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Kultur und Wissen
Zur Aufgabe des Individuums in einer scheinbar hoffnungslosen Situation
Albert Camus - "Libertäre Schriften"
Von Rudolf Hänsel

Albert Camus, einer der wichtigsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, wäre am 7. November 2013 100 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass brachte der Hamburger Laika Verlag Artikel, Briefe und Antworten sowie Transkriptionen gehaltener Reden und ausgewählte Diskussionen des Literaturnobelpreis-Trägers heraus. (1) Auch Seiten aus seinem Tagebuch von 1939 werden in diesem Buch veröffentlicht. Darin äußert sich Camus zum Zweiten Weltkrieg und zur Rolle des Individuums in einer als hoffnungslos empfundenen Situation. Es sind Gedanken, die Camus’ Aktualität bis in unsere heutigen Tage dokumentieren und zutiefst berühren.

Albert Camus 1957
NRhZ-Archiv
 
Gleich nach Ausbruch des Krieges schreibt er in sein Tagebuch: „Nichts ist unentschuldbarer als der Krieg und der Aufruf zum Völkerhass. Aber ist der Krieg einmal ausgebrochen, ist es zwecklos und feige, sich unter dem Vorwand, man sei nicht für ihn verantwortlich, abseits zu stellen. Die Elfenbeintürme sind eingestürzt. Es ist nicht erlaubt, sich selbst und den anderen gegenüber ein Auge zuzudrücken.“ (2)
 
Was der einzelne Mensch in einer solchen Situation seines Erachtens zu überdenken und zu tun hat, beschreibt Camus in einem „Brief an einen Verzweifelten“ – ebenfalls abgedruckt in den Tagebuchaufzeichnungen von 1939. In diesem Brief bringt Camus zwar Verständnis für die Gefühle des Unbekannten angesichts des ausgebrochenen Krieges auf, teilt aber nicht dessen Verzweiflung: „Sie schreiben mir, dass dieser Krieg Sie bedrückt, dass Sie bereit wären zu sterben, dass Sie aber diese weltweite Dummheit nicht ertragen können, diese blutrünstige Feigheit und diese verbrecherische Naivität, die immer noch glaubt, menschliche Probleme könnten mit Blut gelöst werden. Ich lese Ihre Zeilen und verstehe Sie. Ich verstehe Sie, aber ich kann Ihnen nicht mehr folgen, wenn Sie aus dieser Verzweiflung eine Lebensregel machen und sich hinter Ihren Ekel zurückziehen wollen, weil ja doch alles unnütz sei. Denn die Verzweiflung ist ein Gefühl und kein Zustand. Sie können nicht darin verharren. Und das Gefühl muss einer klaren Erkenntnis der Dinge weichen.“ (3)
 
Camus versucht dem Ratsuchenden daraufhin darzulegen, welche Frage er sich zu stellen habe, bevor er entscheiden könne, was er in dieser aussichtslos erscheinenden Situation noch tun könne: „(…) Zunächst müssen Sie sich fragen, ob Sie wirklich alles getan haben, um diesen Krieg zu verhindern. (…) Aber ich bin sicher, dass Sie nicht alles getan haben, was nötig war, genauso wenig wie wir alle. Sie haben es nicht verhindern können? Nein, das stimmt nicht. Dieser Krieg war nicht unabwendbar, das wissen Sie. Es hätte genügt, den Versailler Friedensvertrag rechtzeitig zu revidieren. Das ist versäumt worden.“ (…) Aber dieser Vertrag oder irgendeine andere Ursache kann noch revidiert werden. (…) Noch gibt es eine nützliche Aufgabe zu erfüllen.“ (4)
 
Diese nützliche Aufgabe, die der Ratsuchende nach Camus’ Ansicht auch noch nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zu erfüllen habe, ist meines Erachtens auch eine Aufgabe für jeden einzelnen Menschen und Bürger in unserer gegenwärtigen Zeit, in der völkerrechtswidrige Kriege den betroffenen Völkern unvorstellbares Leid zufügen: „Sie haben eine Aufgabe, zweifeln Sie nicht daran“, schreibt Camus. „Jeder Mensch besitzt einen mehr oder weniger großen Einflussbereich. Er verdankt ihn seinen Mängeln ebenso wie seinen Vorzügen. Aber wie dem auch sei, er ist vorhanden und er kann unmittelbar genutzt werden. Treiben Sie niemanden zum Aufruhr. Man muss mit dem Blut und der Freiheit der anderen schonend umgehen. Aber Sie können zehn, zwanzig, dreißig Menschen davon überzeugen, dass dieser Krieg weder unabwendbar war noch ist, dass noch nicht alle Mittel versucht worden sind, ihm Einhalt zu gebieten, dass man es sagen, es wenn möglich schreiben, es wenn nötig hinausschreien muss! Diese zehn oder dreißig Menschen werden es zehn anderen weitersagen, die es ihrerseits weiter verbreiten. Wenn die Trägheit Sie zurückhält, nun gut, so fangen Sie mit anderen von vorne an.“ (5)
 
Abschließend ermutigt Camus den Ratsuchenden, nicht an der Geschichte zu verzweifeln, in der das Individuum alles vermag: „Individuen sind es, die uns heute in den Tod schicken. Warum sollte es nicht anderen Individuen gelingen, der Welt den Frieden zu schenken? Nur muss man beginnen, ohne an so große Ziele zu denken. Vergessen Sie nicht, dass der Krieg ebenso sehr mit der Begeisterung derer geführt wird, die ihn wollen, wie mit der Verzweiflung derer, die ihn mit der ganzen Kraft ihrer Seele ablehnen.“ (6)
 
An anderer Stelle seiner Tagebucheintragungen bekräftigt Camus nochmals seinen Standpunkt: „Es gibt ein einziges Verhängnis, nämlich den Tod, und darüber hinaus gibt es keines mehr. In dem Zeitraum, der von Geburt bis zum Tod reicht, ist nichts festgelegt: man kann alles ändern und sogar dem Krieg Einhalt gebieten und sogar den Frieden erhalten, wenn man es inständig, stark und lange will.“ (7)
 
Dieses Bild vom Menschen mit einer klaren ethischen Haltung entfaltet Camus auch in seinem späteren Essay von 1942 „Der Mythos von Sisyphos“: In einer absurden Welt sei der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen. Aber in dieser schwierigen Situation sieht Camus ebenfalls nur einen Weg: Trotzdem zu handeln, durchzuhalten, sich zu engagieren. (8) Und in einer „letzte(n) Nachricht von Albert Camus“ – so das Schlusskapitel des neu erschienenen Buches von Lou Marin – antwortet der große Literat und Mitmensch auf die Frage eines Interviewers, wie er die Zukunft der Menschheit sähe und was man tun könne, um zu einer freieren Welt zu kommen: „Geben, wenn man kann. Und nicht hassen, wenn das möglich ist.“ (9) – (PK)
 
(1) Marin, L. (Hrsg.) (2013). Albert Camus – Libertäre Schriften (1948-1960). Hamburg: Laika Verlag.
(2) A.a.O., S. 268.
(3) A.a.O., S. 271.
(4) A.a.O., S. 272.
(5) A.a.O., S. 273.
(6) A.a.O.
(7) A.a.O. S. 267.
(8) S. Wiener Vorlesungen, Bd. 81. Ehalt, H. Ch. (Hrsg.) (2001). Zur Aktualität von Albert
Camus. Wien: Picus Verlag, S. 12.
(9) Marin, L. (Hrsg.) (2013). Albert Camus – Libertäre Schriften (1948-1960). Hamburg: Laika Verlag, S. 364.
 
Dr. Rudolf Hänsel aus Lindau (Bodensee) ist Dipl.-Psychologe in eigener Praxis und Erziehungswissenschaftler.
Kontakt: info@tugenderziehung.com
www.tugenderziehung.com
 


Online-Flyer Nr. 434  vom 27.11.2013

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