "X Tagebücher", wenn ihr eine andere Anzahl (=X) bestellt habt. Dann werde ich 10x30€ plus Porto von dem Konto entnehmen und der Rest bleibt als Spende.
Nachvollziehbar?
Wenn ihr bestellt, gebt bitte eure Postadresse an!
Spenden an
Konto-Inhaber: Manfred Klingele-Pape, Kto-Nr 1211478910, BLZ 200 505 50, Hamburger Sparkasse, Stichwort: Tagebücher
Liebe Grüße,
Manfred
 


Online-Flyer Nr. 441  vom 15.01.2014

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