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Kommentar
Der Arabische Frühling zeugte einen Bürgerkrieg in Syrien
Armer Obama
Von Uri Avnery

ARMER OBAMA. Er tut mir leid. Gleich am Beginn seiner Begegnung mit der Geschichte hielt er DIE REDE in Kairo. Eine großartige Rede. Eine erhebende Rede. Eine erbauliche Rede. Er sprach zur gebildeten Jugend der ägyptischen Hauptstadt. Er sprach über den Wert der Demokratie, die glänzende Zukunft, die eine liberale, muslimische Welt erwarte. Hosni Mubarak war nicht eingeladen. Damit wurde darauf hingewiesen, dass er ein Hindernis auf dem Weg in die glänzende neue Welt sei. Vielleicht wurde dieser Hinweis aufgenommen. Vielleicht legte die Rede den Samen für den Arabischen Frühling.


Obama am 4. Juni 2009 während seiner
Rede vor der Universität Kairo
Quelle: wikipedia
Wahrscheinlich war sich Obama nicht der Möglichkeit bewusst, dass die Demokratie, die vortreffliche Demokratie, zu einer islamistischen Herrschaft führen würde. Nachdem die Muslimbrüder die Wahl gewonnen hatten, wollte ihnen Obama probeweise die Hand reichen. Aber wahrscheinlich plante der CIA zur selben Zeit schon die Machtübernahme des Militärs. Wir sind jetzt also genau da wieder angekommen, wo wir am Tag vor DER REDE waren: bei einer skrupellosen Militärdiktatur. Armer Obama.

JETZT HABEN wir ein ähnliches Problem in Syrien. Der Arabische Frühling zeugte einen Bürgerkrieg. Mehr als hunderttausend Menschen wurden schon getötet, und die Zahl wächst mit jedem Tag. Die Welt steht dabei und guckt passiv zu. Die Juden erinnert das an den Holocaust, als damals – wie jeder Junge und jedes Mädchen bei uns in der Schule lernt – „die Welt zusah und dazu schwieg“.

So war es noch bis vor ein paar Tagen. Dann ist etwas geschehen. Eine rote Linie wurde überschritten. Giftgas ist eingesetzt worden. Die zivilisierte Menschheit verlangt, dass gehandelt werde. Aber wer soll handeln? Natürlich der Präsident der Vereinigten Staaten. Armer Obama.

VOR EINIGER Zeit hielt Obama eine Rede, wieder so eine dieser Reden, in denen er eine rote Linie zog: keine Massenvernichtungswaffen, kein Giftgas! Es sieht so aus, als wäre diese rote Linie nun überschritten worden: Giftgas ist eingesetzt worden. Wer könnte etwas so Schreckliches tun? Dieser blutige Tyrann natürlich: Bashar al-Assad. Wer sonst? Die öffentliche Meinung in den USA, ja die öffentliche Meinung im gesamten Westen, verlange, dass gehandelt werde. Obama hat gesprochen, also muss Obama handeln. Andernfalls würde er das Image, das er vielerorts hat, bestätigen: das Image eines Waschlappens, eines Schwächlings, eines Feiglings, eines Menschen, der nur redet und nicht handelt.

Das würde seine Möglichkeiten einschränken, auch irgendetwas, das weit von Damaskus entfernt ist, zu bestimmen: die Wirtschaft, die
Gesundheitsfürsorge, den Klimaschutz. Der Mann hat sich durch seine Reden wirklich in eine Ecke manövriert. Die Notwendigkeit zu handeln ist übermächtig. Der Albtraum eines jeden Politikers. Armer Obama.

DA ERHEBEN sich allerdings einige Fragen. Die erste ist: Wer sagt eigentlich, dass Assad das Gas eingesetzt hat? Reine Logik scheint gegen diese Schlussfolgerung zu sprechen. Als es geschah, hatte eine Gruppe von UN-Fachleuten, die durchaus keine Trottel sind, den Auftrag den Verdacht des Einsatzes von Chemiewaffen auf dem Boden zu untersuchen. Warum würde ein Diktator, der bei gesundem Verstand ist, sie mit dem Beweis seines Vergehens ausstatten? Selbst wenn er gedacht hat, dass der Beweis rechtzeitig beseitigt
werden könnte, hätte er dessen doch nicht sicher sein können. Die entsprechende Ausrüstung hätte ihn verraten. Die zweite ist: Was könnten Chemiewaffen erreichen, das gewöhnliche Waffen nicht erreichen könnten? Welchen strategischen oder sogar taktischen Vorteil böten sie, den andere Mittel nicht bieten?

Diese Logik kann man natürlich mit dem Argument widerlegen, Assad sei eben nicht logisch, nicht normal, sondern einfach ein verrückter Despot, der in seiner eigenen Welt lebe. Aber stimmt das denn? Bisher hat sein Verhalten gezeigt, dass er tyrannisch, grausam und skrupellos ist, aber nicht, dass er verrückt wäre, sondern er ist eher kalt und berechnend. Außerdem ist er von einer Gruppe von Politikern und Generälen umgeben, die alles zu verlieren haben und die ein einzigartig kaltblütiger Haufen zu sein scheinen. Auch schien es in letzter Zeit so, als würde das Regime gewinnen. Warum sollte es dann ein solches Risiko auf sich nehmen?

Und doch muss Obama entscheiden, dass er sie angreift, obwohl der Beweis nicht eindeutig ist. Es ist derselbe Obama, der den lügenhaften Beweis durchschaute, den George Bush jr. produziert hat, um den Angriff auf den Irak zu rechtfertigen. Es ist Obamas großes Verdienst, dass er gleich von Anfang an Einwände gegen den Angriff auf den Irak erhoben hat. Jetzt ist er auf der anderen
Seite. Armer Obama.

UND WARUM Giftgas? Was ist daran so besonders, dass sein Einsatz zur roten Linie geworden ist? Wenn ich getötet werde, ist es mir wirklich einerlei, ob das durch Bomben, Granaten, Maschinengewehre oder Gas geschieht. Stimmt schon, an Gas ist etwas Unheimliches. Der menschliche Geist schreckt vor etwas zurück, das die Luft vergiftet, die wir atmen. Atmen ist schließlich das elementarste
Bedürfnis des Menschen, ja der meisten Lebewesen überhaupt. Aber Giftgas ist keine Massenvernichtungswaffe. Es tötet wie jede andere Waffe auch. Man kann es nicht mit den Atombomben gleichsetzen, die Amerika über Hiroshima und Nagasaki abwarf.

Giftgas ist auch keine kriegsentscheidende Waffe. Es hat den Verlauf des Ersten Weltkrieges, in dem es ausgiebig eingesetzt wurde, nicht geändert. Nicht einmal die Nazis sahen im Zweiten Weltkrieg irgendeinen Nutzen in seiner Anwendung auf dem Schlachtfeld  – und nicht nur darum nicht, weil der Gefreite Adolf Hitler im Ersten Weltkrieg durch Giftgas vergiftet worden (und zeitweise blind) war. Aber da Obama nun einmal diese Giftgas-Linie in den syrischen Sand gezogen hat, kann er den Einsatz von Gas nicht ignorieren. Armer Obama.

DER HAUPTGRUND für Obamas langes Zögern gehört  jedoch einer ganz anderen Ordnung an: Er ist gezwungen, gegen die wahren Interessen der Vereinigten Staaten zu handeln. Assad mag ja ein schrecklicher Mistkerl sein, aber er dient nichtsdestoweniger den USA. Viele Jahre lang hat die Familie Assad den Status quo in der Region aufrechterhalten. Syriens Grenze zu Israel ist die ruhigste Grenze, die Israel jemals gehabt hat, und das trotz der Tatsache, dass Israel Land annektiert hat, das unbestreitbar Syrien gehört. Es stimmt: ab und zu hat Assad die Hisbollah dazu benutzt, Israel zu provozieren, aber das war keine wirkliche Bedrohung. Im Unterschied zu Mubarak gehört Assad zu einer Minoritäts-Sekte. Im Unterschied zu Mubarak hat er eine starke und gut organisierte Partei hinter sich, die eine echte Ideologie hat. Die nationalistische panarabische Ba’ath- („Auferstehungs-“) Partei wurde von dem Christen Michel Aflaq und seinen Kollegen vor allem als Bollwerk gegen die islamistische Ideologie gegründet.

Wie der Sturz Mubaraks würde der Sturz Assads sehr wahrscheinlich zu einem Regime von Islamisten führen, die radikaler als die ägyptischen Muslimbrüder sind. Die syrische Schwesterpartei der Brüder war immer radikaler und gewalttätiger als die ägyptische Mutter-Bewegung - vielleicht weil das syrische Volk seinem Wesen nach viel gewalttätiger veranlagt ist?

Außerdem gehört es zum Wesen eines Bürgerkrieges, dass die extremsten Elemente die Führung übernehmen, weil ihre Kämpfer entschlossener sind und sich eher selbst opfern als andere. Keine noch so große ausländische Hilfe kann die gemäßigte, säkulare Abteilung der syrischen Rebellen so stark unterstützen, dass sie nach Assad die Herrschaft übernehmen könnte. Schon gar nicht, wenn
es freie demokratische Wahlen gäbe, wie die in Ägypten waren.

Von Washington DC aus gesehen, wäre das eine Katastrophe. Wir stehen hier vor einer seltsamen Situation: Obama wird von seiner eigenen Rhetorik angetrieben, Assad anzugreifen, während seine Geheimdienste Überstunden machen, um einen Sieg der Rebellen zu verhindern.

Kürzlich hat jemand geschrieben, es liege in Amerikas Interesse, dass der Bürgerkrieg immer weitergeht, ohne dass eine der beiden Seite gewinnt. Dazu würden so gut wie alle politischen und militärischen Führer in Israel „Amen“ sagen. Vom strategischen Gesichtspunkt der USA aus müsste also jeder Angriff auf Assad sehr klein sein, ein bloßer Nadelstich, der das syrische Regime nicht
gefährden würde. Jemand sagte einmal: Liebe und Politik schaffen seltsame Bettgenossen. Zurzeit ist ein sehr seltsames Mächte-Sortiment am Überleben des Assad-Regimes interessiert: die USA, Russland, der Iran, die Hisbollah und Israel. Aber Obama wird gedrängt, ihn anzugreifen. Armer Obama.

WENN ICH EINMAL versuche, mich in die Gedankenwelt der CIA zu versetzen, dann meine ich, dass aus dieser Perspektive die ägyptische Lösung auch für Syrien die beste wäre. Militärdiktatur für alle Länder in der arabischen Region. Das ist allerdings nicht die Lösung, als deren Schöpfer Barack Obama in die Geschichtsbüchern eingehen möchte. Armer, armer Obama. (PK)


Übersetzung aus dem Englischen: Ingrid von Heiseler

Online-Flyer Nr. 422  vom 04.09.2013

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