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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Globales
PKK kontrolliert einige Gebiete in den kurdischen Provinzen der Türkei
Rückzug des Militärs
Von Martin Dolzer

In der türkischen und europäischen Mainstreampresse wird nicht, oder wenn, nur sehr verzerrt über das Geschehen in der kurdischen Provinz Hakkari im äußersten Südosten der Türkei berichtet. Seit einem Monat kontrollieren Guerillaeinheiten der PKK, die Volksverteidigungskräfte HPG, dort schrittweise immer größere Gebiete in der Region Şemdinli (kurdisch: Şemzînan), nahe der türkisch-irakisch-iranischen Grenze. Für Aufsehen in den Medien sorgte die positive Reaktion des CHP-Abgeordneten Hüseyin Aygün aus Tunceli (kurdisch Dersim) auf seine kurzfristige Gefangennahme.

Hüseyin Aygün – machte angeblich Propaganda für eine verbotene Organisation
Quelle: http://www.turkishpress.de
 
Das türkische Militär hat sich mittlerweile aus vielen Kasernen und Kontrollpunkten der Region zurückgezogen und versucht lediglich mit Luftangriffen die Guerilla zurückzudrängen, was allerdings misslingt. Seit dem 4. August hat die HPG ihre Kontrolle zudem auf Çukurca (kurdisch Çele) und seit dem 16. August auf einige Orte direkt nahe der Provinzhauptstadt Hakkari (Colemêrg) ausgeweitet. Insgesamt sollen nach Angaben der HPG mehr als 200 Soldaten und 16 Guerillas bei den Auseinandersetzungen getötet worden sein. Die türkische Armee und die Regierung geben dagegen nur die Zahl weniger getöter Soldaten an und schweigen über das wahre Ausmaß der Auseinandersetzungen. ExpertInnen gehen davon aus, dass die meisten der getöten Soldaten zu denjenigen in der Region neu stationierten Berufssoldaten gehören, die zuvor unterschreiben mussten, dass ihr Tod nicht veröffentlicht wird. Viele dieser Soldaten kommen aus prekären Verhältnissen oder sind Waisen. Sie hielten sich zuvor oft jahrelang in religiösen Bildungseinrichtungen der der AKP nahe stehenden Gülen-Bewegung, auf, die nach dem Prediger Fethullah Gülen benannt ist.
 
Strategiewechsel zu Hit-and-Run-Aktionen der Guerilla
 
Die PKK hatte einen Strategiewechsel hin zu sogenannten Hit-and-Run-Aktionen der Guerilla zur Einnahme und Verteidigung strategischer Orte angekündigt und begreift ein solches Vorgehen als Teil der Umsetzung eines "Revolutionären Volkskrieges“ in den kurdischen Provinzen der Türkei. Dieser Plan scheint erfolgreich zu sein. Erstmals seit Beginn der dreißigjährigen Auseinandersetzung zwischen dem türkischen Staat/Militär und der PKK üben Guerillakräfte für einen derart langen Zeitraum die Kontrolle über Gebiete dieser Größenordnung aus.
 
Am 9. August gab das Militär zudem die Kontrollpunkte zwischen Şemdinli (Şemzînan) und Yüksekova (Gever) auf. Am 11. August wurden auch zahlreiche Kontrollpunkte der Dorfschützer auf der Landstraße zwischen Hakkari (Colemêrg) und Çukurca (Çele) leer zurückgelassen. Gegenwärtig führen die Guerillakräfte in diesem Gebiet sogar regelmäßig Straßenkontrollen durch. Militärkasernen in dem Gebiet können, Berichten zufolge, von Soldaten nicht mehr verlassen werden, weil die Umgebung unter permanenter Kontrolle der Guerillakräfte steht.
 
Verfahren gegen BDP-PolitikerInnen
 
Eine Delegation von ParlamentarierInnen der pro kurdischen Demokratischen Friedenspartei (BDP), des Kongresses für eine Demokratische Gesellschaft (DTK) sowie weiterer sozialistischer und linker türkischer Parteien, die nach Şemdinli (Şemzînan) reiste, um in Dörfern, die von Luftangriffen und Raketenbeschuss der Türkischen Armee betroffen waren, humanitäre Hilfe zu leisten und sich ein Bild von der Situation zu machen, wurde dort von einer Straßenkontrolle der Guerillakräfte überrascht. Die DelegationsteilnehmerInnen unterhielten sich gut eine Stunde mit den Guerillas über Friedensperspektiven. Anschließend erklärten die Abgeordneten der BDP, dass sie in der Region, außer einem Kontrollpunkt direkt vor der Stadt keine Präsenz staatlicher Sicherheitskräfte beobachten konnten. „Viele landwirtschaftliche Flächen waren niedergebrannt. Die Menschen in den Dörfern berichteten, dass sie gezielt von Sicherheitskräften bombardiert wurden“, erklärte die Fraktionsvorsitzende der BDP, Gültan Kışanak. Der BDP Abgeordnete Ertuğrul Kürkçü ergänzte: „Besonders Kinder haben durch die Angriffe des Militärs Traumata erlitten, aber viele Menschen wollen ihre Dörfer nicht verlassen. (...) Die Guerillas die uns aufhielten, sagten, dass sie für die Freiheit und Demokratisierung der Türkei und des Mittleren Ostens kämpfen.“
 
Die Staatsanwaltschaft der Provinzhauptstadt Van eröffnete daraufhin ein Verfahren gegen die PolitikerInnen wegen „Propaganda für eine verbotene Organisation“, weil sie die Guerillakontrolle arrangiert hätten. „Es ist unsinnig uns zu unterstellen, dass wir diese Kontrolle arrangiert haben. Kontrollen der Guerilla sind in dieser Region alltäglich. Das ist die dortige Realität, der wir begegnet sind“, kommentierte der Abgeordnete Kürkçü den Vorwurf.
 
Aufbau von kommunalen Selbstverwaltungen
 
Duran Kalkan, KCK-Exekutivratsmitglied (KCK - Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans - ist ein Dachverband, in dem auch die PKK vertreten ist), erklärte gegenüber der Nachrichtenagentur ANF, dass es der KCK in dieser Phase nicht nur um die Einnahme strategischer Orte durch die Guerilla, sondern auch um die Umsetzung der Demokratischen Autonomie gehe. Ziel sei, dass jedes Dorf, jeder Stadtteil und jede Stadt ihre kommunale Selbstverwaltung aufbauen könne. „Wir befinden uns in einer Lösungsphase. Aber es handelt es sich nicht mehr um eine rein politische, sondern auch um eine militärische Lösung. Wir sind mittlerweile zu der Überzeugung gelangt, dass es zu keiner politischen Lösung der kurdischen Frage kommen wird, solange die AKP an der Macht ist. Daher haben wir einen Strategiewechsel eingeschlagen und unseren Widerstand verstärkt.“
 
Ingewahrsamnahme des CHP-Abgeordneten Hüseyin Aygün
 
In der Mainstreampresse wurden dagegen hauptsächlich die kurzfristige Ingewahrsamnahme des Abgeordneten der kemalistischen CHP, Hüseyin Aygün, thematisiert. In der Nähe der kurdischen Stadt Ovacık in der Provinz Dêrsim hatte eine Guerillaeinheit Aygüns Fahrzeug gestoppt, den Politiker in Gewahrsam genommen und seine Begleiter „nach Hause“ geschickt.
Nach weniger als 48 Stunden kam Hüseyin Aygün am 14. August wieder frei und sorgte für einen "Skandal“ in den türkischen Medien. Er erklärte gegenüber der Presse: „Mein zweitägiges Abenteuer in den Bergen ist heute zu Ende gegangen. Die Organisation hat mitgeteilt, dass sie diese Aktion zum Zwecke politischer Propaganda ausgeführt habe. Sie sagten, sie wollen mit der Aktion einen Aufruf zum Frieden und zum Waffenstillstand machen. Von mir haben sie erwartet, dass ich mich im Parlament noch stärker für einen Waffenstillstand einsetze. (…) Es gab mir gegenüber keinerlei Drohungen. Sie verlangten lediglich, dass die CHP mehr Mühe aufbringen soll, dem fließenden Blut Einhalt zu gebieten. (…) Sie haben diese Aktion durchgeführt, um eine Friedensbotschaft und die Forderung nach einem Waffenstillstand nach Ankara zu senden. Sie haben ihre Aktion für erfolgreich erklärt und mich verabschiedet. Sie haben mich umarmt und geküsst. Sie sagten mir, ich solle meine Geschwister in den Bergen nicht vergessen - und ich versprach ihnen, dass ich für den Frieden arbeiten werde.“ Aufgrund dieser Äußerungen wird in den Behörden nun darüber nachgedacht, gegen den CHP-Abgeordneten ein Verfahren wegen Propaganda für eine verbotene Organisation einzuleiten.
 
Einen Bombenanschlag in Antep, bei dem 9 Polizisten und ZivilistInnen getötet wurden, schrieben die türkische Regierung und einige Zeitungen zunächst der PKK zu. Diese hatte sich sofort distanziert und erklärt, dass sie grundsätzlich keine Anschläge durchführe, bei denen mutwillig Zivilpersonen getötet werden. Mittlerweile gehen die Regierung wie auch ExpertInnen von TäterInnen aus anderen Zusammenhängen aus. „Ein solcher Anschlag passt nicht zur Vorgehensweise der PKK“, so mehrere ExpertInnen renommierter Konfliktforschungsinstitute einmütig. 
 
Die türkische Luftwaffe hat unterdessen erneut zivile Einrichtungen in der Region Kandil im Nordirak (Südkurdistan) bombardiert. Dabei wurden zwei ZivilistInnen verletzt. Zudem zerstörten die Bomben eine Hühnerfarm. Rund 7.000 Hühner kamen ums Leben. Betroffen waren die Dörfer Silê und Surede, in denen ausschließlich ZivilistInnen leben. Am 21. August des vergangenen Jahres wurden bei ähnlichen völkerrechtswidrigen Bombardements sieben ZivilistInnen in der gleichen Region getötet. (PK)


Online-Flyer Nr. 369  vom 29.08.2012

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