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Globales
Rede auf einer Protestkundgebung am Samstag in Bonn
Kinder in Palästina
Von Ulrike Vestring

Freude über den Sieg der deutschen Mannschaft, gutes Essen und Trinken, ein sicherer Schlaf. Und ein neuer, friedlicher Tag. Die Kinder haben Ferien, planen einen Ausflug oder ein Picknick, Sie machen ein paar Einkäufe. Das war die Stimmung am vergangenen Wochenende in deutschen Städten. Und in Palästina?

In Palästina, im Westjordanland, und vor allem in Gaza: anderthalb Millionen Menschen, die eben jetzt den vierten Tag einer mörderischen Militärinvasion erleben. Lebensmittel und Medikamente werden knapp, die Krankenhäuser haben nicht genug Narkosemittel und nicht genug Verbandszeug, um Verletzte zu versorgen. Es gibt keinen Strom - das Elektrizitätswerk wurde zerbombt, Generatoren gezielt zerstört. Private Generatoren nützen nicht mehr viel - es gibt kein Dieselöl mehr. Es gibt kein Wasser - die Pumpen, die es an die Oberfläche, in die Häuser bringen, laufen nicht mehr. Seit vier Tagen können die Menschen in Gaza ihre Häuser kaum verlassen, aus Angst vor Bomben und Raketen. Sie verbringen die Nächte auf dem Fußboden, Knallspuren der Düsenflugzeuge und Lärmbomben machen sie fast wahnsinnig.

Anderthalb Millionen Menschen - über die Hälfte von ihnen sind weniger als 16 Jahre alt. Kinder, die seit Jahren von der Besatzung traumatisiert, von Unterernährung gezeichnet, in ihrer Entwicklung gestört sind. Und gegen diese Kinder eine übermächtige, mit allen Waffen ausgerüstete Besatzungsarmee. Es ist ein Krieg gegen Kinder.

Haben diese Kinder jetzt nicht auch Schulferien? Sollten sie nicht auch auf Reisen gehen können, an den Strand? Aber am Strand gleich neben den großen Flüchtlingslagern in Gaza, wo die aus ihren Heimatdörfern Vertriebenen seit drei und vier Generationen hausen - an diesem Strand lauern tödliche Gefahren: erst kürzlich wurde durch Raketen fast eine ganze Familie ausgelöscht, nur ein kleines Mädchen blieb schwer verletzt übrig. Vielleicht haben es da die Leute im Westjordanland besser: sie dürfen den Gaza-Streifen nicht betreten. Ihre Kinder haben das Meer, kaum eine Autostunde entfernt, noch nie gesehen.

Eine Ferienreise? Ein palästinensisches Kind, das seine Großeltern in der Nachbarstadt besuchen will, braucht einen Passierschein. Ein Junge, der Freunde im nächsten Dorf besuchen will, muss sein Fahrrad über die Erd- und Schuttwälle bugsieren, die die Besatzungstruppen vor seinem Dorf aufgehäuft haben, vor jedem Dorf.

Ein Kind, das zum Arzt muss, eine schwangere Frau, die zur Entbindung ins Krankenhaus will? Sie müssen einen und meistens mehrere Kontrollposten passieren - und ob sie passieren, hängt allein von der Gnade der Besatzungssoldaten ab.

Wer sind diese Besatzungssoldaten? Es sind furchtbar junge, oft hilflose und dadurch unberechenbare Wehrpflichtige. In Israel werden Jungen und Mädchen am Ende ihrer Schulzeit zum Militär eingezogen. Sie sind 18 Jahre alt.

Der israelische Panzersoldat, der von Widerstandskämpfern aus Gaza gefangen genommen wurde, ist 19 Jahre alt. Seinetwegen, sagt die israelische Armee, werden in Gaza Brücken, Gebäude, Versorgungseinrichtungen zerstört. Seinetwegen hat die israelische Armee 64 palästinensische Politiker gekidnapt, unter ihnen acht Minister.

Seinetwegen machen israelische Hubschrauber Jagd auf den demokratisch gewählten Ministerpräsidenten der Palästinenser. Seinetwegen stehen tausende von hochgerüsteten israelischen Soldaten zum totalen Angriff auf Gaza und das Westjordanland bereit.

Einen anderen jungen Wehrpflichtigen hat die israelische Armee selbst in Gewahrsam genommen. Er wurde bei dem Angriff der palästinensischen Widerstandskämpfer verletzt und konnte entkommen. Er hatte begonnen, den Angriff etwas anders zu schildern als die offizielle Version der israelischen Armee. Was er zu sagen hatte - das hat unsere großen Zeitungen nicht interessiert.

Die Widerstandskämpfer, die den jungen Gilad Shalit als Kriegsgefangenen behandeln, haben seine Freigabe angeboten, wenn Israel im Gegenzug die palästinensischen Frauen und Kinder und ältere Gefangene freilässt, die es in seinen Militärgefängnissen festhält.

Von den 9.400 Palästinensern, die in israelischen Gefängnissen sitzen, sind 126 Frauen, und 300 sind Jugendliche unter 18, die jüngsten sind zwölf. Sie sitzen in so genannter Administrativhaft, ohne Anklage, ohne konkrete Beschuldigung, auf unbestimmte Zeit.

Israel lehnt es bisher ab, diese Frauen und Kinder freizugeben, damit der junge Israeli nach Hause zurückkehren kann. Wie viel ist Israel das Leben von Gilad Shalit wert? Wie viel ist ihm das Leben all der jungen Rekruten wert, die es in eine Militäroffensive gegen die verzweifelte Bevölkerung von Gaza schickt?

Bisher hat nur der französische Außenminister das israelische Kidnapping der 64 Minister und Politiker verurteilt, die zur palästinensischen Führungselite gehören, und ihre Freilassung gefordert. Was fordert eigentlich die deutsche Regierung? Hat sie die mörderische Agression Israels verurteilt?




Online-Flyer Nr. 51  vom 04.07.2006



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