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Kultur und Wissen
Über den Wandel zu einer postnationalen Erinnerungskultur in Europa
„Der Grenzraum als Erinnerungsort“
Buchtipp von Harry Popow

Geburtsort, Wohnort, Arbeitsort, Urlaubsort, Lieblingsort – der Mensch hat viele Orte, an die er denken mag, wenn er sich erinnert. Je nachdem, welchen Einfluß sie auf das Denken und Fühlen haben oder hatten. In der Regel bewegen sie sich im nationalen Rahmen. Mit allen schlechten und auch guten Erinnerungen.
 
Das hat sich in der heutigen Zeit des 21. Jahrhunderts vielfach geändert. In Europa zum Beispiel. Es will größer werden. Es läßt den Blick über die Grenzen – die eigentlich keine mehr sind – hinausschwirren in das Größere, in das Mächtigere. Und da stößt der einzelne Mensch auf den Nachbarn, auf andere Gewohnheiten, Mentalitäten, auf andere persönliche Erinnerungen – das vor allem. Mit ihnen kann er sich anfreunden oder es auch sein lassen. Auf jeden Fall ist Toleranz angebracht. Das Nachdenken über noch Trennen- des und über das Gemeinsame. Man spricht davon, dass eine „postnationale Erinnerungskultur“ notwendig wäre – im Interesse eines geeinten Europa.
 
Was ergibt sich daraus für die Menschen in den einzelnen Ländern, vor allem jenen, die naturgemäß einen sehr engen Kontakt zum Nachbarland haben? Patrick Ostermann, Claudia Müller und Karl-Siegbert Rehberg haben dazu ein Buch mit dem vielsagenden Titel „Der Grenzraum als Erinnerungsort. Über den Wandel zu einer postnationalen Erinnerungskultur in Europa“ herausgegeben.
 
In vier Kapiteln werden Aspekte „zur Konjunktur nationaler Geschichtskonstruktionen“ gekennzeichnet, es geht um „neue Formen und Funktionen der Lern- und Geschichtsorte im Grenzraum von Trentino – Südtirol“; sodann wird „der schwierige Wandlungsprozess der Erinnerungskultur von einer nationalistischen zu einer pluralen Perspektive im italienisch-slowenischen Grenzraum“ beleuchtet. Nicht zuletzt wird mit „Agenturen der Vergegenwärtigung“ die Funktion der Geschichtsmuseen und Gedenkorte als Stätten historischen Lernens beschrieben.
 
In der Einleitung wird darauf verwiesen, dass das Ende des Kalten Krieges nicht etwa für die Aufhebung der Grenzen schlechthin, „sondern vielmehr für deren Neufestlegung“ sorgte. Umso dringlicher sei es, sie näher zu untersuchen. Auf Seite 14 heißt es dazu: „In einem zusammenwachsenden Europa verlieren Staatsgrenzen an ihrer sicherheitspolitischen Relevanz. Heute werden ihre Linien und Demarkationspunkte vielmehr zu Orten der Erinnerung vergangener Kriege und nationaler Selbstbehauptungsbestrebungen.“ Jedoch gelte für alle Grenzräume, „dass sie Kontakt- und Transferräume sind, in denen die aufeinandertreffenden Kulturen und Nationen mit ihren jeweiligen Geschichtserzählungen nach wie vor um die Deutungshoheit kämpfen.“ (S. 17)
 
Als Orte der grenznahen Erinnerungen werden u.a. Bozen, Trient, Triest, Orte im Elsass und andere angeführt. Um nur ein Beispiel einer konfliktbeladenen Auseinandersetzung zu benennen: Die „Autonome Provinz Bozen-Südtirol“, die nördlichste Provinz Italiens, sei ein kleines, widersprüchliches, „zugleich exzelentes Zentrum europäischer Gedächtnis-Stadien“, so Hans Heiss. (S. 67) Der Stadt und ihren Bürgern sei es bis heute nicht gelungen, sowohl den Nationalismus als auch den faschistischen Imperialismus als Erfahrungsräume sichtbar und nutzbar zu machen. Angeführt wird der Streit um die Umbenennung des Siegesplatzes in „Friedensplatz“, was letztendlich nicht gelungen war. Interessant in diesem Zusammenhang: „Es gab keine professionale Werbekampagne, keinerlei Informationsmaterial, (…), auch keine (…) historische Aufklärung über die Hintergründe von Platz und Denkmal“, so der Autor. Er bezeichnet dies als einen „beeindruckenden Dilettantismus der ´Wohlgesinnten´, die das gute Argument allein schon für ausreichend hielten…“ (S. 69)
 
Ein Kapitel wird der Erinnerungskultur im italienisch-slowenischen Grenzraum gewidmet. Italien maß den ethnischen Minderheiten im Staat wenig Bedeutung zu. In Bezug auf das Kriegsgedenken wurde die Erinnerung an die Gefallenen lediglich mit „Unbekannter Soldat“ bezeichnet. In einem anderen Beitrag dieses Buches schreibt die Autorin Christiane Liermann: „Schaut man auf die (…) politische Kultur in Italien und allgemein auf die italienische Gesellschaft, scheint es, als besitze Geschichte keine dominante Bedeutung als Motor einer (…) ´kollektiven Identität´ mehr.“ (S. 43)
 
In zahlreichen Fallbeispielen, die hier nicht alle benannt werden können, analysieren die Autoren die Bedeutung von Geschichtsmuseen und Gedenkorten – besonders in Grenzregionen –, indem sie konträre nationale Ansprüche und ihre geschichtliche Deutung darstellen und dabei Völkerverbindendes in den Mittelpunkt rücken. Es geht dabei um Denkmäler, Plätze, Straßennamen, Friedhöfe, Städte und vor allem Museen. Hervorzuheben sind dabei die Probleme, die die Autoren bei der weiteren Bildungs- und Erinnerungsarbeit sehen.
 
So nimmt Patrick Ostermann die Doppelfunktion des Rassenbegriffs für die italienische Außenpolitik unter die Lupe. Er legitimierte einerseits den Führungsanspruch der beiden ´arischen´ Nationen Italien und Deutschland sowie andererseits den italienischen Führungsanspruch innerhalb der ´Neuen Ordnung Europas´ gegenüber Deutschland. Luigi Cajani kritisiert, dass bis Ende der 1990er Jahre Kriegsverbrechen der Italiener nicht in den Schulbüchern erwähnt und Eingriffe der Politik in die Geschichtsschreibung vorgenommen wurden. Francesco Fait schreibt in Bezug auf Triest von einer starken Präsenz von Gedenktafeln, Feierlichkeiten, Ausstellungen, Führungen und Publikationen, gibt allerdings zu bedenken: Das führe jedoch dazu, sich „dem Dialog mit der Zeit zu entziehen und ihn dauerhaft gleichsam in Bernstein einzuschließen.“ (S. 175) Kurz: Die Geschichtsmanifestationen sollten einen Bezug zur Gegenwart und zur Zukunft herstellen. Zur Arbeit an Gedenkstätten und in Museen meint Alfons Kenkmann, sie sollten vor allem Orientierungsangebote für die Zukunft anbieten. An anderer Stelle mahnt Bert Pampel, Gedenkstätten mögen „Raum für Gespräch und Austausch“ bieten.
 
Augenfällig in nahezu allen Beiträgen: Die Kritik der Autoren an Erscheinungen in der Politik und in manipulierten Medien: Die Terminologie der Verharmlosung faschistischer Verbrechen, die Technik der Verschleierung, der Personalisierung, der Ausblendungen, der „Vermenschlichung“ (z.B. Mussolinis), der Entzeitlichung historischer Vorgänge, des Verschweigens, der Reduzierung auf Details, der Verengung, zum Beispiel auf nur eigene Opfer, der Beschönigungen, der Oberflächlichkeit usw. Nicht zu vergessen die absurde und dumme Einteilung von Geschichte und Nationen in Gut und Böse.
 
Dies alles verurteilen die Autoren. Nicht ohne Grund. Denn die Taktik der Massenverdummung ist noch nicht aus der Welt. Sind wir doch alle – auch die Autoren dieses Buches – im System der antagonistischen Widersprüche verstrickt. Nach wie vor. Wer denkt da u.a. nicht an verfälschte Aussagen über die Geschichte der DDR, an Reduzierungen auf die Opfer der Stasi u.a.m. In diesem Zusammenhang ein Zitat von Seite 194/195. Da berichtet der Autor von einer Umfrage unter Schülern, die die Gedenkstätte Bautzen (Haftanstalt) besucht hatten. „Dabei stellte sich heraus, dass die konkreten Einsichten über das Unrecht in Bautzen zwar nicht zum vollständigen Bereinigen des DDR-Gesamtbildes von verklärenden Aspekten (weniger Kriminalität, keine Arbeitslosigkeit, niedrigere Mieten, stärkerer gesellschaftlicher Zusammenhalt) führten.“ Bautzen wird höher bewertet als das gesamte Leben in der DDR? Das Leben als verklärende Aspekte? Da muß man sich doch fragen: Wer oder was hat hier die Hand im Spiel zu dieser unwissenschaftlichen, unhistorischen und nur aufs Einzelne reduzierten Falschaussage?
 
Der Mensch und seine Orte. Es ist sehr dringlich, die Erinnerungskultur zur Kultur des Umgangs miteinander machen zu wollen. Befinden sich die Menschen doch nach wie vor im Taumel zwischen Wahrheitsstreben und vernebelnder Politik. Insofern sind die Beiträge zu Grenzräumen als Erinnerungsorte für Denkanstöße für die Regierenden eine Aufforderung, aus dem Dilemma eines strauchelnden Europa herauszufinden, ja, neue Wege zu finden, um vor allem die menschlichen, die sozialen Aspekte für eine friedvolle Zukunft abzustecken. Die aber werden im Interesse der Machterhaltung des Kapitals in den Wind geschlagen, ja, bekämpft. Postnationale Erinnerungskultur im Interesse eines geeinten Europa? Es erübrigt sich die Frage, wessen Europa das wohl sein soll. Patrick Ostermann schreibt in seiner Schlussbetrachtung auf Seite 248: „Die Europäische Union, so der spanische Schriftsteller und Überlebende des KZs Buchenwald, könne nur gelingen, wenn die Erinnerungen miteinander geteilt und vereinigt würden.“ (PK)
 
Die Autoren: Prof. Dr. Arand, Tobias; M.A. Bunnenberg, Christian; Prof. Cajani, Luigi; dott. Fait, Francesco; Dr. phil. habil. Heiss, Hans; Prof. Dr. Kenkmann, Alfons; Dozent. Dr. Klabjan, Borut; Dr. Liepach, Martin; Dr. Liermann, Christiane; Dipl.-Soz. Müller, Claudia; Dr. Obermair, Hannes; Dr. M.A. Ostermann, Patrick; Dr. Pampel, Bert; Prof. Pirjevec, Joze; dott.ssa. Pisetti, Anna; Prof. Dr. Rehberg, Karl-Siegbert; Prof. Zadra, Camillo;
Patrick Ostermann (Hrsg.): "Der Grenzraum als Erinnerungsort. Über den Wandel zu einer postnationalen Erinnerungskultur in Europa." Transcript-Verlag (Bielefeld) 2012. 253 Seiten. ISBN 978-3-8376-2066-5. D: 29,80 EUR, A: 30,70 EUR.
 
Erstveröffentlichung in der Neuen Rheinischen Zeitung
 


Online-Flyer Nr. 381  vom 21.11.2012

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