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Kultur und Wissen
Konstantin Wecker und Prinz Chaos II. veröffentlichen einen "Aufruf zur Revolte“
Es reicht! Begehrt auf!
Von Holdger Platta

Nein, kein Zufall: auch mit Blick auf die Landtagswahlen in Bayern und Hessen sowie auf die Bundestagswahlen veröffentlichten die beiden Liedermacher Konstantin Wecker und Prinz Chaos II. am 15. September ihren „Aufruf zur Revolte“ als kostenloses E-Book im Internet. Doch Anlässe wie Intentionen dieser "Polemik“ (Untertitel der Kampfschrift) reichen weit über diese Termine hinaus. Es geht um Darstellung der Weltzustände insgesamt – und um die Frage, was dem entgegenzusetzen ist.
 

Konstantin Wecker und Prinz Chaos II.
Es war im März dieses Jahres, daß sich die beiden Künstler nach einem gemeinsamen Konzert zu diesem Aufruf entschlossen. Noch beglückt vom Publikumsecho, gestanden sich die beiden Sänger „in einer denkwürdigen, coming-out-artigen Situation“, dass ihre „Intuition immer lauter Alarm“ zu schlagen beginnt. Die Autoren wörtlich:
„…wenn man alle Faktoren zusammenrechnet, die ökologische Situation, die wirtschaftliche Lage, den gigantischen, präventiv ausgebauten Repressionsapparat und auch, ja, leider, die zunehmende Verrohung und Entsolidarisierung der Menschen untereinander, dann muß einem Himmelangst werden.“
 
Hier nun also das Resultat: ein 40-seitiges Manifest gegen den Kapitalismus – und gegen unsere Mutlosigkeit. Es ist, natürlich, ein literarischer Text, kein kleinteilig, mithilfe marxistischer Kategorien, die Gegenwart durchanalysierender Text. Es ist aber, gleichwohl, ein Text, der mit dialektischer Akribie die Verhältnisse der Gegenwart durchleuchtet, ein Text, der die weltweiten Zusammenhänge der Krise anders, nämlich individuell wahrnehmungsnah, darzustellen vermag.
 
Typisch in dieser Hinsicht schon der Textbeginn: die Verfasser setzen an bei unserer Alltagserfahrung, bei dem, was der Erkenntnis der Zusammenhänge im Wege steht, den weltweit praktizierten Verdrängungsmechanismen, „Illusionsabfällen und Betäubungsmittel aller Art“, dem nächsten „Sportgroßereignis oder einer neuen Terrorwarnung“ etwa. Um dann vorzustoßen zu eben diesen verdrängten Problemen. Da werden dann zum Beispiel die Finanzkrise angesprochen und die Weltnaturkatastrophe, die Kriegstreibereien und der Überwachungsskandal, das Flüchtlingselend und die illegitime Macht der Weltkonzerne. Und dieses jeweils im Kontrast zur propagandistischen Verdrängungsschreiberei.
 
Zum Beispiel: über die Brutalität Erdogans gegen Occupy Gezi in Istanbul empöre man sich „unisono“, doch der „himmelschreiend brutale Polizeieinsatz gegen Blockupy in Frankfurt am Main (…) mit mehr als 400 Verletzten“ sei fast totgeschwiegen worden. Oder: man beklage immer noch die 139 Berliner Mauertoten - 28 Jahre danach -, aber wo läse man in gleicher Extensität von den rund 2000 Toten, die heutzutage an den europäischen Grenzen ums Leben kommen, jährlich - Flüchtlinge, gegen die eine Kriegsflotte der EU auf dem Mittelmeer ihre barbarische Arbeit verrichtet?
 
Der Aufruf zeigt: hier stimmen die Maßstäbe nicht. Er zeigt: hier funktioniert ungeheuer vieles im Dienste westlicher Profitinteressen. Und er zeigt: dem muss nicht nur Gesellschaftstheorie entgegengesetzt werden - da bleiben Konstantin Wecker und Prinz Chaos II. eher vorsichtig -, sondern vor allem auch aufgeklärte Menschlichkeit. Für mich die große Kraft dieses Textes: hier wird nicht nur von Kopf zu Kopf gesprochen, sondern wieder und wieder, auf furiose Weise, von Herz zu Herz.
 
Deswegen ist dieser Aufruf auch beides: ein aufwühlender Text und klug! Deswegen schürt das Manifest mit seinem Doppelcharakter nicht nur die Hoffnung, sondern er spart auch die Gefahr unseres Scheiterns nicht aus. Deswegen begegnen wir hier immenser Empathie und Realismus. Zum Beispiel:
„Nüchtern betrachtet sind die Risiken der Revolte weitaus geringer als die mit mathematischer Sicherheit katastrophalen Ergebnisse eines weiteren tatenlosen Zuschauens und Mitlaufens. Und wenn wir endlich auch in Deutschland den Mut zur Revolte fassen (…), dann werden wir eine andere Intensität des Lebens erfahren dürfen (…): den Zauber wirklicher Freiheit.“
 
Dabei versteht sich von selbst: die Autoren setzen nicht nur auf Wahlen - der Zeitpunkt dieser Veröffentlichung stellte insofern ein Missverständnis dar -, sondern vor allem auf eine neue große außerparlamentarische Bewegung. Und sie setzen auf die Inspiration und Intelligenz der vielen Einzelnen in dieser Bewegung, nicht aber auf sogenannt-charismatischen Führerfiguren. Ein humaner Anarchismus ist kennzeichnend für diesen Aufruf, Orientierung an Graswurzelarbeit, ohne sich in Kontraposition zu bringen auch - auch! - zu parlamentarischer Tätigkeit. Hier geht es nicht um ein Entweder-Oder, sondern um ein im besten Sinne hellwaches Sowohl-als auch. Bei allem Blick auf das Große und Ganze schreiben Wecker und Prinz Chaos II. nicht über das Kleine und Kaputte hinweg, aber bei allem Ernstnehmen der Alltagserfahrungen ganz unten wird auch das Treiben derer da oben analysiert. Das ist Gesellschaftskritik ohne das gewohnte Wissenschaftsvokabular und dennoch wissenschaftlich hochinformiert (Beispiel: die Analyse der Situation im vor-revolutionären Frankreich gegen Ende des 18. Jahrhunderts). Hier werden Geschichte und Politik auf allen Ebenen zur Sprache gebracht, und auf allen Ebenen sollten wir uns dem verkehrten Gang der Dinge in den Weg stellen - für mich die Kernaussage, um die es bei diesem Aufruf zur Revolte geht. Im Interesse einer Welt ohne Freiheitsberaubungen und Menschenschinderei, ohne Herrschaft des Geldes und abgehobener Cliquen, ohne Elend und Angst.
 
Zweifellos: ein packendes und aufklärendes Manifest. Und ich füge hinzu: ein Glücksfall, dass es noch solche politisch-engagierte Künstler gibt. Mögen viele Menschen diesem Beispiel folgen.
 
Demokratie lebt von unten her oder gar nicht. (PK)


Hier der Link zur Veröffentlichung von Wecker/Prinz Chaos II, der im kommenden Jahr auch in Buchform erscheinen soll: 
www.randomhouse.de/Aufruf_zur_Revolte_Eine_Polemik_von_Konstantin_Wecker_und_Prinz_Chaos_II/aid48077.rhd
 
Holdger Platta ist Schriftsteller und Wissenschaftsjournalist und hat zusammen mit Rudolph Bauer im Laika-Verlag 2012 das Buch "Kaltes Land: Gegen die Verrohung der Bundesrepublik. Für eine humane Demokratie" herausgegeben, an dem als Autoren auch Christoph Butterwegge und Volker Eick beteiligt sind.  Eine Kurzversion seines aktuellen Beitrags erschien im neuesten Heft der Zeitschrift Ossietzky.  


Online-Flyer Nr. 424  vom 18.09.2013

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