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Inland
GEW-Hauptvorstand fordert Rehabilitierung der Berufsverbote-Opfer
40 Jahre verfassungswidriger Radikalenerlaß
Von Uwe Koopmann und Peter Kleinert

Vor gut 40 Jahren, am 28. Januar 1972, verabschiedeten die bundesdeutschen Ministerpräsidenten unter Vorsitz des SPD-Bundeskanzlers Willy Brandt einen Beschluss, der das politische Klima in der BRD für Jahrzehnte prägte: Der sogenannter "Radikalenerlass“ brachte eine antikommunistische Hetzjagd in Gang, mit der Linke vom öffentlichen Dienst ausgeschlossen werden sollten. Viele tausend LehrerInnen, BriefträgerInnen, Lokführer und Uni-DozentInnen wurden geheimdienstlich durchleuchtet, in Verhören auf ihre Gesinnung "überprüft", zu StaatsfeindInnen abgestempelt und ihrer materiellen Existenzgrundlage beraubt.


GEW-Kundgebung gegen Berufsverbote in Göttingen
Quelle: GEW
 
Obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg in einem Urteil 1995 die Berufsverbote für menschenrechtswidrig erklärt hatte, trieben seit dem Jahreswechsel 2003/2004 Kultusministerium und Innenministerium des Landes Baden-Württemberg die Wiederbelebung der bundesdeutschen Berufsverbotspraxis wieder voran, von der man bis dahin angenommen hatte, dass sie seit mehr als zwanzig Jahren "nur noch" Geschichte sei. Dem Heidelberger Realschullehrer Michael Csaszkóczy, der sich in antifaschistischen Gruppen und in der Antikriegsbewegung engagiert, wurde nach seinem Referendariat eine Anstellung verwehrt, weil er "nicht Gewähr dafür biete, jederzeit voll einzutreten für die freiheitliche demokratische Grundordnung". Im Jahr 2006 hatte sich Hessen dem angeschlossen und Csaszkóczy aus politischen Gründen ebenfalls die Einstellung verweigert. Erst am 11. April 2007 erklärte der Verwaltungsgerichtshof Mannheim dieses Berufsverbot für Unrecht, und im September beugte sich Baden-Württemberg diesem Urteil und stellte Michael Csaszkóczy als Lehrer ein.
 

Lehrer Michael Csaszkóczy – musste nach einem
weiteren Urteil 2009 auch für vier Jahre
Verdienstausfall entschädigt werden
In einer Veranstaltung "40 Jahre Radikalen-erlass“ am 17. März 2012 in Göttingen bewertete Ulrich Thöne, Vorsitzender der GEW, einen neuen Antrag des Hauptvorstandes seiner Gewerkschaft gegen die Berufs-verbote als „überfällig“. Er sah in dem Antrag und in einer Veran-staltung in der Ge- schwister-Scholl-Gesamtschule einen „notwendigen Auftakt“ auch zur Aufarbeitung der innergewerkschaftlichen Orientierung. Am 14. Juni soll in Berlin eine Protestresolution der Betroffenen an Bundeskanzlerin Merkel übergeben werden. Insgesamt solle das Jahr 2012, so Ulrich Thöne, für weitere Veranstaltungen mit Zeitzeugen genutzt werden, um auf die Auswirkungen der Berufsverbote aufmerksam zu machen.
 
Hartmut Tölle, Vorsitzender des DGB-Bezirks Niedersachsen/Bremen/Sachsen-Anhalt, reflektierte selbstkritisch die Verstrickung auch der Gewerkschaft in die Berufsverbote-Praxis: Der „vernetzte Ungeist“ sei nicht weit weg. Er erinnerte an Parteiordnungs- und Parteiausschlussverfahren, die wegen einer Unterschrift gegen die Berufsverbote eingeleitet worden seien. Es gelte auch jetzt noch, dicke Bretter zu bohren. 
 
Frank Behrens, GEW Bremerhaven, schilderte am eigenen Beispiel die ungeheuerliche Bespitzelungspraxis und die Willkür der Schulbehörden. Zahlreiche Kolleginnen und Kollegen ergänzten diese Darstellung mit ihren eigenen düsteren Erfahrungen. Die Schauspielerinnen Rosa Jansen und Katharina Schenk, Berlin, komprimierten die Verfolgungsparanoia eindrucksvoll in einer Lesung zu "Gesinnungsschnüffelei und Hexenjagd“. Eine zeithistorische Einordnung lieferte Prof. Dr. Wolfgang Wippermann von der FU Berlin.
 
Ulrich Thöne versprach in seinem Schlusswort, die Diskussion im DGB voranzutreiben: Dies werde nicht die letzte Veranstaltung gegen die Berufsverbote sein. Ein Schritt in die richtige Richtung sei der inzwischen beschlossene Antrag des GEW-Hauptvorstandes:
 
Antrag des GEW-Hauptvorstandes
 
„Die GEW bewertet den ‚Radikalenerlass’ und die darauf beruhende Politik der Berufsverbote als eine politische und rechtsstaatlich falsche Entscheidung, die eine verhängnisvolle gesellschaftliche Entwicklung in Gang gesetzt hat.
 
Die Politik der Berufsverbote richtete sich gegen gesellschaftliche Alternativen zum kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem und versuchte, diese zu kriminalisieren. Die Politik der Berufsverbote führte zu Gesinnungsschnüffelei, die Millionen Menschen betraf, und verbreitete ein Klima der politischen Einschüchterung. Die Politik der Berufsverbote war und ist verfassungswidrig.
 
Die GEW fordert eine umfassende Rehabilitierung der vom sogenannten
‚Radikalenerlass’ vom 28. Januar 1972 und insbesondere der infolgedessen von Berufsverboten betroffenen Menschen durch Bund, Länder und Kommunen.
 
Die GEW fordert von der Politik, die Fehlentscheidung einzugestehen und Vorschläge für die Rehabilitierungs- und Entschädigungsleistungen vorzulegen.
 
Die GEW unterstützt die Forderung, die auf dem ‚Radikalenerlass’ begründeten Akten dem Verfassungsschutz zu entziehen und sie an das Bundesarchiv weiterzuleiten, um sie den Betroffenen und der Wissenschaft zugänglich zu machen.
 
Die GEW fordert die Bundesregierung auf, die sogenannte ‚Extremismusklausel’ unverzüglich zu streichen. Sie kritisiert, dass verantwortliche politische Kräfte weiterhin den Eindruck zu vermitteln versuchen, die ‚Feinde der Demokratie’ stünden links. In diesem Zusammenhang diente die Berufsverbotepolitik schon immer der Blindheit auf dem rechten Auge.
 
Die GEW bedauert die sogenannten Unvereinbarkeitsbeschlüsse und bittet die davon Betroffenen um Entschuldigung.
 
Die GEW verweist in diesem Zusammenhang auf den Beschluss des Gewerkschaftstages von 1980, in dem eine Aufhebung der Unvereinbarkeitsbeschlüsse von 1973 gefordert wird, weil diese ‚die Glaubwürdigkeit der Gewerkschaft in Frage stellen’ und ‚selbst Gesinnungsschnüffelei in den eigenen Reihen’ zur Folge hatten. Die GEW hat 1989 den Verweis auf die Unvereinbarkeitsbeschlusse des DGB in § 8 Abs. 4 ihrer Satzung gestrichen.“ (PK)


Online-Flyer Nr. 346  vom 21.03.2012



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