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Kommentar
Entschuldigung für die Massaker an den Kurden zu Atatürks Zeiten
Erdoğan wagt kalkulierten Tabubruch
Von Claus Hübner

Am 23.11. um 19.50 Uhr überraschte www.tagesschau.de mit einer Meldung aus der Türkei, die Türkeikennern fast den Atem verschlagen musste. Dort war zu lesen: „Erdogan entschuldigt sich für Massaker an Kurden. Der türkische Ministerpräsident Erdogan hat sich offiziell für die Tötung von knapp 14.000 alevitischen Kurden durch türkische Regierungstruppen in den 30er-Jahren entschuldigt. Es ist das erste Mal, dass sich die Türkei für vom Staat begangene Verbrechen an ethnischen Minderheiten entschuldigt.“

Tabubrecher Recep Tayyip Erdoğan
NRhZ-Archiv
 
Weiter vermeldete der ARD Hörfunkkorrespondent Reinhard Baumgarten aus Istanbul: „Bei Luft- und Bodengriffen sowie anschließenden Exekutionen waren in den Jahren 1937 und 1938 in der damaligen Provinz Dersim im Osten der Türkei nach offiziellen Angaben 13.806 Menschen getötet worden. Die Provinz ist von alevitischen Kurden bewohnt und wurde nach der Niederschlagung der Rebellion in Tunceli umbenannt.“ - Baumgarten bezeichnete Erdoğans Entschuldigung vollkommen zu Recht als Tabubruch.
 
Versuchen wir das aus der Distanz einmal zu verstehen. Bevor Mustapha Kemal, genannt Atatürk, an seinem Leberleiden im November 1938 verstarb, verordnete er der Republik Türkei eine Radikalkur ohne Gleichen. Auch wenn Atatürk 1923 eine Republik gründete, agierte er unumstritten als Diktator und setzte seine extrem nationalistischen „Modernisierungen“ zum Teil ziemlich brutal durch. Wer sich ihm widersetzte und nicht kaufen ließ, wurde beseitigt. Dies führte zu heftigen Widerständen, nicht nur bei den Kurden, aber vor allem dort.
 

Mustafa Kemal Atatürk
NRhZ-Archiv
Die ehemals verbündeten Kurden hatten Atatürk vor 1936 nicht unterstützt, um dann von ihm unterworfen zu werden. Das führte zu dem Massaker mit den schon erwähnten knapp 14.000 ermordeten Kurden und der Umbenennung der kurdischen Namen der Provinz und ihrer Dörfer in türkischen Namen.
 
Insofern hat Erdoğan recht und eine Entschuldigung der türkischen Politiker ist mehr als überfällig. Aber wer dieses Thema in der Türkei bisher ehrlich diskutierte, musste damit rechnen, wegen „Verunglimpfung des Türkentums“ im Gefängnis zu landen oder anderweitig schikaniert zu werden. Man muss Ministerpräsident Erdoğan diese Entschuldigung hoch anrechnen und dies insgesamt als positive Entwicklung in der türkischen Geschichte ansehen. Ab sofort müssen die türkischen Geschichtsbücher umgeschrieben werden!
 
CHP in Zugzwang gebracht
 
Aber Erdoğan wäre nicht er selbst, wenn er es dabei belassen würde. Er setzte nämlich noch einen drauf. Er fordert nämlich die größte Oppositionspartei, die CHP (die angeblichen Sozialdemokraten der Türkei) ebenfalls auf, sich für dieses Massaker zu entschuldigen. Er begründet dies damit, dass es bis 1946 nur eine Einparteienregierung durch die CHP (die von Atatürk 1923 gegründet wurde!) gab und eigentlich die CHP daher für dieses Massaker verantwortlich sei! - Und wieder hat Erdoğan recht und die CHP und deren Anhänger als „Hüter des Kemalismus“ in große Probleme und in Zugzwang gebracht.
 
Erdoğan jetzt ein Musterdemokrat oder weiter Schachspieler?
 
Müssen wir damit rechnen, dass Ministerpräsident Erdoğan sich jetzt zu einem Musterdemokraten entwickelt? Wir können darauf hoffen, aber rechnen sollten wir damit lieber nicht so schnell.
 
• Dagegen sprechen im Moment die seit Monaten andauernden Massenverhaftungen von Kurden und anderen Kritikern.
• Dagegen sprechen die militärischen Aktivitäten gegen die PKK im Nordirak, bei denen Tausende von Opfern zu beklagen sind.
• Dagegen spricht auch eine Strafanzeige gegen Ministerpräsident Erdoğan und die Generalstabschefs der Türkei auf Grundlage des Völkerstrafgesetzbuches in Deutschland.
• Und auch bei den Erdbeben in der Region um Van versagte Erdoğan offensichtlich! Die Menschen dort sterben, nachdem sie dem Erdbeben entkommen sind, auf der Straße wegen Unternährung und/oder Erfrierungen.
 
Wie ist diese Bitte um Entschuldigung denn nun politisch zu bewerten? Erdoğan hat von dieser Entschuldigung nur Vorteile, die seine Position im Lande weiter festigen werden.
 
1.) Bei vielen Kurden, die der seit Jahrzehnte andauernden Kriegshandlungen müde sind, wird er erleichterte Zustimmung finden und weitere Anhänger bekommen.
2.) Die im Moment stärkste Opposition, die nationalistische CHP wird deutlich unter Druck gesetzt und muss sich entweder entscheiden, sich seiner Entschuldigung anzuschließen oder ihr zu widersprechen. In beiden Fällen profitiert Erdoğans Partei als die aktivere und beweglichere in der Türkei.
3.) Die PKK wird unter Druck gesetzt, weil Erdoğan signalisiert: „Guckt mal, ich gebe zu, Euch ist Unrecht getan worden, ich bin der erste Ministerpräsident der das zugibt!“ Dies wird die Position der PKK nicht gerade stärken.
4.) International „beweist“ er damit, wie fortschrittlich er sein kann und punktet auch in diesem Bereich.
5.) Das alles wird bewusst oder unbewusst auch dann eine Rolle spielen, wenn es denn in Deutschland überhaupt auf Grund der schon erwähnten Anzeige wegen Kriegsverbrechen zu einer Anklage gegen ihn kommt.
 
Wie ich in der NRhZ schon einmal geschrieben habe, agiert Erdoğan wie ein Schachspieler und macht sehr selten einfach mal einen Zug ins Blaue. Alles (inklusive seiner Wutausbrüche) ist meistens gut überlegt und hat den Sinn, seine Position zu festigen oder auszubauen.
 
Ob es einem gefällt oder nicht: Zu Erdoğan gibt es politisch, auf jeden Fall solange die Wirtschaft nicht entscheidend zusammenkracht, im Moment keine reale Alternative. Darauf sollten sich alle Akteure einstellen, die irgendetwas in der Türkei bewegen wollen. Dies gilt für die EU genauso wie für die Opposition innerhalb der Türkei. (PK)


Online-Flyer Nr. 330  vom 30.11.2011

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