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Literatur
Sven-André Dreyers neues Buch "Die Luft anhalten bis zum Meer"
Lyrisch anmutende Prosa-Sprache
Von Chrizz B. Reuer

Sven André Dreyer, (soll ich sagen: für mich D E R...) Autor aus Düsseldorf, legt sein neues Buch vor, das den Titel trägt: "DIE LUFT ANHALTEN BIS ZUM MEER". Erschienen ist es im Verlag Michason & May - und das erste, das mir einfällt, nach zweimaliger Lektüre des ganzen Buches, ist: Es lässt mich nicht mehr los. Selten bin ich bei Veröffentlichungen von schreibenden Kollegen so berührt wie bei dieser. Punkt.
 

Der Titel klingt unverdächtig, unprätenziös ist auch der Zusatz "Erzählungen". Dahinter verbergen sich anteilsmäßig...
...drei längere Texte, die vom Volumen her bereits zwei Drittel des ganzen Buches ausmachen. Die Titelstory mit ihren 18 Kapiteln fasst allein ein Drittel... (und gerade sie mit ihrer tragischen Geschichte eines jungen Mannes, Freund des Ich-Erzählers, nimmt mich, den Leser, von Beginn an emotional auf eine beeindruckend echte oder wahrhaftige Weise mit!)...
und...
...sechs kürzere Texte, die jeder für sich auch ebenso prägnant und eindringlich, "auf wenige Worte verdichtet" (Klappentext), - ja, es stimmt - e r z ä h l e n. Doch erscheint mir dieses Verb als Charakterisierung für seine Inhalte entschieden zu harmlos...
 
Im Buch entstehen durch seine (s.o.) Dichte Landschaften aus verschiedenen Zeiten, zumeist rückblickend, und wenn hier jemand "zurück in unseren Kinderhimmel" (S. 45) will, ist dies sowohl abseits von Kitsch und Nostalgie als auch jenseits der so beliebten Literatur des Lifestyles und Zeitgeistes, denn vier Sätze zuvor wird klar: Der dies sagt, dessen Leben ist "fragil an Schläuchen gesichert".
 
Ebenso wird ein Betrag von 17,83 Euro sehr viel, wenn man damit und einem die letzten Tage über gesammelten Proviant in einem alten Koffer vom Dachboden zur Oma "bei den Dünen" fahren kann. Nicht aus einem schönen Rotkäppchen-Gefühl oder glorifizierter Erinnerung heraus, sondern weil die Eltern gerade im Begriffe sich, sich zu trennen.
 
Das Leben im Auf und Ab wird in zu entschlüsselnde Worte gefasst, und durch die Texte zieht sich eine melancholische Grundstimmung. Der Kinderhimmel kann surreal werden, wenn sich eine der beiden Protagonistinnen zum Schluss in "Samstagnachmittagsmädchen" im Sand spielen "verwehen" lässt. Er kann auch zum Sinnbild und das Treiben der Erwachsenen gesamt zum "blöden Spiel" werden, wenn hier zuvor und in einer anderen Erzählung eben nicht "Vater, Mutter, Kind" gespielt werden will: "Man muss das ja nicht machen, heiraten, man kann ja auch allein bleiben" (S. 94).
 
Lapidar gesagt, verbergen sich (ohne zur Handlung allzuviel Weiteres verraten zu wollen) auch hinter Formulierungen wie "Ich bin hier, sage ich. Noch" und "Steuerung X hat nicht funktioniert" existenzielle Not(!) und hinter "Habe damals nie 'Mit freundlichen Grüßen' geschrieben" Abgründe(!).
Zum Formalen sei angedeutet: Durch eine auffällige Trennung der Abschnitte von einander - in der jeder Teil allein viel Raum bekommt - wird direkt nahe gelegt, jeden Teil 'für sich' stehen zu lassen. Beim Innehalten entsteht so eine spezielle N a c h w i r k u n g, und der lyrisch anmutende Charakter der erzählenden Prosa-Sprache wird durch Wiederholungen verstärkt: "Die Mama hat nichts bemerkt, die hat nichts bemerkt, die Mama" / "Ich will nach Hause, nach Hause zurück" / "Pirat als Name und Berufsbezeichnung in Messing auf seinem Briefkasten. Pirat"...
 
Ein weiterer Gesamteindruck: Besondere Menschen erstehen in Sven-André Dreyers Geschichten auf. Es wird ihnen ein Denkmal gesetzt. Die vorangestellte Widmung lässt im Kopf des Lesers mögliche biografische Bezüge als Bilder zu, und man kann, wenn man möchte (nicht zwingend), in dem über die Schulter getragenen Beil... auf dem Backcover-Foto... den Nachlass aus der Tasche des Kameraden sehen... ...
 
Ein wie-auch-immer-wohliges GruselGefühl entsteht nicht. Vielmehr auch hier beklemmende Wahrhaftigkeit, denn "er war nach 37 Stunden im Meer" (aus der Titel-Story "Die Luft anhalten bis zum Meer")...
 
Zuletzt: Es gibt innerhalb des knapp 100seitigen Buches kein Füllmaterial. Jede Erzählung (verbal als Genre eine Untertreibung, siehe Anfangs-Bemerkung) ist gleich wichtig und meisterlich.
 
Dies ist mein Eindruck, und wer jetzt Lust bekommen hat, nach allen Andeutungen, das Buch zu lesen, dem sei es wärmstens empfohlen.
Ausrufezeichen! (PK)
 
SVEN-ANDRÉ DREYER: DIE LUFT ANHALTEN BIS ZUM MEER. ERZÄHLUNGEN. Michason & May Verlag. Frankfurt am Main 2012.
ISBN 978-3-86286-015-9 
 


Online-Flyer Nr. 394  vom 20.02.2013



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