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Aktueller Online-Flyer vom 18. April 2024  

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Glossen
Völlig losgelöst, schwerelooooos
Das Raumschiff der Großen Koalition
Von Ulrich Gellermann

Zwei Papiere schlagen gleichzeitig auf die Köpfe der Deutschen ein. In dem einen berichtet das Statistische Bundesamt mit nüchterner Brutalität über Armut in einem reichen Land: Sie wächst und verfestigt sich. In dem anderen erzählt ein aus CDU und SPD gemischtes Doppel über die wunderbare Zukunft der nächsten vier Jahre. Im ersten Papier wird vom flexiblen Arbeitsmarkt geredet, jenem Fleischmarkt, an dem sich die Abgehängten immer wieder für Hungerlöhne anbieten müssen. In dem anderen Papier versprechen die Koalitionäre den Mindestlohn. Für das ferne Jahr 2017.

Karikatur: Kostas Koufogiorgos
Karikatur: Kostas Koufogiorgos
www.koufogiorgos.de

 
Aus dem einen Papier quellen die Bilder der Bettler vor den Supermärkten, den Flaschensammlern an den Müllboxen, den frierenden Obdachlosen. Aus dem anderen strahlt die ferne Macht der schwarzen Anzüge und Kostüme, überwältigen die Phalanxen der Polithändler, ist das satte Brummen dunkler Dienstwagen zu hören. Dazwischen: Nichts. Eine Gesellschaft im Wartestand auf Lösung. Da wollen welche eine Regierung des Weiter-So bilden. In einem Raumschiff der Ignoranz, der sozialen Blindheit und der Gewohnheiten fliehen sie vor einer Verantwortung, die ihnen angetragen wurde, in eine Welt, die für jene auf dem Boden nicht mehr erreichbar ist.
 
Jahre liegen hinter uns. Jahre, in denen eine dünne, fette Schicht sich schamlos weiter bereichern konnte. In denen eine Mehrheit auf der Stelle tritt und eine wachsende Minderheit das Fürchten gelernt hat. Es gab dann, vor den letzten Wahlen einen Moment der Wahrheit: Einige wollten so etwas wie Gerechtigkeit. Wenigstens ein wenig sollte die kleine Fettschicht abgeben. So viel, dass es für ordentliche Löhne für die Vielen gereicht hätte. So viel, dass an einem Bildungssystem der sozialen Durchlässigkeit hätte gebaut werden können. So viel, dass kaputte Straßen, verdreckte öffentliche Schulen und unzureichende Eisenbahnen hätten zügig repariert werden, dass Arbeit hätte Arbeit schaffen können. Doch Steuererhöhungen für die Reichen sind im System nicht vorgesehen. Stattdessen: Die Maut. Eine weitere Steuer für fast alle. Vor dem Steuergesetz, so spreizen sich die Maut-Koalitionäre, sind alle gleich. Ob ihre Karre rostet oder ihr Daimler blinkt. Und dann schreiben sie in den Vertrag: "Unser Land braucht eine `Neue Gründerzeit´. Wir wollen Unternehmertum und Gründungsgeist stärken und zu mehr gesellschaftlicher Anerkennung verhelfen." Oben, aus dem Cockpit des Raumschiffs, kommt der Funkspruch: Du hast eine Hartz-Chance, nutze sie, Erdling.
 
In den großen Städten werden wie am Fließband neue Luxushäuser gebaut. Immer mehr Kunstgalerien in den besseren Vierteln machen immer mehr Umsätze. Der Aktienmarkt vibriert vor lauter Nachfrage. Doch wann immer sie über die Finanzmärkte schreiben - "Die Finanzmärkte erfüllen eine wichtige Funktion für die Volkswirtschaft" - und zaghaft über deren Kontrolle rätseln, schreiben sie nicht, wir werden, sie schreiben wir "wollen". Wir haben irgendwie eine Absicht. Und wo es gilt, die Mieten auf ein erträgliches Maß zu reduzieren, da reden sie über die steuerliche Abschreibung im Mietwohnungsbau, den finanziellen Anreiz, das Kapital steuerlich günstig anzulegen.
 
"Effektivität - Bestimmt das Handeln. - Man verlässt sich blind - Auf den ander´n.", singt Major Tom in seinem Raumschifflied aus den 80er Jahren. Blind sein, will die große Koalition natürlich nicht. Man will schon wissen was die Bürger treiben. Deshalb werden deren Daten auch weiter auf Vorrat gespeichert. Doch mächtig bleibt die Blindheit gegenüber der NSA, die im Papier als "Affäre" gehandelt wird, nicht als Verrat: "Wir drängen auf weitere Aufklärung, wie und in welchem Umfang ausländische Nachrichtendienste die Bürgerinnen und Bürger und die deutsche Regierung ausspähen." Man drängt, aber man drängelt nicht.
 
Gedrängelt wird im militärischen Bereich: "Transatlantische Partnerschaft und NATO stärken" lautet eine Überschrift. Und: "Wir bekennen uns zur NATO und zu ihrem neuen strategischen Konzept". Um dann zu folgern: "Die Bundeswehr ist eine Armee im Einsatz." Nicht eine Armee, die das Land verteidigen soll. Kein Militär zum Schutz seiner Bürger. Man ist im dauerhaften Einsatz. Gegen wen, warum und wo, das bedarf schon nicht mehr der Begründung in der Koalitionsakte.
 
Schließlich wird dann doch ein Spannungsgebiet genannt: "Naher Osten und arabische Welt". Da folgt dann nichts Entspannendes. Sondern die Verschärfung der Lage: "Wir bekennen uns zu der besonderen Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel als jüdischem und demokratischem Staat und dessen Sicherheit." Die Kommandanten des Raumschiffs dekretieren einen Religionsstaat, einen jüdischen, auch wenn sich dort auch andere Religionen befinden. Und schließlich kommt, für alle Fälle, die Kriegsgarantie: "Das Existenzrecht und die Sicherheit Israels sind für uns nicht verhandelbar." Welches Israel? Ein Land, das sich bis heute weigert, seine Grenzen zu definieren, ist hier nicht verhandelbar? Jenes der Gründung, das nach den erfolgreichen Kriegen gegen die Palästinenser, oder das Traumland aus der Bibel, für dessen Existenz nur noch ein paar Millionen Andersgläubige verschwinden müssen?
 
Irgendwann, weit hinten auf den 170 Seiten eines Vertrages, der noch ratifiziert werden muss, steht dann der erschreckend dürftige Satz: "Konsequenzen aus den Erkenntnissen des NSU- Untersuchungsausschusses: Wir stärken die Zentralstellenfunktion des Bundesamtes für Verfassungsschutz." Genau das Amt, dem man die Begünstigung des braunen Terrors zuschreiben muss, soll gestärkt werden. Nicht zerschlagen oder aufgelöst. – "Die Erdanziehungskraft - Ist überwunden. - Alles läuft perfekt, - Schon seit Stunden.", singt Major Tom und hat das Außerirdische der Koalition vorweggenommen. Es gibt nicht viel Hoffnung, aber vielleicht können jene Mitglieder der SPD, die mit beiden Beinen auf der Erde stehen, denen der schwere Dienstwagen-Traum ihrer Parteispitze nicht den Blick auf die Wirklichkeit vernebelt hat, uns aus dem Elend eines unbeschwerten, gedankenlosen Weitermachens erlösen. Bitte! (PK)
 
Diesen Text haben wir mit Dank erhalten von
http://www.rationalgalerie.de/home/voellig-losgeloest-schwerelooooos.html


Online-Flyer Nr. 435  vom 04.12.2013



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