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Inland
Zweiter Prozesstag gegen den Kurden Ali Ihsan Kitay im OLG Hamburg
"Selbstleseverfahren"
Von Martin Dolzer
Der 2. Prozesstag (1) für den kurdischen Politiker Ali Ihsan Kitay in Hamburg wegen des Vorwurfs der „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ nach § 129 b begann mit der Verlesung der Passagen aus Prozessakten, die die 5 RichterInnen des Staatsschutzsenats im "Selbstleseverfahren" einzuführen beabsichtigen. Deutlich wurde, dass dies sämtliche politischen und Waffenstillstandserklärungen der kurdischen Bewegung sowie deren Bewertung durch Beamte des Bundeskriminalamts (BKA) betrifft. Mehr als 200 Dokumente der PKK, der Volksverteidigungskräfte HPG und weiterer Organisationen und Personen, die die Bundesanwaltschaft (BAW) der PKK zuordnet, sollen "selbstgelesen“ werden.

Plakat mit einem Porträt von Ali
Ihsan Kitay vor dem Hamburger
Gerichtsgebäude
Was bedeutet Selbstleseverfahren? Das Gericht gibt der BAW, der Verteidigung und dem Beschuldigten Teile der Akten zum Lesen. Daraufhin werden diese so behandelt, als wären sie in der Verhandlung vorgelesen und diskutiert worden – und werden somit als Teil des Prozesses gewertet. Das Einführen der Beweismittel, auf die die Anklage gestützt ist, im Selbstleseverfahren, bedeutet faktisch einen Ausschluss der Öffentlichkeit vom Verständnis des Gesamtkontextes der Anklage und der Prozessführung und eine starke Verkürzung der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Thema des Prozesses. „Der Verteidigung wird eines der bedeutsamsten Verteidigungsmittel genommen, nämlich die Möglichkeit zu einer unmittelbaren Stellungnahme zu einzelnen Beweismitteln“, erklärte der Verteidiger von Ali Ihsan Kitay, Carsten Gericke. Die Verteidigung legte deshalb Widerspruch ein. Ein beabsichtigtes Selbstleseverfahren hätte zudem weit früher als am ersten Verhandlungstag angekündigt werden müssen – ansonsten handele es sich im juristischen Sinne um ein „grob ermessensfehlerhaftes“ Vorgehen.

Solidaritätskundgebung vor Beginn der
Verhandlung im OLG Hamburg
In den „selbst zu lesenden“ Dokumenten befinden sich zudem viele Kommentare und Bewer-tungen, also Wahrneh-mungen der auswertenden Polizeibeamten, erklärte die Verteidigung. Solche Wahrnehmungen dürften laut geltender Recht-sprechung – und auch entsprechend bisheriger Rechtsprechung des OLG Hamburg – nicht durch bloße Verlesung von Vermerken und daher auch nicht im Selbstleseverfahren eingeführt werden. Negative Folgen einer solchen Vorgehensweise würden sich insbesondere in Urteilsbegründungen zu vorangegangenen § 129-Verfahren gegen kurdische AktivistInnen zeigen. In diesen befänden sich immer wieder die gleichen Satzbausteine, die lediglich die Einschätzungen der Polizeibeamten, nicht jedoch den sachlich und juristisch korrekt abgewogenen Inhalt der Dokumente widerspiegeln.
Online-Flyer Nr. 369 vom 29.08.2012
Zweiter Prozesstag gegen den Kurden Ali Ihsan Kitay im OLG Hamburg
"Selbstleseverfahren"
Von Martin Dolzer
Der 2. Prozesstag (1) für den kurdischen Politiker Ali Ihsan Kitay in Hamburg wegen des Vorwurfs der „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ nach § 129 b begann mit der Verlesung der Passagen aus Prozessakten, die die 5 RichterInnen des Staatsschutzsenats im "Selbstleseverfahren" einzuführen beabsichtigen. Deutlich wurde, dass dies sämtliche politischen und Waffenstillstandserklärungen der kurdischen Bewegung sowie deren Bewertung durch Beamte des Bundeskriminalamts (BKA) betrifft. Mehr als 200 Dokumente der PKK, der Volksverteidigungskräfte HPG und weiterer Organisationen und Personen, die die Bundesanwaltschaft (BAW) der PKK zuordnet, sollen "selbstgelesen“ werden.

Plakat mit einem Porträt von Ali
Ihsan Kitay vor dem Hamburger
Gerichtsgebäude
NRhZ-Archiv

Solidaritätskundgebung vor Beginn der
Verhandlung im OLG Hamburg
NRhZ-Archiv
Durch ein derart weitgehendes Selbstleseverfahren von Dokumenten können dann gerade in politischen Prozessen Schilderungen der Beamten der "Sicherheitsorgane“, die oft stunden- oder auch tagelang als Zeugen befragt werden und ihre einseitigen, oft wenig hintergründigen und unreflektierten, auf reiner Verfolgungslogik basierenden, Erkenntnisse im Sinne einer Feindbildzuschreibung gegenüber der beschuldigten Organisation oder Person die im Gericht erzeugte Stimmung dominieren. Die Beschuldigten werden dann erfahrungsgemäß wie z.B. bei Aktenzeichen XY ungelöst, als dunkler und bösartiger – und zu verurteilender – Einbruch in die heile Welt von einer völlig intakten Gesellschaft mit intakten internationalen Beziehungen, dargestellt und gebrandmarkt. Auch tagelanges Vorlesen von Ermittlungsergebnissen und Untersuchungsbeschlüssen vermittelt häufig einen solchen Eindruck.
„Die Legitimität des Widerstandes der kurdischen Bevölkerung und Bewegung gegen Unterdrückung, gravierende Menschenrechtsverletzungen, Folter und Kriegsverbrechen seitens staatlicher Kräfte in der Türkei – sowie das Anrecht auf Selbstbestimmung, kulturelle Rechte und der Kampf um demokratische und emanzipierte Gesellschaften – sollte aber ein zentraler Bestandteil der Verhandlung sein, damit es nicht dazu kommt, dass das Handeln eines Menschen, wie seitens der BAW geschehen, weitgehend ohne Betrachtung gesellschaftlicher Realitäten und politischer Entwicklungen in der Türkei als terroristisch definiert und kriminalisiert wird“, erklärte das "Bündnis Freiheit für Ali Ihsan“ in einer Pressemittelung.
Zuletzt fand 1994 ein groß angelegter Paragraph 129 a-Prozess gegen 19 vermeintliche Mitglieder der Kurdischen Arbeiterpartei PKK vor dem OLG Düsseldorf statt. Der damalige Generalbundesanwalt Rebmann hatte die PKK vor dem Verfahren zum „Hauptfeind der inneren Sicherheit“ erklärt. Während dieses Verfahrens fand eine breite Solidarisierung mit der kurdischen Bewegung statt. Der Prozess war zudem von internationaler Kritik an der menschenrechtswidrigen Verfahrensführung sowie den Menschenrechtsverletzungen in der Türkei begleitet. Der Versuch, die PKK gemäß Paragraph 129 a als terroristisch zu definieren, scheiterte jedoch daran, dass terroristische Aktivitäten in der Bundesrepublik, die die Kurdische Arbeiterpartei faktisch niemals durchführte, Voraussetzung für eine solche Verfolgung sind. Von 1997 bis heute wurden vermeintliche PKK-Mitglieder unter anderem deshalb nach dem Vereinsgesetz oder § 129 (Mitgliedschaft oder Unterstützung einer kriminellen Vereinigung) verurteilt.
In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Grundlagen von Rechtssystemen, wie z.B. in der kritischen Kriminologie, wird davon ausgegangen, dass Recht umso mehr lediglich als Mittel zur Aufrechterhaltung und der gewaltförmigen Durchsetzung von Macht genutzt wird, je undemokratischer eine gesellschaftliche Formation ist.
„Durch den § 129 b erhält die Regierung einen breiten Spielraum, die Strafverfolgung nach strategischen und außenpolitischen Interessen zu steuern. In der strafrechtlichen Literatur wird dies durchaus kritisch gesehen. Gerade angesichts der gesellschaftlichen Umbrüche im Maghreb und im Nahen Osten zeigt sich die besondere politische Dimension der "Ermächtigung" durch das BMJ. So werden die Libysche Nationale Befreiungsfront oder die "Freie Syrische Armee" trotz ihrer Waffengewalt nicht als terroristische Vereinigung zur Begehung von Mord und Totschlag eingestuft, sondern von der Bundesregierung als legitime bewaffnete Organisationen angesprochen und unterstützt“, erklärt die Verteidigerin Ali Ihsan Kitays Cornelia Ganten-Lange.
„Die Gewaltenteilung ist sinnvoller Weise, zum Schutz der Menschen vor Willkür, in der Verfassung verankert. Der § 129 b widerspricht diesem Anliegen und dieser Norm. Er sollte sofort abgeschafft werden. Während die kurdische Seite und die Demokratische Friedenspartei BDP sich seit Jahren für Frieden und eine Demokratisierung des Landes einsetzen, brach die Regierung Erdogan Friedensgespräche ab und ließ seit 2009 im Rahmen der KCK Verfahren mehr als 8.000 kurdische PolitikerInnen und AktivistInnen, darunter auch sechs ParlamentarierInnen, dreiunddreißig BürgermeisterInnen und mehr als hundert Stadträte inhaftieren. In Anbetracht der Situation in der Türkei sollte die Exekutive der Bundesrepublik die Rechte der KurdInnen hier stärken anstatt diejenigen, die sich für Menschenrechte und Frieden einsetzen, zu kriminalisieren“, erklärte dazu die Bundestagsabgeordnete Heidrun Dittrich von der Partei DIE LINKE. (PK)
Online-Flyer Nr. 369 vom 29.08.2012