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Kultur und Wissen
Buch von Owen Jones über die Dämonisierung der Arbeiterklasse
"Prolls"
Von Ulrich Klinger

Wow, was für ein Buch! Ein Sachbuch, sicherlich, aber geschrieben voller Wut und Engagement. Und dadurch spannend und unterhaltsam, obwohl „informativ“ das bessere Wort wäre. Sie merken schon: Ich will Sie für dieses Buch mit dem etwas sperrigen Titel begeistern. Doch um was handelt es sich hier?
 
Owen Jones beschreibt die Entwicklung in der britischen Gesellschaft. Zeichnet in einem weiten Bogen die Zeit seit Kriegsende, Labour, Maggie Thatcher, New Labour unter Tony Blair, Tory-Regierung unter David Cameron bis in die jüngste Vergangenheit nach. Und verliert nie diejenigen aus der Sicht, welche die Leidtragenden der ganzen verhängnisvollen Entwicklung sind: Die Menschen, die zu den Verlierern gezählt werden, dem Abschaum, den Sozialschmarotzern, kurz auch verächtlich "Prolls“ genannt. Früher nannte man sie mal die Arbeiterklasse. Menschen, die stolz auf ihre Arbeit waren, sich gewerkschaftlich stark engagiert hatten. Sie waren sich ihrer gesellschaftlichen Stärke bewusst, haben zum größten Teil Labour gewählt. Sie wurden nicht reich, aber es reichte zum Leben, sie hatten Arbeit.
 
Heute gibt es diese Menschen nicht mehr. Zumindest nicht in der Form, wie sie hier beschrieben worden sind. Heute sind sie arbeitslos, Geringverdiener, arm, ein großer Bodensatz der Gesellschaft, nicht respektiert, den Gängelungen der Sozialverwaltung ausgeliefert, ein Zerrbild der einstmaligen Stärke. Nutzlos, sinnlos. Leute, die sich auch noch erdreisten, Kinder zu zeugen und so der Gesellschaft durch ihre Nachkommen auch in Zukunft auf der Tasche zu liegen. „Einfache Leute waren an eine gönnerhafte Behandlung gewöhnt, aber nicht an Hohn. Man nannte sie einstmals das "Salz der Erde“. Heute heißen sie Prolls. Vom Salz der Erde zum Abschaum der Welt. Das ist Thatchers Erbe: Die Dämonisierung der Arbeiterklasse“.
 
Dies ist zumindest das Bild, das die Medienwelt von ihnen zeigt, welches die konservative Regierung unter Cameron von ihnen hat und im täglichen Regierungsgeschäft durch eine regressive Arbeits-, Sozial- und Wohnungspolitik in Gesetze gießt.
 
Jones zeichnet diesen Weg der gesellschaftlichen Entwicklung nach. „Die Torys unter Ted Heath waren 1974 von streikenden Bergarbeitern aus dem Amt getrieben worden“. Diese Niederlage steckte Maggie Thatcher in den Knochen. „Ihre Antwort war einer der hinterhältigsten Racheakte der britischen Geschichte. Doch es ging nicht nur um Vergeltung. Die Bergleute waren im gesamten 20. Jahrhundert die Speerspitze der britischen Gewerkschaftsbewegung. … Im Alleingang konnten sie das Land zum Stillstand bringen. … Wer die Bergleute loswird, ist nicht mehr zu stoppen. Daher war die Niederschlagung des Bergarbeiterstreiks der Wendepunkt in der Geschichte der modernen britischen Arbeiterklasse.“ 1984 stellte Thatcher ihre Pläne zur Schließung der Zechen vor, die Streiks begannen, wurden von der berittenen Polizei niedergeknüppelt. Dies war der 16. Juni 1983 in New Yorkshire. Am 3. März 1985, nach einem Jahr des titanischen Kampfes, brach der Streik zusammen. Ursache war sicherlich auch, dass andere Gewerkschaften und vor allem die Labour-Führung diesen Arbeitskampf nicht unterstützten. Ihnen fehlte das Gespür dafür, was sich hier abspielte. Von dieser Niederlage hat sich die Arbeiterbewegung nie wieder erholt. Heute gibt es in Großbritannien fast keinen Bergbau mehr, die verarbeitende Industrie ist größtenteils vernichtet, große – ehemals industrielle – Gebiete sind zu sozialen Randlagen geworden. Ohne gute Jobs, mit Menschen ohne Aussicht auf „normal“ bezahlte Arbeit.
 
Heute spielt Industriepolitik in Großbritannien kaum mehr eine Rolle, die einst so stolze Automobilproduktion hat sich in andere Länder verabschiedet, das Land hängt praktisch am Tropf der Finanzbranche. Und für diese Art von Arbeit wird keine Industriearbeiterschaft benötigt.
 
Für die allein gelassenen Menschen gibt es von den Torys und den Medien nur Verachtung. Sie sind selbst schuld an ihrer Lage, wollten nicht arbeiten usw. Jones geht ausführlich auf die Situation der heutigen Bevölkerung ein, lässt sie in Gesprächen und gezielten Interviews zu Wort kommen, gibt ihnen eine Stimme. Dies ist eindeutig die Stärke des Buches und macht es so lesenswert. Der Proll-Hass wurde in Großbritannien 2004 salonfähig und fand in den Mainstream-Medien Unterstützung. Die Lebensweise der einfachen Leute wird zum Problem hochstilisiert, nicht die ungerechte Struktur der Gesellschaft. Dies ist – so ganz nebenbei eingestreut – ein Vorgehen, was sich auch in unserer bundesrepublikanischen Welt genauso abspielt. Vielleicht etwas feiner gezeichnet, weniger kämpferisch, aber in der Wirkung genauso verheerend.
 
Unter der Überschrift „Der britische Albtraum“ findet der Leser ein besonderes Interview zu der Lage der Menschen. Mrs. Parry lebt in der Nähe von Newcastle, das war einmal der größte Bergarbeiter-Ort der Welt. Dann wurde nach der Niederlage im Streik 1985 nur ein Jahr später die Zeche geschlossen, Tausende wurden arbeitslos, der Ort hat sich nie erholt. Mrs. Parry schildert nun dieses „neue“ Leben, den Zerfall der Gemeinschaft, den Zerfall der Familien, die Hoffnungslosigkeit der Menschen. Geschichten, die normalerweise in der Presse keine Erwähnung finden. Es ist beeindruckend, diese Schilderung der „einfachen“ Frau zu lesen, einer der nicht zu wenigen Höhepunkte in diesem Buch.
 
Und er erzählt die Geschichte der gesellschaftlichen Entwicklung weiter. Schildert die Abkehr von Labour unter Tony Blair als Interessenvertreterin der arbeitenden Bevölkerung hin zu New Labour, ihrem Streben in die Mitte. Dies kommt dem deutschen Leser sehr bekannt vor, denn hier erledigte die SPD zur gleichen Zeit dasselbe „Geschäft“. Das Ziel ist der individualisierte Mensch, der engagiert sein Leben in die Hand nimmt, sich am Profitdenken orientiert und sich selbst als „Mitglied der politischen Mitte“ definiert. „Wir sind jetzt alle Mittelschicht!“ Diese frohe Botschaft ist seit Beginn der 1980er Jahre die Zentralaussage neoliberaler Politik in Europa. Doch sie ist eine Illusion. Der größte Teil der Gesellschaft lebt weiterhin als Arbeiter, weit entfernt von den Verhältnissen einer „Mittelschicht“. Für diesen Rest, den man nicht sehen will, bleiben Arbeitslosigkeit, unterbezahlte Jobs in Einkaufszentren oder – wie in Großbrittanien häufig der Fall – die Arbeit in Callcentern.
 
Diese gesamte gesellschaftliche Umwälzung wird begleitet durch eine Presse, deren Journalisten fast ausschließlich aus Mitgliedern der Upper Class besetzt sind und so schon einen ganz anderen Blick auf die Lebensbedingungen der „normalen“ Menschen haben. Dies alles belegt der Autor ausführlich ebenfalls in Fallschilderungen und Interviews. Es ist frappierend, wie offen und bar jeder sozialer Verantwortung hier die Antworten der Befragten ausfallen.
 
Niemand thematisiert die Rolle, die fehlende Arbeitsplätze, ausreichender Wohnraum, gute Bildungsmöglichkeiten und das Gesundheitswesen spielen. Den sog. Gewinnern dieser Politik geht es gut. Sie setzen die Normen. Sie sind die Oberschicht. Der sog. Mittelschicht geht es auch vergleichsmäßig gut. Aber deren Angehörige leben im ständigen Kampf gegen das Abrutschen in die andere Richtung. Dies verhindert Solidarität.
 
Die anderen, die Prolls stören dieses Bild, diese Einstellung. Deshalb verkündet Cameron auch „seinen Kampf gegen „Sozialbetrug und Förderirrtümer“, die den Steuerzahler angeblich 5,2 Milliarden Pfund kosten. Gerissenerweise sagte er nicht, dass nur 1 Milliarde davon auf Betrug zurückgehen und 4,2 Milliarden auf die Fehler der Verwaltung. Dadurch konnte er eine viel größere Schadensziffer im öffentlichen Bewusstsein verankern.“
 
Der abschließende Teil des Buches ist Lösungsansätzen gewidmet. Es überrascht nicht, dass diese den bekannten Vorschlägen der LINKEN und engagierten - sich aber innerhalb ihrer Partei absolut in der Minderheit befindenden - linken Sozialdemokraten weitestgehend entsprechen. Und es skizziert einen neuen Ansatz der Gewerkschaftsbewegung. Nicht Bewahrung des Gestrigen, nicht hoffen auf mobilisierte, kämpfende Massen, sondern erkennen, dass z. B. Callcenter die neuen Fabriken sind, Ausweitung der gewerkschaftlichen Arbeit in den Dienstleistungssektor, so schwierig und mühsam dies auch ist.
 
„Die Dämonisierung der Arbeiterklasse ist das Triumphgeheul der Reichen, die von unten nicht mehr bedroht sind und sich nun über die Arbeiter lustig machen. Da die konservativ geführte Regierung ihr Kürzungsprogramm durchpeitscht, mit dem die Arbeiterklasse für das Verbrechen der Elite bezahlen muss, haben die Reichen tatsächlich einiges zu lachen.
Aber es kann auch anders kommen. … Der Wahnsinn einer an den Interessen der Bürokraten ausgerichteten Gesellschaft ist mit der durch die Gier der Banken ausgelösten Wirtschaftskrise offensichtlich geworden. Die neue Klassenpolitik wäre immerhin ein Gegengewicht zur unwidersprochenen dominierenden Klassenpolitik der Wohlhabenden. Vielleicht wird dann eine neue Gesellschaft möglich, die sich nicht am privaten Gewinn, sondern an den Bedürfnissen der Menschen orientiert. In der Vergangenheit haben die Arbeiter ihre Interessen solidarisch verteidigt. Sie haben sich Gehör verschafft und die Reichen und Mächtigen zu Zugeständnissen gezwungen. Heute werden sie noch ausgelacht oder ignoriert, aber morgen werden sie es wieder tun.“
 
Mit diesen Zeilen endet Owen Jones. Dem ist nichts hinzuzufügen, außer vielleicht meine Aufforderung an Sie: Unbedingt lesen!!! (PK)

 
Owen Jones: „Prolls – Die Dämonisierung der Arbeiterklasse“
VAT Verlag, geb., 320 Seiten, € 18,90
Weitere Infos unter: http://www.youtube.com/watch?v=BfNKx_UQbvQ
 
Autor Ulrich Klinger betreibt die "Buchhandlung für ausgesuchte Literatur" in der Rochusstraße 93, 50827 Köln-Bickendorf, Tel.: 0221 / 530 46 58
 


Online-Flyer Nr. 399  vom 27.03.2013



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