NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 18. April 2024  

Fenster schließen

Medien
Warum hat Hellmuth Karasek ein Zitat von Günter Grass gefälscht?
Guttenberg mal umgedreht
Von Martin Forberg

Vielleicht wollte der Literaturkritiker Hellmuth Karasek nur einfach mal den umgedrehten Guttenberg geben: Der hatte fremdes geistiges Eigentum als eigenes ausgegeben, Karasek hat dagegen in der Berliner Morgenpost behauptet, dass ein "Zitat" von Günter Grass sei, was in Wirklichkeit auf seinem eigenen Mist gewachsen ist.
 

Hellmuth Karasek – Grass
entlarvt oder sich selbst?
Quelle: wikipedia
Die Leserinnen und Leser der Berliner Morgenpost konnten sich in diesem Jahr in der Osterausgabe vom 8./9. April über ein ganz besonderes Bonus-Ei freuen. Sie brauchten nicht lange zu suchen, es war auf Seite Eins an prominenter Stelle versteckt. Vielleicht hatte die Redaktion auch nur vergessen, das Geschenk wegzuräumen. Denn auch Zeitungsleuten aus dem Axel-Springer-Verlag könnte dieses Präsent peinlich sein: Der Literaturkritiker Hellmuth Karasek hat in seiner Kolumne "KARASEKSWOCHE" ein erlogenes Zitat untergebracht. Es ging - wieder einmal - um Günter Grass' Gedicht "Was gesagt werden muss". Karasek hat aus diesem Anlass zu etwas ähnlichem wie einer Generalabrechnung angesetzt: "Rache einer Lebenslüge. Hellmuth Karasek über den Sündenfall von Günter Grass" lautete der viele Leser versprechende Titel.
 
Als Krönung aller Vorwürfe "entlarvt" Karasek Grass abschließend als ausgewiesenen Antisemiten. Und das liest sich so: "Er hat den neuen alten Schuldigen gefunden, wie kann es anders sein: die Juden." Schreibt Karasek. Und fährt dann fort: "Als 'Atommacht Israel gefährden sie den ohnehin brüchigen Weltfrieden'". Das soll O-Ton Grass sein - die Anführungszeichen lassen da keinen Zweifel zu, wie man in seinem hier drunter kopierten Text aus der Berliner MoPo lesen kann.

Quelle: http://www.morgenpost.de
 
Tatsächlich aber lautet die entsprechende Passage in dem mittlerweile berühmten Gedicht: "Warum sage ich jetzt erst, gealtert und mit letzter Tinte: Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden." Das erfundene "sie" findet sich hier eben so wenig wie der (laut Karasek) dazu gehörige Begriff "die Juden". Hätte Grass geschrieben, was ihm Karasek in den Mund legt, dann wäre das tatsächlich Antisemitismus pur. Hat er aber nicht, sondern Karasek und seine Tinte waren's. Ist der Kritiker also am Ende der heimliche Antisemit? Das ist zwar zunächst eine Spekulation, aber nicht abenteuerlicher als mancher Vorwurf, den Grass-Kritiker in den letzten Tagen formulierten. Und Karasek schießt dabei den Vogel ab.
 
Was bringt, veranlasst, treibt Hellmuth Karasek - der laut Welt-online vom 28.02.2012 "neben Reich-Ranicki der zweitbekannteste Literaturkritiker Deutschlands" ist - dazu, ein Zitat des Schriftstellers Günter Grass so eklatant falsch wiederzugeben, ordinär ausgedrückt: zu fälschen? Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder Karasek hat aus seiner Erinnerung ein "Zitat" niedergeschrieben - und das war dummerweise falsch. Diese Variante ist peinlich. Die zweite, wahrscheinlichere Auflösung des Rätsels setzt ein gewisses Maß an krimineller Energie voraus, hat aber für Karasek den Vorteil, dass er weiterhin als ein Autor gilt, der weiß was er tut. Diese Variante lautet: der prominente Publizist hat einfach ganz bewusst eine - fürwahr äußerst plumpe - Fälschung vorgenommen. Wer den Schriftsteller Grass so "nachdichtet", wie Karasek das getan hat, muss die Absicht haben, ihn zu verleumden.
 
Karaseks Retusche macht aber auch schlaglichtartig eine bewusste Anti-Grass-Kampagne sichtbar, für die der Literaturnobelpreisträger die übertriebene Formulierung von einer "fast wie gleichgeschaltete(n) Presse" (http://www.tagesschau.de/inland/grassgedicht112.html) gewählt hat. (Selbstverständlich ist nur ein Teil der Grass-Kritik als Kampagne zu verstehen). Indem nun aber auch Karasek durch sein eigenes Handeln die Manipulationen in Sachen Grass als aktive Bastelarbeit an Worten und Wörtern sichtbar macht, hat er - dialektischer als ihm lieb sein kann - selbst einen Beitrag zur Aufklärung geleistet. Er muss zugleich seine Leserinnen und Leser für reichlich unaufmerksam (oder gleich für ausgesprochen blöd) halten, wenn er erwartet, dass sie sich so primitiv täuschen lassen. Noch ein Stück Aufklärung also: diesmal in Sachen Karasek. (Für Leser, die das für Furore sorgende Gedicht noch nicht gelesen haben oder sich nicht mehr an dessen kompletten Text erinnern, haben wir es unter diesen Artikel gestellt. Die Redaktion)
 
Und wie steht's nun mit der ersten Möglichkeit, dass Karasek einfach aus dem Gedächtnis und aus Versehen falsch zitiert hat? Das wäre dann "nur" peinlich - und dies gleich mehrfach. Erstens: ein bisschen Recherche beim Verfassen einer vom Springer-Verlag sicher gut bezahlten Kolumne darf schon sein. Zweitens: dass Karasek, wie einige andere vor und nach ihm, Grass unterstellt, er unterscheide nicht zwischen Juden und Israel, ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass er und seine Mitkritiker dies selbst nicht tun. Das heißt: in ihrer Vorstellung über Jüdinnen und Juden kommen vermutlich bestenfalls jüdische Israelis vor (und selbst das ist wegen ihrer Fixierung auf die politisch-militärische Klasse des Staates Israel fraglich). Jüdische Iraner, Franzosen, Ungarn, Argentinier oder Deutsche geraten in den Hintergrund. Und gerade aufgrund ihrer Israel-Zentriertheit, bleiben die Palästinenserinnen und Palästinenser für diese Kritiker höchstens Schattenwesen. Die solidarische Haltung zu Juden haben die vermeintlich Israelophilen durch die ideologische Verklärung eines Staates ersetzt.
 
Es darf bestritten werden sie, dass sie überhaupt "Israel lieben", also wirklich "israelophil" sind. Die Zuneigung primär zu einem Staat (und bestenfalls an zweiter Stelle zu den dort lebenden Menschen) versetzt grundsätzlich die auf diese Art unkritisch "Liebenden" in eine Narkose oder macht gespaltene Persönlichkeiten aus ihnen - wenn es ganz dumm läuft, auch beides. Immer wieder müssen sie über dunkle Flecken und über die von ihrem vermeintlichen "Liebling" ausgeübte Gewalt hinwegsehen. Dies mag bei den Israelzentrierten selbst antisemitische Einstellungen im Verborgenen entstehen lassen. Wenn in der alltäglichen politischen Debatte Kritik an der Politik des Staates Israel laut wird, dann stellen israelzentrierte Menschen oft fest, Kritik "dürfe" selbstverständlich sein, aber doch nicht sooo, wie sie gerade geübt wird.
 
Die Verklärung (wie auch die Dämonisierung) eines Staates sind pathologische Erscheinungen. Sie treten an die Stelle des nüchternen, kritischen (das heißt: unterscheidenden) Blickes, der nicht umhin kann, festzustellen, dass die meisten Regierungen im "Nahen Osten" die Menschenrechte verletzen, Israel eingeschlossen. Und dass die imperiale Politik in und gegenüber dieser Region wiederum mit den Menschenrechten nicht vereinbar ist.
 
Da ist die erste Variante, die bewusste Zitatfälschung für die so Handelnden selbst vielleicht am Ende leichter zu tragen? Einfach mal den umgedrehten Guttenberg geben: Der hatte fremdes geistiges Eigentum als eigenes ausgegeben, Karasek hat dagegen behauptet, dass ein Zitat sei, was in Wirklichkeit auf seinem eigenen Mist gewachsen ist. Guttenberg hat Amt und Titel verloren. Karasek wird aber wohl Springer-Kolumnist bleiben dürfen, oder? Oder war es am Ende doch ein sorgfältig platziertes Osterei, eine Art Intelligenztest für Leserinnen und Leser der Berliner Morgenpost. Vielleicht ist doch das der Grund, warum Hellmuth Karasek das "Zitat" von Günter Grass gefälscht hat. (PK)
 
Der Berliner Journalist Martin Forberg ist Vorstandsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte. Er war 2011 im Rahmen des Projekts "Welcome to Palestine" nach Tel Aviv gereist, wo er wie 120 weitere Teilnehmer ein Wochenende lang in einem israelischen Abschiebegefängnis festgehalten wurde.
 

Günter Grass
Quelle: www.hdg.de











Und hier noch einmal der Wortlaut des Gedichtes "Was gesagt werden muss" von Günter Grass in voller Länge aus der "Süddeutschen Zeitung" vom 4. und in der NRhZ vom 5. April:
 


Was gesagt werden muss

Warum schweige ich, verschweige zu lange,
was offensichtlich ist und in Planspielen
geübt wurde, an deren Ende als Überlebende
wir allenfalls Fußnoten sind.
 
Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag,
der das von einem Maulhelden unterjochte
und zum organisierten Jubel gelenkte
iranische Volk auslöschen könnte,
weil in dessen Machtbereich der Bau
einer Atombombe vermutet wird.
 
Doch warum untersage ich mir,
jenes andere Land beim Namen zu nennen,
in dem seit Jahren - wenn auch geheimgehalten -
ein wachsend nukleares Potential verfügbar
aber außer Kontrolle, weil keiner Prüfung
zugänglich ist?
 
Das allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes,
dem sich mein Schweigen untergeordnet hat,
empfinde ich als belastende Lüge
und Zwang, der Strafe in Aussicht stellt,
sobald er missachtet wird;
das Verdikt 'Antisemitismus' ist geläufig.
 
Jetzt aber, weil aus meinem Land,
das von ureigenen Verbrechen,
die ohne Vergleich sind,
Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird,
wiederum und rein geschäftsmäßig, wenn auch
mit flinker Lippe als Wiedergutmachung deklariert,
ein weiteres U-Boot nach Israel
geliefert werden soll, dessen Spezialität
darin besteht, allesvernichtende Sprengköpfe
dorthin lenken zu können, wo die Existenz
einer einzigen Atombombe unbewiesen ist,
doch als Befürchtung von Beweiskraft sein will,
sage ich, was gesagt werden muss.
 
Warum aber schwieg ich bislang?
Weil ich meinte, meine Herkunft,
die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist,
verbiete, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit
dem Land Israel, dem ich verbunden bin
und bleiben will, zuzumuten.
 
Warum sage ich jetzt erst,
gealtert und mit letzter Tinte:
Die Atommacht Israel gefährdet
den ohnehin brüchigen Weltfrieden?
Weil gesagt werden muss,
was schon morgen zu spät sein könnte;
auch weil wir - als Deutsche belastet genug -
Zulieferer eines Verbrechens werden könnten,
das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld
durch keine der üblichen Ausreden
zu tilgen wäre.
 
Und zugegeben: ich schweige nicht mehr,
weil ich der Heuchelei des Westens
überdrüssig bin; zudem ist zu hoffen,
es mögen sich viele vom Schweigen befreien,
den Verursacher der erkennbaren Gefahr
zum Verzicht auf Gewalt auffordern und
gleichfalls darauf bestehen,
dass eine unbehinderte und permanente Kontrolle
des israelischen atomaren Potentials
und der iranischen Atomanlagen
durch eine internationale Instanz
von den Regierungen beider Länder zugelassen wird.
 
Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern,
mehr noch, allen Menschen, die in dieser
vom Wahn okkupierten Region
dicht bei dicht verfeindet leben
und letztlich auch uns zu helfen.


Online-Flyer Nr. 350  vom 18.04.2012



Startseite           nach oben