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Literatur
Aus dem Buch "Das Ende der Kriege" eines US-Kriegsveteranen – IV
Der Bruder mit den Raketen
Von William T. Hathaway

Merna al-Marjan ist eine junge Irakerin, die zurzeit in Deutschland Europäische Geschichte studiert. Ich traf sie in ihrem spartanisch, aber zweckmäßig eingerichteten Zimmer im Studentenwohnheim, einem Gebäude, das einen hoffnungsvollen Wandel in europäischer Geschichte verkörpert: Im 19. Jahrhundert als Kaserne errichtet, beherbergt es nun Studenten. Das ist Fortschritt.
 
Auf einem kleinen Tisch hatte Merna eine Kanne Pfefferminztee und einen Teller mit Baklavas bereitgestellt. Merna ist eine kleine, rundliche Person mit honig-goldener Haut und ausdrucksvollen anthrazitfarbenen Augen. Während unseres Gesprächs trug sie einen langen Rock aus leichter Baumwolle, eine langärmelige Bluse und ein grünes Paisley-Kopftuch.
 
Hathaway: Kopftücher sind hier in Deutschland zu einem kontroversen Kleidungsstück geworden.
 
Al-Marjan: Ja, wenn man eins trägt, darf man nicht an einer Schule unterrichten. Eine Halskette mit Kreuz dürfen Lehrerinnen tragen, aber kein muslimisches Kopftuch. Im Irak habe ich meinen Kopf nicht verhüllt, ich habe aus Solidarität erst hier damit angefangen. Es ist lächerlich, ein Kleidungsstück zu verbannen, ein einfaches Stück Stoff. Was für eine Art Freiheit soll das sein?
 
Der Westen hat, was arabische Frauen – übrigens auch Männer – betrifft, eine völlig verzerrte Sichtweise. Wenn Menschen im Westen mit diesem falschen Bild von Musliminnen ihre ideelle oder militärische Invasion rechtfertigen, werde ich richtig wütend. Sie sind davon überzeugt, dass wir wie sie leben sollten. Wenn sie selber glücklich wären, könnte man das ja noch verstehen. Dann könnten sie sagen: Hey, schaut uns an, macht es uns nach. Aber sie sind viel unglücklicher als viele von uns. Ihre Ehen und Familien fallen auseinander, ihre Kinder begehen schreckliche Verbrechen, begehen Selbstmord. Ihre Gesellschaft ist zersplittert in isolierte, konkurrierende Individuen. Das ist grausam – aber sie wollen uns ihr Leben aufzwingen.
 
Westliche Frauen sind davon überzeugt, dass sie einen Beruf brauchen, um erfüllt zu sein – als ob das etwas Magisches wäre, etwas Besseres als die Mutterrolle. Aber wenn man sich mal genauer anschaut, was Menschen in ihren Jobs tun, ist das nicht wirklich erfüllend. Die Arbeit wird zur Routine und dann langweilig. Vielleicht werde ich mal Professorin, na und? Professoren jonglieren doch nur mit Ideen. Was Menschen in ihren Jobs tun, ist verglichen mit Kindererziehung trivial.
 
Die Arbeit einer Mutter wird in den westlichen Gesellschaften entwertet. Dabei sind sie der emotionale Mittelpunkt einer Familie, sie halten alle im Gleichgewicht, sie wissen, was jeder einzelne in so vielfältiger Form benötigt und geben es ihm – all das erfordert eine weitaus umfassendere Intelligenz als irgendein Job in der Wirtschaft. Mütter stehen für umfassendes Wissen gepaart mit Menschenkenntnis. Die Mütter sollten diejenigen sein, die in unserer Gesellschaft am meisten zu sagen haben. Wir müssen ihnen diese Macht zurückgeben, inklusive einer Karriere, wenn sie das wollen.
 
Eine Familie braucht Geld, aber der Gelderwerb beherrscht unser Leben. Menschen sind entweder arbeitslos und arm, oder sie haben einen Job und sind total erschöpft. Wie wäre es, wenn wir die anfallende Arbeit auf alle verteilen würden? Dann würde jeder ein paar Stunden täglich arbeiten und wir hätten alle genug Zeit für unsere Familien – und genug Geld. Das Leben wäre ausgeglichener. Einige Menschen wären vielleicht nicht mehr so reich wie vorher, aber sie hätten mehr vom Leben. Das viele Geld brauchen sie gar nicht, sie kennen es nur nicht anders. Geld hat das eigentliche Leben ersetzt. Es gibt nie genug davon, denn was man damit kaufen kann, ist nicht wirklich befriedigend. Die Güter lenken uns nur von der Leere in unserem Leben ab. Wir verbringen unser Leben damit, dem Geld hinterherzujagen. Wir sind Sklaven des Mammons geworden.
 
Hathaway: Es ist ungewöhnlich, so etwas aus dem Mund eines so jungen Menschen zu hören. Woher kommen diese Erkenntnisse?
 
Al-Marjan: Natürlich von meiner Mutter. Ihr Leben, ihre Situation, ich hab das alles sehr genau beobachtet, und wir haben viel miteinander geredet. Die Frauen in meinem Land – und wahrscheinlich die meisten nicht-westlichen Frauen – verstehen das. Das bedeutet nicht, dass wir mit unserer Situation zufrieden sind. Wir wollen sie ändern, aber durch Stärkung der Institution Familie. Die Familie sollte die Machtzentrale der Gesellschaft sein, nicht das Geschäftsleben. Im Westen ist das Familienleben dem Arbeitsleben untergeordnet, aber das ist zerstörerisch. Die Arbeit sollte den Bedürfnissen der Familie dienen, nicht umgekehrt.
 
Was wir bei uns im Irak definitiv ändern müssen, ist das Machtverhältnis zwischen Männern und Frauen. Wir brauchen mehr Gleichberechtigung. Wir müssen dafür sorgen, dass Männer Frauen keine Gewalt antun. Aber dafür brauchen wir nicht die Hilfe von den ach so weisen Menschen aus dem Westen. Ihr Modell funktioniert ja nicht mal in ihrer Gesellschaft, also wird es sicher nicht bei uns funktionieren.
 
Hathaway: Wie kommt es, dass Sie in Deutschland studieren?
 
Al-Marjan: Ich habe mit einem Essay über die Gemeinsamkeiten von König Faisal I. und Philippe Pétain ein Stipendium gewonnen. Beide kamen an die Macht, weil sie imperialistischen Eroberern behilflich waren. Faisal half den Briten, den Irak auszubeuten, und Pétain half den Deutschen, Frankreich zu beherrschen. Beide wurden von ihrem eigenen Volk als Verräter gehasst. Der jetzige Marionettenpräsident des Irak – sein Name ist es nicht wert, erwähnt zu werden – unterstützt zurzeit die Amerikaner in gleicher Weise. Aber das habe ich in meinem Essay nicht erwähnt.
 
Hathaway: Warum nicht?
 
Al-Marjan: Weil ich das Stipendium haben wollte. Den Deutschen macht es zwar wenig aus, wenn sie selbst kritisiert werden, aber sie wollen keinesfalls die Amerikaner beleidigen. Sie sind noch immer ein besetztes Land. Außerdem würden sie niemandem ein Stipendium geben, der ein muslimischer Extremist sein könnte.
 
Hathaway: Sind Sie eine muslimische Extremistin?
 
Al-Marjan: Nein, aber das ist egal. Die Deutschen haben Angst. Sie wollen der Welt weismachen, dass sie den Amerikanern nicht bedingungslos folgen, dabei helfen sie ihnen tagtäglich, Iraker und Afghanen zu töten. Und sie wissen, dass das in ihrem Land zu Racheakten führen wird; also lassen sie Muslime nur noch ungern ins Land. Für sie sind wir alle potentielle Terroristen.
 
Hathaway: Wie hilft Deutschland denn den USA im Krieg?
 
Al-Marjan: Eine Sache wurde gerade erst von den Nachrichten aufgegriffen, obwohl es schon vor Beginn des Krieges passiert war. Damals hatte Deutschland Spione ins irakische Verteidigungsministerium geschleust, und diese Spione hatten irakische Geheimdokumente gestohlen. In diesen Dokumenten war detailliert aufgelistet, wo sie im Falle einer amerikanischen Invasion ihre Truppen stationieren wollten, wo Flugabwehrraketen aufgestellt werden und wo Vorräte gelagert werden sollten. Die Deutschen gaben diese Pläne an die Amerikaner weiter, die dann genau wussten, wo sie ihre Bomben fallenlassen mussten. Zehntausende unserer Soldaten kamen dadurch ums Leben. Jetzt müssen ihre Familien sie rächen.
 
Die Deutschen helfen den Amerikanern auch dabei, der neuen Armee und Polizei beizubringen, wie sie das Volk unterdrücken können. Und sie schicken militärisches Equipment, um die Aufstände zu bekämpfen. Iraker werden mit deutschen Waffen getötet. Die deutschen Politiker sagen immer, dass Deutschland sich für den Erhalt von Frieden einsetzt, aber in Wahrheit führen sie Krieg. So etwas vergessen wir nicht.
 
Hathaway: Kennen Sie Aufständische?
 
Al-Marjan: Natürlich ... einige sogar sehr gut. Im Westen werden alle Widerstandskämpfer als Fanatiker hingestellt, aber viele von ihnen sind nicht mal religiös. Sie wollen nur die Eindringlinge loswerden.
 
Sogar die Leute von Al Kaida sind keine wirklichen Aggressoren. Sie kämpfen einen defensiven Krieg. Haben Sie mal die Forderungen von Al Kaida gelesen?
 
Hathaway: Nein.
 
Al-Marjan: Das überrascht mich nicht. Die westlichen Medien haben sie noch nie abgedruckt, weil die Forderungen so vernünftig sind. Zusammengefasst lauten sie: Geht nach Hause und lasst uns in Frieden. Zieht eure Soldaten, eure CIA-Agenten, eure Missionare und Unternehmen aus dem muslimischen Gebiet ab. Wenn ihr das tut, hören wir mit den Anschlägen auf.
 
Nichts von einer Zerstörung oder Islamisierung des Westens. Sie wollen nur, dass die Menschen aus dem Westen auch im Westen bleiben. Wenn die Leute wüssten, wie einfach es wäre, den Terrorismus zu stoppen, würde keiner mehr diesen wahnsinnigen Krieg unterstützen. Und darum ignorieren die Medien die Forderungen von Al Kaida. Die westlichen Regierungen wollen unbedingt verhindern, dass die Menschen den wahren Grund für den Krieg erkennen. Die westlichen Regierungen wollen einen Teil dieser Welt kontrollieren – meine Heimat. Sie wollen sogar den Terrorismus, denn sie brauchen eine Rechtfertigung: Die Bedrohung durch einen bösen Feind.
 
Hathaway: Wie ist Ihre Meinung zu Israel? Ist das auch muslimisches Gebiet?
 
Al-Marjan: Es ist schon immer muslimisch gewesen, seit der Zeit des Propheten, und das wird immer so bleiben – trotz der Invasionen: Erst kamen die Kreuzfahrer, dann die Kolonialisten, und jetzt die Zionisten und Amerikaner. Wir haben die ersten beiden vertrieben, und wir werden auch die Zionisten und Amerikaner vertreiben. Keiner hat das Recht, das zu vereinnahmen, was dem arabischen Volk gehört. Diese Barbaren fallen aus dem Norden ein, und wir werfen sie wieder hinaus. So läuft das.
 
Nur weil die Vorfahren der Juden vor zweitausend Jahren mal an diesem Ort gelebt haben, haben sie heute kein Anrecht auf das Land. Es ist absurd, dass sie nach all der Zeit behaupten, es sei ihres. Aber damit kommen sie nicht durch.
 
Hathaway: Würden Sie sich als Widerstandskämpferin bezeichnen?
 
Al-Marjan: Wenn man auch mit Ideen Widerstand leisten kann – ja. An die Überzeugungskraft von Bomben glaube ich nicht – anders als mein Bruder. Aber auch er war nicht immer so. Lange Zeit fand er die Amerikaner gut. Er hat sogar in den USA in Physik promoviert. Er mag die Leute und hat auch jetzt noch Freunde dort. Nur: Irgendwann begann er, die Regierung zu hassen.
 
Hathaway: Was ist passiert?
 
Al-Marjan: Nun ... etwas mit unserer ganzen Familie.
 
Hathaway: Erzählen Sie mir davon.
 
Merna schaute weg, lächelte schief und schürzte für einen Moment die Lippen. Dann sprach sie.
Al-Marjan: Eines Nachts, es war sehr spät, wachte ich von einem lauten Krachen auf. Die Wände zitterten. Ich dachte, es wäre ein Erdbeben. Dann dachte ich an eine Bombe. Von unten hörte ich Geschrei. Irgendjemand war in unserem Haus. Alles, woran ich denken konnte, war: ‚Sie werden uns töten! Ich will nicht in meinem Pyjama sterben!‘
 
Dann dachte ich: ‚Besser im Pyjama als nackt.‘
 
Ich hatte große Angst, dass man mich vergewaltigen würde. Ich wollte aus dem Fenster springen, aber ich war im ersten Stock. Ich überlegte: ‚Springen ist meine einzige Chance. Wenn ich mir dabei nicht das Bein breche, kann ich vielleicht davonlaufen. Aber wohin? Egal, einfach nur weg.‘
 
Ich zog mir Kleidung und Schuhe an und ging zum Fenster. Männer mit Waffen standen in unserem Hof, Soldaten mit kleinen amerikanischen Flaggen auf ihren Hemden. Ihr Lastwagen parkte direkt vor unserem Haus. Ich konnte nicht fliehen.
 
Dann stampften Männer die Treppen hinauf und brüllten etwas, das ich nicht verstand. Einer von ihnen trat meine Tür auf, ein anderer leuchtete mir mit einer Taschenlampe ins Gesicht. Die Taschenlampe befand sich auf seinem Gewehr, welches direkt auf mich zeigte. Ich schrie – und betete: „Allahu Akbar – Gott ist groß.“
 
Der Soldat, der die Tür aufgetreten hatte, stürmte auf mich zu, packte meine Hand und zog mich die Treppe herunter. Ich fiel hin, aber er lief einfach weiter. Mein Vater, meine Mutter und mein Bruder standen alle in Pyjamas im Wohnzimmer. Meine Mutter zitterte und weinte. Die Eingangstür des Hauses war nicht mehr da, sie hatten sie weggebombt. Es roch nach Rauch.
 
Zwei Soldaten richteten ihre Waffen auf uns, die anderen durchsuchten uns. Wir mussten unsere Hände hinter den Kopf legen und die Beine spreizen, sie suchten unsere ganzen Körper ab. Einer von ihnen steckte seine Hand zwischen meine Beine und grinste. Ein anderer begrabschte die Brüste meiner Mutter.
 
Mein Bruder schrie den Mann an und wollte auf ihn zustürmen, aber die Amerikaner hielten ihn fest. Ich hörte einen Schuss – so dicht, dass es in meinen Ohren wehtat – ich dachte, sie hätten ihn erschossen, aber dann fielen kleine Stückchen der Decke auf uns herab. Einer von ihnen hatte in die Luft geschossen. Sie stießen meinen Bruder zu Boden, traten gegen seinen Kopf, in den Magen und zwischen seine Beine. Er versuchte sich zu wehren, bis ihm einer der Soldaten den Lauf seiner Waffe an den Kopf hielt. Dann schlugen sie ihm ins Gesicht, drehten seine Arme auf den Rücken, legten ihm Handschellen an und malträtierten ihn erneut. Sie nannten ihn Wüstennigger. Auch mein Vater bekam Handschellen. Ich dachte nur noch: ‚Jetzt werden sie meine Mutter und mich vergewaltigen, und mein Vater und mein Bruder müssen zusehen. Dann werden sie uns alle umbringen.‘
 
Mein Vater ist ein sanfter Mann. Er ist Professor für arabische Literatur im Ruhestand. Ihn so erniedrigt und hilflos zu sehen, brach mir das Herz. Ich hatte nie Hass in seinem Gesicht gesehen – bis zu diesem Augenblick.
 
Nachdem sie uns durchsucht hatten, wollten sie unsere Ausweise sehen. Das muss man sich mal vorstellen: Sie brechen in unser Haus ein und wollen unsere Ausweise sehen, als ob wir dort nichts zu suchen hätten! Nachdem wir ihnen die Papiere gegeben hatten, verglichen sie unsere Namen mit den Namen auf einer Liste. „Wo ist Ahmad al-Marjan?“ schrie uns einer von ihnen an. „Ich bin Ahmed al-Marjan. Ich kenne keinen Ahmad“, antwortete mein Vater. „Ihr habt den gleichen Nachnamen, du musst ihn doch kennen. Wo ist er?“ sagte der Amerikaner daraufhin. Mein Vater konterte: „Es gibt Tausende von al-Marjans. Ich kenne sie nicht alle. Das hier ist das falsche Haus. Sie haben die falsche Familie angegriffen. Sie haben unser Haus umsonst zerstört!“
 
Was sie nicht wissen durften: Ahmad war mein Cousin, und er war Widerstandskämpfer. Natürlich wussten wir, wo seine Familie wohnt, aber Ahmad war längst untergetaucht und schlief ständig an anderen Orten. Wann immer er konnte, griff er die Amerikaner und ihre Marionetten-Polizei an. Ich hatte panische Angst, dass die Amerikaner uns foltern würden, um Informationen über ihn zu bekommen. Wie viel wussten sie bereits? Wussten sie, dass er unser Cousin war? Dann wussten sie auch, dass wir sie anlogen und würden uns erst recht foltern. Was würden sie mit uns anstellen? Ich war mir sicher, dass ich das Ganze nicht überstehen würde. Aber verraten hätte ich Ahmad nie und nimmer. Wie hätte ich weiterleben können, wenn sie ihn daraufhin verhaftet oder getötet hätten? Ich bin sicher, dass wir alle in diesem Moment die gleichen Gedanken hatten.
 
„Ist irgendwer von euch im Widerstand?“ fragte der Soldat als nächstes. „Nein“, antwortete mein Vater. „Kennt ihr jemanden aus dem Widerstand?“ – „Nicht, dass ich wüsste. So etwas erzählen die Leute nicht.“ – „Habt ihr irgendwelche Waffen, Bomben oder Informationen über Widerständler hier im Haus?“ – „Nein.“ – „Wenn ihr etwas habt und es uns jetzt sagt, lassen wir euch laufen. Aber wenn ihr nein sagt, und wir finden etwas, werden wir euch alle ins Gefängnis stecken.“ – „Wir haben nichts.“
 
Wir mussten uns auf den Boden legen und sie durchsuchten das Haus. Sie leerten Schubladen aus und warfen Bücher aus den Regalen. Sie schoben den Teppich zur Seite – vielleicht suchten sie eine Falltür. Sie stießen die Möbel um und schnitten die Sofakissen auf. Während dieser ganzen Zeit hielt einer von ihnen seine Waffe auf uns gerichtet.
 
Diese Männer stanken. Ihre Körper waren schmutzig, und ihre Kleidung ebenso. Sie waren ekelhaft. Muslime achten sehr auf Sauberkeit – es war an sich schon eine Beleidigung, diese dreckigen Soldaten überhaupt im Haus zu haben, aber sie zerstörten es auch noch. Wir konnten spüren, dass auch sie Angst hatten. Ihr rüpelhaftes Auftreten sollte das überspielen: Sie schnippten Zigarettenstummel auf unseren Teppich und traten sie mit ihren Stiefeln aus, sie spuckten auf unseren Fußboden. Sie nahmen das Schlafzimmer meiner Eltern auseinander. Sie warfen alle Kleidungsstücke aus dem Kleiderschrank und rissen die Tapeten von den Wänden; sie warfen die Matratze auf den Boden. Auch die Küche und die anderen Zimmer verwüsteten sie.
 
Als sie nichts fanden, stülpten sie meinem Vater und meinem Bruder einen Sack über den Kopf und führten sie zu ihrem Lastwagen. Draußen kam der Hund des Nachbarn, ein großer Schäferhund, bellend auf sie zugerannt. Die Amis brüllten ihn an, er solle die Schnauze halten. Als er begann, die Zähne zu fletschen, schoss einer der Soldaten auf ihn. Aber er war nicht gleich tot. Als sie mit meinem Vater und meinem Bruder davonfuhren, lag der Hund noch jaulend und schmerzverkrümmt auf dem Boden.
 
Mein Vater erzählte mir später, dass sie mit dem Lastwagen etwa 20 Minuten gefahren wären und dann zu einer Gruppe anderer Männer, die sie wohl auf ähnliche Weise eingesammelt hatten, gebracht worden seien. Er wusste nicht, wo sie sich befanden. Die Männer mussten fünf Stunden lang mit den Säcken über ihren Köpfen auf dem Boden sitzen, es gab kein Wasser, kein Essen, keine Toilette. Als einige sich dann irgendwann in die Hosen machen mussten, beschimpften die Amis sie als stinkende Araber. Dann wurden sie wieder auf einen Lastwagen geladen und in ein Gefängnis gefahren – nicht Abu Ghraib, aber irgendwo auf einer amerikanischen Militärbasis.
 
Mein Vater wurde in eine Zelle gesteckt, die er sich mit 20 anderen älteren Männern teilen musste. Sie mussten auf dem nackten Fußboden schlafen, und die einzige Toilette im Raum funktionierte oft nicht. Alle paar Tage wurde er verhört und man fragte ihn immer wieder, wen er aus der Widerstandsbewegung kennen würde und wo die Waffen versteckt wären. Manchmal versuchten sie, ihn einzuschüchtern und drohten mit Folter – sie wollten Namen hören. Sie fesselten seine Hände, verbanden ihm die Augen und hielten eine Elektrosäge an sein Ohr. Aber er betonte immer wieder, dass er nichts wisse und dass die Durchsuchung unseres Hauses ein Fehler gewesen sei, weil die Namen verwechselt worden waren.
 
Nach zwei Wochen ließen sie ihn gehen und boten ihm einen Job als Übersetzer an, weil sein Englisch so gut war. Er wollte sie anschreien: „Verschwindet aus meinem Leben, verschwindet aus meinem Land!“ – aber er traute sich nicht. Er lehnte einfach ab.
 
Meinen Bruder folterten die Amerikaner. Vielleicht, weil er sich bei der Verhaftung gewehrt hatte. Sie zogen ihn aus, wickelten Drähte um seine Zehen und jagten Elektroschocks durch seinen Körper. Dann fragten sie nach Namen von Widerstandskämpfern. Als er nicht antwortete, erhöhten sie die Spannung. Er erzählte mir später, dass er solch schlimme Schmerzen noch nie erlebt hätte. Der Schmerz ergriff Besitz von seinem Körper und ließ seine Arme und Beine wild zappeln. Sein Blut kochte über und seine Haut explodierte – so fühlte es sich an. Während er sich auf dem Boden wand, lachten die Amis über ihn. Dann schütteten sie eimerweise eiskaltes Wasser über ihn, es waren unmenschliche Qualen. Als er dann immer noch keine Namen nannte, sagten sie ihm, dass sie nun die Drähte um seinen Penis wickeln würden. Aber sie taten es nicht. Sie schickten ihn zurück in die große, überfüllte Zelle und holten sich den nächsten.
 
Mein Bruder rechnete jeden Tag damit, dass man ihn noch härter foltern würde. Aber es gab so viele Gefangene, die Amis mussten sich auf diejenigen konzentrieren, die sie am meisten verdächtigten. Diese armen Typen bekamen alles ab – sie wurden nackt von Hunden attackiert, durften nicht schlafen, wurden fast ertränkt, an Haken gehängt, verprügelt, mit Drogen vollgepumpt. Einige von ihnen sah mein Bruder später wieder, zerstört, halb verrückt. Am Leben hielt sie nur die Liebe zu Allah und der Hass auf die Amerikaner.
 
Nach einem Monat ließen sie meinen Bruder frei. Er war verändert, sehr viel schweigsamer und distanzierter. Seine Sanftheit war verschwunden. Stattdessen hatte er eine verbitterte Entschlossenheit und einen redlich verdienten Stolz, nicht klein beigegeben zu haben. Sie hatten ihn nicht gebrochen, er hatte nichts über unseren Cousin erzählt. Er war nun sehr schroff, und ich fühlte mich ihm nicht mehr so nah. Aber ich liebte und respektierte ihn. Ich merkte, dass ihm die Erniedrigung unserer Familie stark zu schaffen machte. In unserer Kultur erfordert so etwas Vergeltung. Nur so kann die Wirkung der Übeltaten neutralisiert werden. Sonst bleiben sie als schwarzer Fleck auf der Seele zurück. Mein Bruder wusste, dass es seine Pflicht war, die Familienehre wieder herzustellen. Mein Vater war alt, meine Mutter und ich Frauen – von uns konnte man das nicht erwarten.
 
Einige Tage nach seiner Entlassung begann er, nach meinem Cousin zu suchen, um sich ihm und den Widerstandskämpfern anzuschließen. Ahmad wusste, dass mein Bruder ins Gefängnis gesteckt worden war. Als er meinem Bruder in die Augen sah, wusste er, dass er ihn nicht verraten hatte. Ahmad hatte schon viele gefolterte Menschen gesehen. Die, die standgehalten hatten, waren stolz und wollten langfristig dem Widerstand dienen. Die, die Informationen preisgegeben hatten, waren innerlich zerstört und wollten sich als Selbstmordattentäter erlösen. Der Widerstand nimmt alle mit offenen Armen auf. Wer unter Folter ausgesagt hat, muss nicht mit Anschuldigungen rechnen, weil jeder weiß, dass es einem selbst so ergehen kann. Das Verlangen nach einem Märtyrertod wird respektiert.
 
Mein Bruder hatte nie ein militärisches Training absolviert. Ich glaube nicht einmal, dass er je zuvor einen Schuss abgefeuert hatte. Das wäre für unsere Familie untypisch. Aber einen Schuss aus einer Waffe abzugeben ist einfach, und bald konnte er das gut. Also wurde er Scharfschütze.
 
Die vielen zerstörten Gebäude in Bagdad bieten Scharfschützen geeignete Verstecke. Aber schnell wurde ihm dieser Job langweilig: „Du musst stundenlang warten und Ausschau halten, bis ein mögliches Ziel in deine Schusslinie kommt – manchmal sitzt man den ganzen Tag vergeblich da. Die besten Ziele sind die Konvois, aber aus Sicherheitsgründen ändern sie ständig ihre Routen. Aus Angst vor Anschlägen jagen sie mit Höchstgeschwindigkeit durch die Stadt. Dabei drängen sie andere Fahrzeuge von der Fahrbahn, fahren Fußgänger über, halten niemals an.“ Er erzählte mir, wie gut es sich anfühlte, die Lastwagen mit der Kalaschnikow zu durchsieben und die Eindringlinge umfallen zu sehen.
 
Danach musste er immer sofort wegrennen, denn manchmal wurden die Konvois von Helikoptern begleitet, die dann das Gebäude mit Raketen in die Luft jagten.
 
Wenn er in der Stadt unterwegs war, trug er immer gut versteckt eine Pistole bei sich. Ein paar Mal konnte er eine amerikanische Patrouille verfolgen, ihnen in den Rücken schießen und dann in der Menschenmenge Schutz suchen. Die Amis schossen dann immer wie wild in alle Richtungen. Natürlich tat es ihm leid, wenn dabei Zivilisten getötet wurden, aber es war der einzige Weg, die Eindringlinge loszuwerden.
 
Und es gab noch einen Grund, warum er die Pistole mit sich führte: Wenn sie ihn einmal erwischt hätten, hätte er zunächst so viele Soldaten wie möglich getötet – und mit der letzten Kugel sich selbst. Er will nicht noch einmal verhaftet und gefoltert werden. Er ist sich sicher, dass sie ihn dann noch grausamer foltern würden. Und ob er das ertragen könnte, weiß er nicht.
 
Er weiß auch nicht, wie viele Menschen er getötet oder verwundet hat, aber auf jeden Fall genug. Die Ehre der Familie ist wieder hergestellt. Trotzdem will er weiter gegen die Amerikaner kämpfen. Er arbeitet jetzt an etwas Größerem, wobei ihm seine Ausbildung zu Gute kommt. Er arbeitet als Physiker im Iran. Dort werden zurzeit kleinere wärmegesteuerte Raketen entwickelt, die US-Flugzeuge abschießen sollen.
 
Mein Bruder sagt, dass die Amerikaner wegen ihrer Flugzeuge überlegen sind. Die Truppen am Boden glauben nicht an das, was sie tun und wollen im Kampf kein Risiko eingehen. Die Soldaten wollen einfach nur überleben und zurück nach Hause – so gewinnt man keine Kriege. Aber die USA kontrollieren den Luftraum. Ihre Flugzeuge und Helikopter können ganze Gebiete zerstören und jeden töten, der sich darin aufhält. Was sie nicht stört.
 
Wärmegesteuerte Raketen sind zurzeit noch unhandlich und teuer. Daher versucht mein Bruder zusammen mit anderen Wissenschaftlern, Sensoren zu entwickeln, die deutlich kleiner sind und günstiger produziert werden können. Mit den neuen Raketen hätte der irakische, afghanische und palästinische Widerstand dann die Möglichkeit, Flugzeuge abzuschießen. Die Machtverhältnisse würden sich komplett verschieben. Dann müssten sie uns von Angesicht zu Angesicht bekämpfen, und dann würden sie verlieren.
 
Ich habe meinen Bruder seit eineinhalb Jahren nicht mehr gesehen. Als wir uns das letzte Mal voneinander verabschiedeten, war er mir vollkommen fremd. Hass und Rachegefühle hatten von ihm Besitz ergriffen, seine Sanftheit war verschwunden. Ich liebe ihn, und es tut mir Leid, was er durchgemacht hat. Ich habe Angst, dass er getötet wird, aber ich kann das alles nicht gutheißen. Gewalt tut keinem gut.
 
Er nennt sein Projekt SAMs für Uncle Sam – und er hält es für eine großartige Idee. Ich nenne es Wahnsinniges Wettrüsten und finde die Idee schrecklich. Es wird nur dazu führen, dass die Amerikaner noch verheerendere Waffen entwickeln, die dann noch mehr Menschen töten.
 
Wir müssen neue Wege gehen. Wir müssen erkennen, dass Krieg keine Probleme löst, sondern neue schafft. Er schürt nur wieder Hass, der zu weiterer Gewalt führt. Und irgendwann werden wir mit unseren Atomwaffen unsere wunderschöne Erde in ein Massengrab verwandeln, nicht nur für alle Menschen, sondern für alle Lebewesen – nur die strahlungsresistenten Insekten werden davonkommen.
 
Hathaway: Einige Leute sind der Meinung, dass diese Kriege einen nuklearen Krieg verhindern können und dass es sinnvoll sein kann, ein anderes Land anzugreifen, um nicht selber von diesem Land angegriffen zu werden.
 
Al-Marjan: Das sind fürchterliche Lügen. Jeder Krieg wird uns als Präventivkrieg verkauft. Das ist das Lieblingsargument der Tyrannen, und manche von ihnen glauben wahrscheinlich tatsächlich, dass sie von Wilden bedroht werden und sich verteidigen müssen. Hitler behauptete, dass er die westliche Zivilisation vor den russischen Horden beschützen müsse. Saddam Hussein dämonisierte die Iraner, er schürte Angst und trieb sein Volk so in einen Krieg. Aus dem gleichen Grund hat Bush die Iraker dämonisiert.
 
Auch mit dem Vietnamkrieg hab ich mich beschäftigt. Die Kriegstreiber haben damals gesagt: „Wenn wir die Kommunisten nicht in Vietnam bekämpfen, werden wir sie in Kalifornien bekämpfen müssen. Denn sie wollen uns zerstören.“ Aber das stimmte nicht, es war sogar genau andersrum: Die Kommunisten waren dabei, ein neues Wirtschaftssystem aufzubauen, und darum wollten die Kapitalisten die Kommunisten zerstören. Die Kriegstreiber haben schon immer versucht, ihre Gegner als brutale Aggressoren hinzustellen. Um an der Macht zu bleiben, erzeugen sie Angst.
 
Die USA wenden häufig einen Trick an. Sie unterstützen zunächst verdeckt die reaktionäre Seite eines Bürgerkriegs mit Waffen und finanziellen Mitteln. Wenn dann die Reaktionäre ihren Kampf zu verlieren drohen, regt man sich in Washington plötzlich auf über diesen schrecklichen Krieg und die vielen Toten. Dann müssen die Amerikaner sofort intervenieren – angeblich aus humanitären Gründen, um Frieden zu schaffen und um einen Massenmord zu verhindern. Und wenig später führen sie einen Krieg und versuchen, die andere Seite zu zerstören.
 
Hathaway: Wie, glauben Sie, wird der Krieg, der jetzt im Gange ist, enden?
 
Al-Marjan: Als Desaster für die Amerikaner. Sie haben den Krieg angefangen, und sie verdienen es auch, ihn zu verlieren. Sie denken, dass sie mit all ihren Waffen und all ihrem Geld gewinnen können, aber meine Landsleute sind stärker. Wir werden weiterkämpfen und uns so lange widersetzen, bis die Eindringlinge und ihre Marionettenregierung geschlagen sind.
 
Ihre sogenannten irakischen Sicherheitskräfte sind doch nur wegen des Geldes dort. Sie werden sich nicht für die Amerikaner opfern, sie werden ihr Geld nehmen und wegrennen.
 
Je mehr Menschen die Amerikaner umbringen, desto mehr Feinde machen sie sich. Sie können nicht alle töten. Wir sind stärker als sie. Wir haben sie umzingelt, sie trauen sich nicht mehr aus ihren Lagern heraus, genau wie in Vietnam. Irgendwann werden wir sie aus dem Land vertreiben, ihre arabischen Söldner loswerden und unser Territorium zurückgewinnen – auch das Öl und alles andere. Wir sind ein geduldiges Volk, die Amerikaner nicht. Sie fühlen sich nicht wirklich wohl in ihrer Haut. In ihrem tiefsten Innern wissen sie, dass sie Unrecht tun im Irak. Eine Weile lang können sie das ignorieren, aber nicht auf Dauer. Es nagt an ihnen. Sie sind auch nur Menschen. Sie wissen, dass sie auf eine Invasion in ihrem Land genauso reagieren würden wie wir. Ihnen fehlt einfach das Herzblut für diesen Krieg. Uns nicht. Es ist unsere Heimat, und wir werden gewinnen.
 
Aber das Tragische ist, dass es damit noch nicht zu Ende sein wird, weder für den Irak noch für die USA. Die Gewalt, die die Amerikaner heraufbeschworen haben, wird in beiden Ländern präsent bleiben. So ist das leider mit der Grausamkeit: Sie hört nicht einfach auf, sondern wird sich in anderer Form weiter ausbreiten. Der Krieg mag dann vorbei sein, aber die Menschen auf beiden Seiten sind mit der Grausamkeit des Krieges infiziert. Wie eine Krankheit wird sie sich ausbreiten. Sie wird neue Opfer finden, die dann zu Tätern werden und andere anstecken. Gewalt ist eine Plage, und da Amerika sie über unser Land gebracht hat, wird Amerika auch die Hauptlast tragen müssen – in Form von Tod, Verbrechen und Chaos in ihrer Gesellschaft. Sie werden so viel Leid ertragen müssen, wie sie verursacht haben. Das ist die göttliche Gerechtigkeit.
 
Hathaway: Kennen Sie ein Mittel gegen diese Krankheit?
 
Al-Marjan: Sicher. Die UNO muss mit mehr Macht ausgestattet werden, dann kann sie für Frieden sorgen. Die amerikanische Invasion im Irak ist eine klare Verletzung der UN-Charta, aber die UNO kann nichts dagegen tun. Es muss möglich werden, Invasionen und andere Kriegsakte für ungesetzlich zu erklären und die Aggressoren mit politischen und ökonomischen Sanktionen zu belegen. So könnte diesen Ländern zum Beispiel Herstellung und Besitz von Militärwaffen – vom Sturmgewehr bis zur Atombombe – verboten werden. Die Regierungen könnten einen Teil ihrer Militärausgaben in einen internationalen Friedensfonds einzahlen, der weltweit nach Waffen sucht und sie zerstört. Und keine militärische Ausbildung mehr, schickt die Soldaten nach Hause!
 
Ich behaupte nicht, dass es dann keine Probleme oder Konflikte mehr geben würde, aber es würden auf jeden Fall weniger Menschen getötet.
 
Auch der Kompetenzbereich des Weltgerichtshofs müsste erweitert werden. Er könnte dann Konflikte zwischen Ländern oder ethnischen Gruppen schlichten. Konflikte könnte man dann mit Gesetzen lösen, anstatt mit Gewalt. Das nennt man Zivilisation. Innerhalb von Ländern funktioniert das schon ziemlich gut. Nun müssen wir dafür sorgen, dass es auch zwischen Ländern funktioniert. Das wird sicher schwierig, aber wir können es schaffen ... wir müssen es schaffen.
 
Hathaway: Sind Sie dafür, dass auch alle Waffen, die sich in Privatbesitz befinden, abgegeben werden sollten?
 
Al-Marjan: Wenn man einen entsprechenden Waffenschein besitzt, spricht nichts dagegen, dass man zur eigenen Sicherheit eine Pistole oder zum Jagen ein einfaches Gewehr zu Hause hat.
 
Hathaway: Ihre Ideen hören sich vernünftig an. Es wäre einen Versuch wert.
 
Al-Marjan: Wir könnten so viele Leben retten und so viel Geld sparen, das an anderer Stelle fehlt. Aber die Politiker und die Firmenbosse haben kein Interesse daran. Sie brauchen das Militär, um ihr Imperium auszubauen und um an der Macht zu bleiben. Für sie ist das wichtiger als Frieden, denn ihre Kinder sterben nicht in den Kriegen.
 
Regierungen und Unternehmen sind die wahren Feinde der Menschen geworden. Wir müssen ihnen die Macht nehmen. Sie dürfen nicht weiter töten. Wir alle sind potentielle Opfer. Ich hab die Politik von Saddam Hussein am eigenen Leib erfahren und dann die von George W. Bush. Daher weiß ich, dass wir einen völlig anderen Ansatz brauchen. Zwischen diesen beiden Männern besteht im Grunde genommen kein Unterschied. Beide sind Mörder.
 
Die USA haben Saddam Hussein zur Macht verholfen. Sie wussten, dass er den Irak mit eiserner Hand führen und die Ölvorkommen niemals verstaatlichen würde. Mit massiver Militärhilfe hielten sie ihn im Amt. Saddam Hussein war nur eine Marionette der USA, der dann dummerweise die Dreistigkeit besaß, seine Fäden zu kappen und selbständig zu handeln. Also haben sie ihn erhängt.
 
Amerika und Großbritannien werden so gehasst, weil sie sich überall einmischen. Darum gibt es Terrorismus. Die Menschen sind es leid, missbraucht zu werden und ihre Politik und Wirtschaft nicht selbst kontrollieren zu können. Wir haben die Schnauze voll von dieser neuen Form des Kolonialismus. Wir wollen nicht, dass der Westen uns und unser Öl kontrolliert. Wir wehren uns mit der einzigen Waffe, die wir haben: Guerillakrieg.
 
Hathaway: Was ist mit den arabischen Anführern, die auf der Seite der USA sind?
 
Al-Marjan: Diese sogenannten Anführer kümmern sich nur um die Interessen der reichen Elite im Land. Sie folgen westlichen Interessen und werden von der Bevölkerung gehasst. Nur mit den Waffen des Westens bleiben sie an der Macht.
 
Aber das Ganze ist zum Scheitern verurteilt. Die USA und ihre reichen Araber werden bald ihr Waterloo erleben. Bush hat‘s vermasselt, indem er Amerika zu viele Feinde beschert hat. Millionen von Menschen verachten die USA. Die können sie nicht alle töten. Vor Bushs Amtszeit war das amerikanische Ziel der Weltherrschaft noch unter dem Deckmantel der Diplomatie verborgen. Seine Dummheit ist zu einem Segen für die Menschheit geworden. Seine Politik machte die Pläne offensichtlich, und das führte zu einem Massenwiderstand. Obamas Aufgabe ist es nun, alles wieder unter dem Deckmantel zu verhüllen, aber dafür ist es zu spät.
 
Ich bin stolz, Araberin zu sein, weil wir an der vordersten Front Widerstand leisten. Wir stellen uns der mächtigsten Militärmaschinerie entgegen, die die Welt je gesehen hat ... und werden sie besiegen. Vor 40 Jahren taten das die Vietnamesen, und jetzt tun wir es.
 
Hoffentlich begreifen die Amerikaner irgendwann, dass sie mit ihren Kriegen nichts erreichen können, dass sie andere Länder nicht beherrschen können. Das wäre ein großer Schritt in Richtung Frieden. (PK)
 
 
"Der Bruder mit den Raketen“ ist ein Kapitel aus "Das Ende der Kriege". Das Buch befasst sich mit dem wachsenden internationalen Widerstand gegen den US-Militarismus und schildert die Geschichten von Menschen, die alternative Wege zum Frieden verfolgen. Es wurde gerade vom JESBIN Verlag veröffentlicht, und Auszüge sind auch auf http://www.jesbin.de/Buecher.html#panel-4 zu finden. .
 
William T. Hathaways erstes Buch, "A World of Hurt", erhielt für seine kritische Darstellung des US-Militärs den Rinehart Foundation Award. Weitere Infos: http://www.peacewriter.org.
Er ist Kriegsveteran der US Special Forces und Friedensaktivist, jetzt wegen des Patriot-Acts im deutschen Exil. Er war Gastprofessor für Amerikanistik an den Universitäten Bonn und Oldenburg. (PK)


Online-Flyer Nr. 342  vom 22.02.2012



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