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Aktueller Online-Flyer vom 25. April 2024  

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Inland
Freie Meinungsäußerung in der Öffentlichkeit verboten?
Türkische Verhältnisse in Berlin
Von Martin Dolzer

Anfang vergangener Woche stand in Berlin ein junger Mann vor Gericht. Er hatte auf der Newroz-Demonstration zum kurdischen Neujahrsfest im März in Berlin in einem Redebeitrag über die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei auch Forderungen und Parolen der kurdischen Bevölkerung zitiert. Daraufhin klagte ihn die Staatsanwaltschaft vor dem Staatsschutzsenat des Landgerichts Berlin wegen eines angeblichen Verstosses gegen das Vereinsgesetz an.

Newroz-Feier in Berlin-Kreuzberg
Quelle: http://arab.blogsport.de/
 
„Es handelt sich bei diesem Verfahren um den Versuch der Einschränkung des im Grundgesetz verankerten Rechts auf freie Meinungsäußerung. Die Vorwürfe gegen mich stehen symptomatisch für den Umgang der europäischen und insbesondere der deutschen Öffentlichkeit mit der kurdischen Frage. Ich bin angeklagt, weil ich darüber berichtet habe, was derzeit in den kurdischen Gebieten in der Türkei geschieht“, so der Beschuldigte Michael K., der Mitte zwanzig ist. Newroz, das kurdische Neujahrsfest, wird jedes Jahr am 21. März und den darum liegenden Tagen gefeiert und ist für die Kurden gleichzeitig das Symbol von jahrhundertelangem Widerstand gegen feudale und koloniale Unterdrückung und Ausbeutung.
 
Beim diesjährigen Newroz-Fest provozierte die türkische Regierung durch ein Verbot ganz bewusst Auseinandersetzungen. Die Polizei setzte in mehreren Städten Tränengasgranaten (u.a. auch aus Hubschraubern) und scharfe Munition ein. In Istanbul wurde ein 54 jähriger Politiker der pro-kurdischen Demokratischen Friedenspartei BDP durch eine Tränengasgranate getötet, der zwölfte Fall dieser Art in den letzten drei Jahren. In weiteren Städten wurden Parteigebäude der BDP gestürmt und Menschen misshandelt. Dem Vorsitzenden der BDP in der Stadt Cizre wurde mit einem Gewehrkolben das Gesicht zertrümmert. Die Hamburger Bürgerschaftsabgeordnete der LINKEN Cansu Özdemir, die sich in der Stadt Batman in einem Bus mit dem Grandseigneur der kurdischen Politik Ahmet Turk befunden hatte, wurde mit Tränengasgranaten und scharfer Munition beschossen. In der kurdischen Metropole versammelten sich trotz der Übergriffe der Polizei gut eine Million Menschen. Diese hatten auf dem Festplatz immer wieder die Parole: „Die PKK ist das Volk - und das Volk ist hier“, gerufen. Michael K. hatte auf der Demonstration in Berlin diese Situation beschrieben und die Parole zitiert.
 
Das Gericht befand Michael K. für schuldig und verhängte eine Strafe von 45 Tagessätzen à 15 Euro. Man dürfe zwar die Situation in der Türkei beschreiben, jedoch nicht die Bevölkerung zitieren. Parolen wären ähnlich wie ein Symbol der PKK zu werten und diese fielen gemäß Vereingesetz unter das Verbot, so die Richterin in der Begründung. Der Beschuldigte wird Rechtsmittel gegen das Urteil einlegen.
 
Inwieweit Anklage und Urteil auch mit einer Medienkampagne seitens regierungsnaher Publikationen in der Türkei gegen mehrere deutsche Menschenrechtler und Anwälte, u.a. den Beschuldigten selbst, zusammenhängen, ist fraglich. Letzten Sommer hatten zeitgleich mehrere der Regierungspartei AKP nahe stehende Publikationen, Teilnehmer von Delegationen, die seit Jahren die Menschenrechtssituation u.a. für die Partei DIE LINKE beobachten, beschuldigt, Propaganda für die PKK zu betreiben. Sie hätten sich öffentlich zur Situation dort, zu Folter und Kriegsverbrechen sowie den Friedensbemühungen der kurdischen Seite geäußert. „Ähnliche Verfahren gegen Menschenrechtler und Journalisten sind in der Türkei leider an der Tagesordnung. Mehr als 8.000 Menschen, darunter 6 Abgeordnete und 33 Bürgermeister wurden in den letzten Jahren aufgrund ähnlicher Vorwürfe inhaftiert. Dass die Staatsanwaltschaft und das Gericht in Berlin sich auf eine solche Weise in den Dienst der türkischen Regierung stellen und dafür das Recht auf freie Meinungsäußerung attackieren, ist als Armutszeugnis der Demokratie zu werten“, kommentiert der LINKE-Bundestagsabgeordnete Harald Weinberg. (PK)


Online-Flyer Nr. 370  vom 05.09.2012

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