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Kultur und Wissen
Der beliebteste deutsche Autor: ein Epigone und Plagiator?
Karl May und sein Mythos
Von Wolfgang Bittner

Am 30. März 2012 jährte sich der hundertste Todestag des Abenteuer-Schriftstellers Karl May, und die Medien nahmen das zum Anlass, wieder einmal eine literarische Leiche abzufeiern und einen regelrechten Hype zu verursachen. Bücher über den „beliebtesten Schriftsteller der Deutschen“ erschienen, Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk und Fernsehen priesen ihn mit Artikeln, Reportagen, Dokumentationen, mehrstündigen Hörspielen und Filmen. In den Bibliotheken wuchs die Nachfrage nach Karl May-Büchern. Wenn schon nicht pervers, müssen Autoren in Deutschland wenigstens tot sein.
 

Karl May
Foto: Erwin Raupp/Quelle: wikipedia
Während die junge Generation Fantasy liest und für Vampir-, Werwolf- und Zauberer-Geschichten schwärmt, besannen sich die Mittelalten und die Älteren nochmals auf ihre Jugend-lektüre, auf Old Shatterhand und Winnetou – ebenfalls eine Möglichkeit, der beunruhigenden Realität wenig- stens für ein paar Stunden zu ent- fliehen. Der fantasiebegabte Stuben-hocker und sein abenteuerliches Werk mit den omnipotenten Helden passten wieder einmal ins Bild: ein Griff in die wilhelminische Mottenkiste in einer Zeit politischer Stagnation.
 
Zweifellos hat May als Verfasser seiner viel gelesenen Abenteuerromane auch seine Verdienste. Die Auflage seiner Bücher in Deutschland wird auf hundert Millionen geschätzt, weltweit sollen es sogar zweihundert Millionen sein. Dass er allerdings mangels eigener Erfahrungen viele seiner Anregungen und Ideen anderen Autoren verdankte und insbesondere den Abenteuerschriftsteller Friedrich Gerstäcker (1816-1872) umfangreich plagiiert hat, wird von seinen Verehrern – sofern überhaupt bekannt – als unerheblich abgetan. Aber die Übernahmen sind bei genauerem Hinschauen beträchtlich und nicht zu übersehen.
 
Karl May ein Epigone und Plagiator? Dieser Vorwurf wurde noch zu seinen Lebzeiten erhoben und hat ihn wahrscheinlich einige Jahre seines Lebens gekostet, denn er hat – wie seine Biografen bescheinigen – außerordentlich darunter gelitten. Die Angriffe und Kampagnen, die zum Teil ausarteten, begannen Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts; zunächst ging es um Mays kriminelle Vergangenheit, religiösen "Indifferentismus“ und angeblich jugendgefährdende Inhalte. Der Journalist Rudolf Lebius nannte May einen „geborenen Verbrecher“, einen Dieb und Hochstapler, der Benediktinerpater Ansgar Pöllmann einen „Verderber der Jugend“. Der Autor wehrte sich mit Prozessen, in einigen Fällen erfolgreich.
 

Friedrich Gerstäcker
Foto: August Weger/Quelle: wikipedia
1910, also zwei Jahre vor seinem Tod, wurde May dann von mehreren Seiten mit dem Vorwurf der Unlauterkeit durch Aneignung fremden geistigen Eigentums konfrontiert. So wurde ihm nachgewiesen, dass seine Erzählung "Die Rache des Ehri“, die er erstmals 1878 unter dem Pseudonym Emma Pollmer (dem Namen seiner ersten Ehefrau) in der Zeitschrift "Frohe Stunden“ veröffentlichte, weitgehend mit Gerstäckers Erzählung "Das Mädchen von Eimeo“ identisch ist. Pöllmann nannte May daraufhin einen „literarischen Dieb“. Der Autor verwahrte sich dagegen in seiner 1910 erschienenen Autobiographie "Mein Leben und Streben“ wie folgt:
 
„Ich hatte nämlich in einigen meiner allerersten, ältesten Reiseerzählungen, bei deren Abfassung ich noch nicht die nötige Erfahrung besaß, die Ereignisse, die ich schilderte, vor einem geographischen Hintergrunde spielen lassen, den ich bekannten, jedermann zugänglichen Werken entnahm. Das ist nicht nur erlaubt, sondern es geschieht sehr häufig. Sich Ortsbeschreibungen anzupassen, kann niemals Diebstahl sein. Literarischer Diebstahl, also Plagiat, liegt nur dann vor, wenn man sich wesentliche Bestandteile eines Gedankenwerkes aneignet und diese in der Art verwendet, daß sie dann wesentliche Bestandteile des Werkes des Plagiators bilden und dabei als seine eigenen Gedanken erscheinen. So Etwas habe ich aber nie getan und werde es auch nie tun. Geographische Werke können, besonders wenn sie geistiges Allgemeingut geworden sind, ganz unbedenklich benutzt werden, sofern es sich nicht um das Abschreiben ganzer Druckbogen oder Seitenfolgen handelt und das Werk des Nachschriftstellers trotz des Abschreibens eine selbständige geistige Arbeit bleibt. (...) Ich habe, ohne mir etwas dabei zu denken, einige meiner kleinen, asiatischen Erzählungen mit ganz nebensächlichen geographischen und ethnographischen Arabesken verziert, welche ich in Büchern fand, die längst der Allgemeinheit angehören. Das ist erlaubt. Das ist sogar mein gutes Recht."
 
Selbstverständlich war es nicht sein "gutes Recht“, fremde Texte wörtlich seitenlang abzuschreiben, wie es in "Die Rache des Ehri“ der Fall war. Als ihn anlässlich eines Interviews in der Villa Shatterhand in Radebeul der Journalist Egon Erwin Kisch (der spätere "Rasende Reporter") darauf ansprach, erwiderte May: "Es handelt sich um eine Erzählung, zu der mir eine alte Geographie von Indien, in der sie erwähnt ist, Anlass gab. F. Gerstäcker, der selbst nie in Indien war, scheint nun die gleiche Geographie gelesen und in einer Novelle benützt zu haben. Daher die Übereinstimmung." (So Kisch in der Zeitschrift "Bohemia“ vom 15.5.1910).

Textvergleich zum Beweis von Plagiaten
Gescannt: Wolfgang Bittner
 
Das war eine leicht widerlegbare Schutzbehauptung. Auch der Hinweis auf eine indische "Geographie“ trifft nicht. Friedrich Gerstäcker hatte 1851 die Südsee durchquert und die Insel Eimeo sowie Tahiti, Australien und Java besucht. May hat aber nicht nur Gerstäckers Südseegeschichte gestohlen (und damit Geld verdient und seine Karriere befördert). Vielmehr gibt es zahlreiche weitere Übereinstimmungen. Zum Beispiel fällt auf, dass sowohl in Gerstäckers "Die Regulatoren in Arkansas“ als auch in Mays "Unter Geiern“ die scharf
konturierte Figur eines schurkischen Sektenpredigers auftaucht. Weiter gibt es bei Gerstäcker den skurrilen Hinterwäldler, den Schwänke erzählenden Jäger, den janusköpfigen Richter usw. Vor allem aber gibt es den eingehend als Persönlichkeit beschriebenen Indianerhäuptling Assowaum, der eine silberbeschlagene Büchse besitzt, sowie den aufrechten jungen Westmann Bill Brown – Romanfiguren, die wir dann als Typen bei May wiederfinden.
 
Nun stammen Gerstäckers "Regulatoren“ bereits von 1846, während May erst 1842 geboren wurde. Es ist also offensichtlich, dass sich May intensiv mit Gerstäckers Werk auseinandergesetzt und vieles von ihm übernommen hat, abgesehen von den wörtlich abgeschriebenen Passagen. May hat das immer bestritten oder bemäntelt. Bezeichnend ist, dass sich in seiner Bibliothek nach seinem Tod kein einziges Buch von Gerstäcker fand. Aber die Parallelen und Übereinstimmungen sind frappierend. Sogar Mays Arbeitszimmer entsprach in seiner Einrichtung mit exotischen Gegenständen dem von Gerstäcker, und auch die epigonale Selbstdarstellung verblüfft.
 
In seinem 1844 erschienenen Buch "Streif- und Jagdzüge durch die Vereinigten Staaten von Nordamerika“ hat Gerstäcker, der von 1837 bis 1843 in den USA lebte, bereits vieles vorweggenommen und vorbereitet, was sich einige Jahre später in seinen Romanen wiederfindet. Seine Wanderungen westlich des Mississippi, der Besuch deutscher Ansiedlungen, Begegnungen mit Indianern, die Jagdabenteuer in der Wildnis am Ufer des Fourche la fave und im Ozarkgebirge boten reichen Stoff und den Hintergrund für spannende Handlungen. Später greift der Schriftsteller häufig auf seine Reiseskizzen zurück – und augenscheinlich hat das auch Karl May getan, der die USA erst im Alter als Tourist kennenlernte.
 
1840 legte Gerstäcker in Cincinnati, wo er bei Freunden wohnte und mit deutschen Auswanderern verkehrte, ein Lehrerexamen ab. Aber das sesshafte Leben wollte ihm noch nicht gefallen, es trieb ihn hinaus in die Wälder und Prärien. Erstaunlicherweise kommt dann im ersten Winnetou-Band der junge Hauslehrer Karl May und spätere Old Shatterhand in Gerstäckers unverwechselbaren hohen Wasserstiefeln daher, das Jagdmesser am Gürtel und die Büchse über der Schulter, so wie sein Vorbild Jahre zuvor realiter das Land am Mississippi durchstreifte. Und der "Westmann May“ freundet sich mit einem Indianerhäuptling an, den er Winnetou nennt.

Die Arbeitszimmer von Friedrich Gerstäcker und Karl May
Quelle: Gerstäcker-Museum und Karl May-Museum
 
Indes Gerstäcker nun in seinen Romanen von eigenen Erfahrungen und Ortskenntnissen ausgehen konnte, lässt May das Personal seiner Geschichten vor einer Kulisse agieren, die er entsprechend der ihm zugänglichen Lektüre gestaltet. Dabei muss er auf Authentizität verzichten, was natürlich kein Kriterium für literarische Qualität zu sein braucht. Denn auch bei Gerstäcker werden Orte, Personen und Geschehnisse fantasievoll so "verarbeitet“, wie es der Handlung eines Romans oder einer Geschichte am besten bekommt. Aber die Leser erfahren vielerlei Einzelheiten über das Leben der amerikanischen Hinterwäldler und über das Land, das sie eben erst in Besitz genommen haben.
 
Vor allem kommt Gerstäcker ohne die triviale Volkstümelei aus, die aber wohl – einem breitesten "Volksempfinden“ entsprechend – Mays Ruhm begründet und bis in die Gegenwart erhalten hat. Nichts gegen triviale oder lediglich unterhaltende Literatur, auch nicht gegen Mays Omnipotenz- und Gewaltfantasien. Zu kritisieren ist vielmehr der sein gesamtes Werk durchziehende fundamentalistisch-bigotte, deutschtümelnde und obrigkeitsorientierte Ansatz, wodurch er sich vor allem von seinem Vorgänger Gerstäcker unterscheidet, der in vielerlei Hinsicht seiner Zeit voraus war, und den er so umfangreich gefleddert hat.
 
Aber auch von anderen Autoren hat May zahlreiche Ideen und Inhalte übernommen. 1865 war er wegen Diebstahls und Betrugs zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt worden, 1870 wegen erneuter Straftaten zu weiteren vier Jahren und einem Monat. Während seiner Haft im Arbeitshaus Zwickau, wo er die Anstaltsbibliothek verwaltete, hat er nach eigenem Bekunden viel gelesen, unter anderem wohl die Abenteuerromane von Gerstäcker, aber auch Bücher von James Fenimore Cooper (den Gerstäcker übrigens als sein Vorbild bezeichnete), von Daniel Defoe, Alexandre Dumas, Charles Sealsfield (Pseudonym für Karl Anton Postl), Gustav Aimard, Gabriel Ferry, Jules Verne oder Balduin Möllhausen. Seine Leseerlebnisse, zu denen er sich nach eigenem Bekunden Notizen machte, haben ihn dazu angeregt, selber Romane zu schreiben. Damit begann er schließlich 1874 nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus Waldheim, wobei er das Urheberrecht wohl eher als störend empfand. Dennoch hat Karl May – trotz aller Plagiate, Schwülstigkeiten und sonstiger Schwächen – ein bedeutendes eigenes Werk geschaffen. Das sollte ihm nicht bestritten werden. Fraglich bleibt allerdings nach wie vor, ob Autor und Werk eine derartig breite Würdigung verdienen. (PK)
 
 
Wolfgang Bittner, geb. 1941 in Gleiwitz, lebt als Schriftsteller in Göttingen. Der promovierte Jurist ist freier Mitarbeiter bei Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk und Fernsehen. Bis 1974 ging er verschiedenen Berufstätigkeiten nach, u.a. als Fürsorgeangestellter, Verwaltungsbeamter und Rechtsanwalt. Ausgedehnte Reisen führten ihn nach Vorderasien, Mexiko, Kanada und Neuseeland, Gastprofessuren 2004/05 und 2006 nach Polen. Er erhielt mehrere Preise und Auszeichnungen (2010 den Kölner Karls-Preis der NRhZ), ist Mitglied im PEN und hat über 60 Bücher für Erwachsene, Jugendliche und Kinder veröffentlicht, unter anderem 16 Romane, den Erzählband "Das andere Leben" und das Sachbuch "Beruf: Schriftsteller". Im vergangenen Jahr erschien bei VAT sein Roman "Schattenriss oder Die Kur in Bad Schönenborn", und vor einigen Wochen "Hellers allmähliche Heimkehr". Eine Rezension finden Sie in NRhZ 362 unter http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=17992


Am kommenden Freitag, den 17. August, findet ein zusätzlicher Spieltag der Karl-May-Festspiele in Elspe statt. Start des Rahmenprogramms um 10.00 Uhr. Start des Hauptstücks "Winnetou I" um 14.45 Uhr. Tickets und weitere Informationen unter www.elspe.de oder unter 02721 / 9444-0.


Online-Flyer Nr. 367  vom 15.08.2012

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