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Literatur
Auszug aus dem Roman "Hellers allmähliche Heimkehr" – Teil IV
Pazifist – schon fast ein Schimpfwort
Von Wolfgang Bittner

Nach 25 Jahren kehrt Martin Heller als Chefredakteur der Lokalzeitung in die norddeutsche Kleinstadt zurück, in der er aufgewachsen ist. Schon bald gewöhnt er sich ein, alte Freundschaften leben wieder auf, er findet eine neue Liebe. Doch neben der vermeintlichen Normalität zeichnet sich eine andere Wirklichkeit ab: Ein dichter Filz aus Korruption, Beziehungen und Abhängigkeiten versteckt sich hinter gutbürgerlicher Fassade, eine rechtsradikale Kameradschaft hat erstaunliche Macht und wird gedeckt, der Herausgeber und Eigentümer der Zeitung und andere Größen der Stadt sind in die Machenschaften verstrickt. Martin Heller geht gegen den Filz vor, auch wenn das ein hohes Risiko für ihn und sein direktes Umfeld bedeutet. Ein spannender Roman über Vetternwirtschaft und Intrigen, über Mut und Scheitern, über Liebe und Freundschaft und über den ganz normalen politischen Wahnsinn in unserem Land. 
 
Petersen hatte die Spätschicht übernommen und Heller verließ die Redaktion bereits kurz nach fünf. Er verspürte plötzlich das Bedürfnis, die Gräber seiner Eltern zu sehen. Auf dem Weg zum Friedhof fuhr er bei einem Blumengeschäft vorbei und kaufte, nachdem er sich beraten hatte, eine Hortensie; sie sei „winterhart“ wurde gesagt. Die Grabstelle fand er schnell wieder, sie lag unter Kiefern im hinteren Teil des Friedhofs. Nach dem Tod der Mutter hatte er einen Gärtner mit der Pflege beauftragt, das Grab war in gutem Zustand. Er pflanzte die Hortensie zwischen Efeu und Buchsbaum vor den Stein. Dann säuberte er seine Hände an einem Wasserhahn in der Nähe und setzte sich auf eine Bank.
 
Kein leichtes Leben, dachte er, sie haben es schwer gehabt. Wieder ging ihm der Spruch durch den Kopf: „Wer nichts erheirat‘ und nichts ererbt, bleibt ein armes Luder bis er sterbt.“ Die Eltern seines Vaters wie auch die seiner Mutter hatten nichts Bedeutendes besessen, was sie hätten vererben können. Sie waren 1945 aus ihrer angestammten Heimat im Osten des ehemaligen Deutschen Reiches vertrieben worden. Dass sie aufgrund ihrer Erlebnisse traumatisiert waren, war ihm erst nach ihrem Tod bewusst geworden. Der Großvater väterlicherseits hatte im Alter manchmal von der Nazizeit und seinen Kriegserfahrungen in Russland erzählt. Bei einer Stadt namens Woronesch an einem Fluss namens Don war er 1943 in russische Gefangenschaft geraten und erst mehrere Jahre nach Kriegsende nach Deutschland zurückgekehrt. Die Arbeit in einem Bergwerk am Ural hatte ihn körperlich und wohl auch seelisch ruiniert. Obwohl er eine Kriegsverletzung und ein Lungenleiden davongetragen hatte, war ihm keine Rente zugebilligt worden. Nach langer Arbeitslosigkeit hatte er schließlich wieder eine schlecht bezahlte Arbeit in seinem erlernten Beruf als Schreiner gefunden. „Warum haben die Deutschen damals Russland angegriffen?“, hatte Heller seinen Großvater einmal gefragt. „Hitler, dieser Verbrecher, wollte ‚Lebensraum im Osten‘ für seine arische Rasse erobern“, hatte der Großvater geantwortet. „Russen waren für die Nazis Untermenschen, Kommunisten waren Ungeziefer, das man vernichten musste.“ Und er hatte hinzugesetzt: „Ich fühle mich irgendwie mitschuldig an dieser schrecklichen Katastrophe. Ich war zwar nicht in der NSDAP, aber 1933 habe ich Hitler gewählt. Du musst dazu wissen, dass nach dem Ersten Weltkrieg das Ruhrgebiet von den Franzosen besetzt war und uns der wichtigste Teil des oberschlesischen Industriegebiets von Polen abgenommen worden war. Außerdem musste Deutschland diese ungeheuren Reparationen zahlen. Den meisten Menschen ging es nicht gut, Millionen waren arbeitslos. Deswegen sind viele auf Hitler reingefallen – auch ich –, denn er versprach allen Arbeit und eine ruhmreiche Zukunft, und er nutzte die bedrückte Stimmung in der Bevölkerung, die sich gedemütigt fühlte, für seine Zwecke.“
 
Der Großvater war schon in den neunzehnhundertachtziger Jahren gestorben und die Großmutter war ihm kurz darauf gefolgt. Ihre Gräber gab es nicht mehr, sie waren eingeebnet, und in einigen Jahren würde es auch die Gräber seiner Eltern nicht mehr geben. Die Großeltern waren durch den Krieg ruiniert worden, die Eltern hatten noch jahrzehntelang unter den Folgen des Krieges gelitten. Sechs Millionen Tote in Deutschland, siebenundzwanzig Millionen in Russland, das war ein Teil der Bilanz. Aber die Kriege gingen weiter, sogar noch im einundzwanzigsten Jahrhundert. Seine Großeltern waren Pazifisten geworden, bei seinen Eltern hatte sich diese Einstellung schon verflüchtigt. Jetzt war eine Generation nachgewachsen, die von den Gräueln des Krieges nichts mehr wusste, und für manche war die Bezeichnung „Pazifist“ inzwischen schon ein Schimpfwort.
 
Er ging zurück zum Auto und fuhr in die Siedlung, in der er einmal zu Hause war. Warum er das tat, war ihm selber nicht klar. Nachdem er zweimal an dem Haus, in dem er geboren wurde und aufgewachsen war, vorbeifuhr, hielt er in einiger Entfernung auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Hier sah ein Haus wie das andere aus. Allerdings hatte sein Vater einen kleinen Vorbau als Windfang anbringen lassen und hinten eine Terrasse angelegt. Die Bäume im Garten, die er noch in Erinnerung hatte, waren sehr groß geworden: Eine Süßkirsche, der Birnbaum und weiter hinten zwei Zwetschgenbäume. Die Apfelbäume hatte der neue Eigentümer entfernt, die Ligusterhecke zur Straße hin durch einen Jägerzaun ersetzt. Die Familienknäste hinter den Jägerzäunen – das kam ihm in den Sinn. Seine Schwester und er mussten, bis sie schon Sechzehn waren, spätestens um acht Uhr pünktlich zu Hause sein, sonst gab es Theater.
 
Jetzt stieg er doch aus und betrachtete den Giebel. Sie hatten jeder ein eigenes Zimmer gehabt, seine Schwester und er. Das war den Eltern hoch anzurechnen, fand er. Das Haus hatte ohnehin nur vier Zimmer gehabt: Wohnzimmer, Elternschlafzimmer, die beiden Kinderzimmer, dazu Küche, Bad und im Garten ein Gerätehäuschen. Er schaute zu dem Fenster hinauf, hinter dem sein Zimmer gelegen hatte, eine Mansarde mit einer schrägen Wand, unter der das Bett stand. Die Zimmer waren klein, sie mussten ja im Winter beheizt werden, und Heizöl war teuer.
 
Am liebsten hätte er geklingelt und darum gebeten, sich das Haus im heutigen Zustand anschauen zu dürfen. Er ging ein paar Schritte auf den Eingang zu, doch dann behielt das Gefühl von Peinlichkeit die Oberhand und er setzte sich wieder ins Auto. Musste daran denken, wie die Eltern jeden Monat gerechnet hatten, damit sie die Zinsen für die Hypothek zusammenbrachten. Sie hatten die Hypothek in einer Hochzinsphase aufgenommen und bis an ihr Lebensende weiterhin die hohen Zinsen gezahlt. Die Sparkasse hatte sie nicht darauf aufmerksam gemacht, dass sie nach Ablauf einer mehrjährigen Festschreibung einen günstigeren Zins hätten aushandeln können. Sie hatten jahrzehntelang einen zu hohen Abtrag bezahlt, und zuletzt war noch eine Restschuld übrig geblieben, die beim Verkauf des Hauses beglichen werden musste. Heller erinnerte sich an das Gespräch mit dem Sachbearbeiter der Sparkasse und wie der nur mit den Schultern gezuckt hatte.
 
Sie hatten keine Ahnung, dachte er, sie waren naiv und unbedarft, anständige Menschen zwar, aber immer Opfer. Wie viele. In allem. Obwohl sein Vater der Meinung war, er blicke durch. Dieser Durchblick beschränkte sich dann aufs Schimpfen und Schwadronieren am heimischen Mittags- und Abendbrotstisch. Die Politiker, die Manager, die Banker, der Chef … Nach seiner Meinung war Politik ein schmutziges Geschäft. Das war ja auch nicht ganz falsch. Aber es lag vor allem daran, so dachte Heller, dass Leute wie sein Vater jemanden wie Berkemeier oder Hertenstein in Parlamente wählten, und sei es in den Stadtrat. Das war die Tragödie der Demokratie. (PK)
 
Aus: Wolfgang Bittner, "Hellers allmähliche Heimkehr“, Roman, VAT Verlag André Thiele, Mainz 2012, 241 Seiten, 19,90 €.
 
Einladung:
Wolfgang Bittner liest aus "Hellers allmähliche Heimkehr" am Montag, 3. Dez. 2012 um 20.00 Uhr im Club Voltaire München, Fraunhoferstr. 9, Rückgebäude im Fraunhofer Theater
 

Wolfgang Bittner
NRhZ-Archiv
Wolfgang Bittner, geboren 1941 in Gleiwitz, aufgewachsen in Ostfriesland, ist promovierter Jurist; er arbeite in verschiedenen Berufen, u.a. als Rechtsanwalt und Verwaltungsbeamter. Ausgedehnte Reisen führten ihn nach Vorderasien, Mexiko, Kanada und Neuseeland. Seine Werke wurden in viele Sprachen übersetzt und er erhielt mehrere Preise. Von 1996 bis 1998 wurde Bittner in den Rundfunkrat des WDR berufen. Er übernahm Lehrtätigkeiten im In- und Ausland, darunter mehrere Gastprofessuren in Polen. Er ist Mitglied im PEN und im Verband deutscher Schriftsteller, dessen Bundesvorstand er von 1997 bis 2001 angehörte. Bittner ist freier Mitarbeiter für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften und er hat mehr als 60 Bücher für Erwachsene, Jugendliche und Kinder veröffentlicht, darunter die Romane „Schattenriss oder Die Kur in Bad Schönenborn“, „Der Aufsteiger“ und „Flucht nach Kanada“ sowie das Sachbuch „Beruf: Schriftsteller“. – Weitere Informationen unter www.wolfgangbittner.de

Online-Flyer Nr. 382  vom 28.11.2012



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