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Inland
Auch SPD und Grüne für Patriot-Raketen in der Türkei gegen Syrien
Auf dem Weg in den nächsten Krieg
Von Hans Georg

Begleitet von einer NATO-Debatte über eine mögliche Kriegsintervention in Syrien stimmte der Bundestag am Freitag mit Ausnahme der 76 Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE und weiteren 10 Abgeordneten anderer Parteien mit großer Mehrheit für die Stationierung von bis zu 400 deutschen Soldaten an der syrisch-türkischen Grenze ab. Die Militärs sollen dort Patriot-Batterien bedienen, die mit modernsten Radaranlagen ausgestattet sind; darüber hinaus sollen sie in Awacs-Überwachungsflugzeugen eingesetzt werden. Den dabei gewonnenen Erkenntnissen käme beträchtliche Bedeutung zu, sollte die NATO angesichts der raschen Positionsgewinne antiwestlich-islamistischer Milizen sich zu eigenen Operationen in Syrien entschließen.

Außenminister Westerwelle vor einigen Monaten noch zu Besuch bei Syriens Staatschef Assad
NRhZ-Archiv
 
Einstweilen haben die Bundesrepublik sowie ihre westlichen Verbündeten die Unterstützung für den neuen Oppositions-Zusammenschluss ausgeweitet, der unlängst in Qatar gebildet wurde und seit Ende vorletzter Woche über einen eigenen militärischen Arm verfügt. Über die Frage, ob es ausreicht, letzteren zu stärken, oder ob Luft- und Seestreitkräfte der NATO wie in Libyen eingreifen müssen, um Assad zu stürzen, herrscht noch Uneinigkeit. Vom deutschen Außenminister Westerwelle heißt es, er habe darauf gedrungen, nicht vor der Patriot-Entscheidung im Bundestag öffentlich über eventuelle Kriegshandlungen zu spekulieren. Dies erleichterte SPD und Grünen offenbar die Zustimmung und ermöglichte so einen breiten parlamentarischen Konsens über den Bundeswehr-Einsatz.
 
An der Grenze zu Syrien
 
Die bis zu 400 deutschen Militärs sollen dort zwei Patriot-Batterien modernsten Typs (PAC-3) bedienen sowie in Awacs-Überwachungsflugzeugen der NATO eingesetzt werden. Die Patriot-Batterien sollen von ihrem Stationierungsort aus die südtürkische Großstadt Kahramanmaraş (gut 400.000 Einwohner) vor syrischen Raketen schützen. Damit käme ein Ort in größtmöglicher Nähe zur gegenwärtig hart umkämpften syrischen Großstadt Aleppo in Frage. Wie es heißt, wird die Bundeswehr bereits in den kommenden Wochen mit der Stationierung beginnen. Parallel verlegen die Niederlande (zum Schutz von Adana) und die Vereinigten Staaten (zum Schutz von Malatya) Patriot-Systeme.[1] Einsatzbereitschaft sei spätestens Anfang Februar angestrebt.
 
Genauso verkommen wie das Regime
 
Die Entsendung deutscher Soldaten wurde zu einem Zeitpunkt beschlossen, da die Entwicklung in Syrien für den Westen bedenkliche Züge annahm. Abgesehen davon, dass eine Entscheidung über den Sieg im Bürgerkrieg nach wie vor nicht in Sicht ist, nimmt der Unmut über die Aufständischen inzwischen auch in denjenigen Teilen der Bevölkerung zu, die die Rebellion ursprünglich getragen hatten. Schlecht geplante Aktionen, die der Zivilbevölkerung schweren Schaden zufügten, sinnlose Zerstörungswut, kriminelles Vorgehen und kaltblütige Morde an Gefangenen kosteten die Rebellen mittlerweile immer mehr Sympathie, berichtete schon letzten Monat die US-Presse.[2] Viele Syrer hielten die Aufständischen inzwischen für ebenso verkommen wie das Regime, das sie bekämpften - und entzögen ihnen die in einem Bürgerkrieg durchaus wichtige Unterstützung. Massaker haben zahlreiche Syrer zusätzlich gegen sie aufgebracht. Erst am Mittwoch vergangenener Woche berichteten Medien, in dem von Alawiten bewohnten Dorf Akrab in der Provinz Hama habe es eine Reihe Explosionen gegeben, bei denen mehrere Häuser zerstört und über 120 Menschen getötet oder verletzt worden seien. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London, die gewöhnlich als Beleg für Gewalttaten der staatlichen Repressionskräfte zitiert wird, vertritt die Meinung, die Anschläge gingen wohl auf das Konto der Rebellen.[3]
 
"Wir sind alle Al Nusra"
 
Hinzu kommt, dass antiwestlich-islamistische Milizen wie die berüchtigte Al Nusra-Front immer stärkeren Einfluss gewinnen. Die - absehbare [4] - Entwicklung hat kürzlich ebenfalls die US-Presse beschrieben. Demnach profitieren diejenigen Milizen, die Kontakte zu Netzwerken wie Al Qaida unterhalten, davon, dass sie wenigstens teilweise über Kampferfahrung und einen eigenen Zugang zu Waffen und Sprengstoff verfügen. Dies sichert ihnen auf die Dauer größere Erfolge als anderen Milizen - und eine herausragende Stellung unter den Aufständischen. Ihr stetig wachsender Einfluss - noch gestärkt dadurch, dass wichtige Verbündete des Westens wie Saudi-Arabien und Qatar vorzugsweise islamistische Milizen mit Waffen beliefern - bewirkt den Berichten zufolge auch, dass eine zunehmende Zahl von Freischärlern Alltagspraktiken der Islamisten übernimmt und auch sonst deren Anhängerschaft größer wird. Washington hat die Al Nusra-Front inzwischen als "terroristische Organisation" eingestuft - ein Schritt, dessen Nutzen von Beobachtern bezweifelt wird. "Nein zur US-Intervention, wir sind alle Al Nusra", hieß es unlängst auf Transparenten bei Demonstrationen in mehreren syrischen Städten.[5] Die Miliz hat unlängst laut übereinstimmenden Berichten sowohl der syrischen Regierung als auch von Aufständischen eine Produktionsstätte für Chlorgas im Osten Aleppos erobert. Auch soll sie mittlerweile im Besitz von Flugabwehrraketen sein.[6] Der syrische Bürgerkrieg gerät damit immer mehr außer Kontrolle.
 
Vom Westen anerkannt
 
Angesichts des Desasters, in das die vom Westen unterstützte Aufrüstung der Rebellen inzwischen geführt hat, ist in der NATO ein Streit entbrannt, ob es ausreicht, weiterhin nur die Aufständischen zu stärken, oder ob ergänzend westliche Streitkräfte eingreifen sollen. Dass die Hilfen für die aufständischen Milizen intensiviert werden, gilt als sicher. Im türkischen Antalya ist bereits ein neuer Supreme Military Council gegründet worden, der aus 30 Milizenkommandeuren besteht. Er ersetzt die ebenfalls in der Türkei in Abstimmung mit dem Westen gegründete Führungsstruktur der Free Syrian Army, die es nicht geschafft hat, die völlig disparaten syrischen Milizen zu einigen. Laut Medienberichten nahmen an dem Gründungstreffen des Supreme Military Council drei CIA-Mitarbeiter und Vertreter Großbritanniens und Frankreichs teil; es sei, heißt es, die Lieferung neuer Waffen zugesagt worden. Dazu würden vor allem Qatar, aber auch Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, die Türkei und Jordanien beitragen.[7] Ergänzend hat der Westen gemeinsam mit den Golfdiktaturen kürzlich eine neue Oppositionsstruktur kreiert, die mittlerweile von der EU (Deutschland inklusive), den Vereinigten Staaten und den Golfdiktaturen als "legitime Vertretung der syrischen Bevölkerung" anerkannt worden ist und eine Gegenregierung bilden soll. Sie ersetzt ebenfalls einen bisherigen Kooperationspartner des Westens, den Syrian National Council, der sich als weitgehend unfähig und einflusslos erwiesen hat. Auch in der neuen zivilen Oppositionsstruktur ("Nationale Koalition der revolutionären und oppositionellen Kräfte") bleibt ein relevanter islamistischer Einfluss gewahrt (german-foreign-policy.com berichtete [8]) - ganz wie in der neuen Militärstruktur, deren Kommandeure zu mehr als 60 Prozent dem Milieu der Muslimbruderschaft nahestehen sollen.
 
Tarnung für die Intervention
 
Während Frankreich noch vor kurzem erklärt hatte, dass es einen NATO-Einsatz noch skeptisch sehe und vorerst eine weitere Aufrüstung der Aufständischen favorisiert, sprachen sich die USA und Großbritannien laut Berichten dafür aus, militärische Schritte vorzubereiten, um neue Erfolge antiwestlich-islamistischer Milizen wie der Al Nusra-Front zu verhindern und kooperationsbereite Kräfte an der Spitze des Aufstands zu platzieren. Der deutsche Außenminister, heißt es, habe sich vor allem erbost darüber gezeigt, dass die neue Kriegsdebatte noch vor der Freitags-Abstimmung im Bundestag an die Öffentlichkeit gedrungen sei; dies erschwere es der SPD und Bündnis 90/Die Grünen, dem Einsatz zuzustimmen: Die zwei Parteien müssten ihre Restklientel in der Anti-Kriegs-Bewegung einbinden und daher gewisse Rücksichten nehmen.[9] Einem britischen Medienbericht zufolge waren von einigen Staaten - genannt wurden unter anderem die USA, Großbritannien, Qatar und Saudi-Arabien - bereits vor Wochen detailliertere Interventionspläne besprochen worden. Wie es heißt, sähen sie zusätzlich zur militärischen Ausbildung aufständischer Milizen Luftschläge und Unterstützung durch Marineeinheiten vor - alles ohne Legitimation durch den UNO-Sicherheitsrat. Auch die Stationierung der Patriot-Raketen, die der Bundestag am Freitag beschlossen hat, fand dem Bericht zufolge in den Interventionsplänen Erwähnung: Die Behauptung, es gehe darum, türkisches Hoheitsgebiet gegen fiktive syrische Luft- oder Raketenangriffe zu verteidigen, die weder von Damaskus angedroht wurden noch im Interesse Syriens liegen, sei "in Wirklichkeit" nichts anderes, heißt es, als "Tarnung für die Intervention".[10] (PK)
 
 [1] Deutsche "Patriot"-Systeme sollen türkische Großstadt schützen; www.spiegel.de
12.12.2012
[2] Missteps by Rebels Erode Their Support Among Syrians; www.nytimes.com
08.11.2012
[3] Zahlreiche Menschen in syrischem Dorf getötet; www.zeit.de
12.12.2012
[4] s. dazu Die Islamisierung der Rebellion
[5] Syrian Rebels Tied to Al Qaeda Play Key Role in War; www.nytimes.com
 08.12.2012
[6] Al-Qaida-Verbündete verfügen offenbar über chemische Waffen; www.faz.net
 09.12.2012
[7] Rebel Groups in Syria Make Framework for Military; www.nytimes.com
 07.12.2012
[8] s. dazu Flugabwehr für die Exilführung
[9] Syrie: l'OTAN divisée sur la menace chimique; Le Monde 11.12.2012
[10] Exclusive: UK military in talks to help Syria rebels; www.independent.co.uk
11.12.2012 top print
 
Diesen Artikel unter
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58490
haben wir nach der Abstimmung im Bundestag etwas aktualisiert übernommen.


Online-Flyer Nr. 385  vom 19.12.2012

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