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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Inland
„Kein Arsch und kein Tittchen!“
Wohin die Reise geht!
Von Dietmar Spengler

„Ich esse meine Suppe nicht! / Nein, meine Suppe ess‘ ich nicht!“ dichtet der Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann im Jahr 1845 in seinem Generationenerfolg „Struwwelpeter". Ein Kinderbuch, das der Mätrisierung(1) bürgerlicher Bengels diente. Neben dem „Zappelphilipp“, dem „Hans-Guck-in-die-Luft“ und dem „Daumenlutscher“ kam auch der „Suppenkaspar“ im Erziehungsrepetitorium des biedermeierschen Familienlebens zur Anwendung. Die Geschichte schildert den unfolgsamen Knaben, der die tägliche Suppe verweigert, dünner und dünner wird, bis er endlich, abgemagert zum Streichholz, verhungert. Realer Hintergrund war das auf dem Jakobifriedhof in Leoben befindliche Grab eines1834 verstorbenen neunjährigen Jungen, der die Nahrungsaufnahme solange verweigerte, bis er starb. Ein Kuriosum der Erziehungsgeschichte. Eine verlogene Farce der Gründerpädagogik, die in Zeiten von Weberaufstand und den in Mitteleuropa grassierenden Hungersnöten wohl nur das Gutsherrenmilieu betraf.


Werbetafel von H&M
Foto: Dietmar Spengler
 
Nahrungsverweigerer und Nahrungsbedürftige gibt es auch zuhauf im angehenden 21. Jahrhundert. Die einen gewollt, die anderen ungewollt. Einen Hungerhaken präsentiert ein Textilkonzern, der sich zur Aufgabe gemacht hat, das Outfit der Notstandsgesellschaft mit ärmstlandproduzierter Ware zu gewährleisten. Bundesweit kündet auf Cityvektoren das Hunger-Model mit nachkriegstauglichem Habitus Missliches an. „Zieht euch warm an“ heißt die Botschaft, welche der magersüchtigen Göre mit den spitzen Wangen und den fahlen Augenhöhlen mitgegeben ist. Schluss mit den wohlgeformten Prinzessin-Lillylife-Groupies. Schleckermäulchen und Naschkatzen entsprechen nicht dem Ernst der Lage.
 
Vollumfängliches Abschminken steht an. 14 Euro 95 ist der Preis dafür. Erschwinglich für fast jedermann. Haben die Herren Hennes und Mauritz von der schwedischen Modekette H&M etwa die Zeichen der Zeit erkannt, den Kunden vorab schon mal mit dem ultimativen Überlebensschick vertraut zu machen? Zuzutrauen wäre es ihnen wohl. Die Weltschneider verstehen ihr Handwerk. Können jährlich im Voraus erspüren, wohin der Modewind sich dreht!

Cartoon: Kostas Koufogiorgos
 
„Alles unter Kontrolle!“ hält die cyangeblazerte Pastorentochter dagegen. Die sitzt im Ledersessel von Deutschlands beliebtestem Schwiegersohn, die Beine übereinandergeschlagen und plaudert in ungezwungenem Talk von Solidarität und alternativlosem Handeln. Das schmusige Tête-à-Tête in der ARD war notwendig geworden, um die wankelmütigen Parteibrüder auf Linie zu bringen. Der Zuschauerfrage, woher das Geld für die milliardenschweren Hellas-Bürgschaften (z.Zt. 211 Mrd. Euro Kredite) kommen soll, ließ die Kanzlerin wohlweislich offen. Wer von den verbürgten Griechenland-Krediten profitiert, wollte oder konnte sie nicht beantworten. Die Griechenlandgläubiger lassen die Korken knallen! Vor der Beantwortung der Frage, ob die Griechen ihre Schulden jemals zurückzahlen könnten, drückt sie sich und schiebt die drei Kürzelinstitutionen (IWF, EK, EZB) vor: „Die müssen uns sagen, schaffen die das oder schaffen die das nicht“. Von selbstbestimmter und mündiger Handlung, die jedem Bürger abverlangt wird, ist keine Rede. Im Gegenteil! Mit der Kanzlerweisheit, dass sich „die Welt von gestern mit der von heute nicht vergleichen lässt“ hat die Politik jedes maßstäbliche Instrument verloren gegeben.
 
Die neuen Macher sind aus anderem Holz geschnitzt. Die international agierende Finanzlobby bestimmt der Kurs, den die Ministerien zu fahren haben. Eine Reform des Börsen- und Finanzwesens, die um das Volk zu beruhigen, propagiert wurde, ist sang- und klanglos abhanden gekommen. Gesetze werden heute in Anwaltskanzleien geschrieben, „weil die dafür notwendige Kompetenz nicht mehr vorhanden ist“, so der Ökonom Prof. Max Otte. Minister und Spitzenbeamte stehen Schlange, um von den Aufsichtsräten von Wirtschaft und Finanz Direktiven zu empfangen. Deren Manager interessieren allein Gewinn- und Gehaltsmaximierung.
 
Nur nicht anhalten, nur nicht nachdenken, jetzt erst recht Gas geben, heißt die Devise, nach der die panisch agierende Finanzbürokratie sich durchwurstelt. Die EZB kauft pausenlos die Ramschanleihen auf und paukt damit die Spekulanten aus ihren katastrophalen Schieflagen. Die Regierung stellt Milliardenwechsel aus, welche die Bevölkerung einzulösen hat. Immer mehr Steuergelder werden in den Euro-Rettungstopf gepumpt, Geld, das u.a. bei der Bank aufgenommen wird, welche Kanzlerin und Athen in der misslichen Angelegenheit berät. Wenn da nicht der Bock zum Gärtner gemacht wurde! Und am Ende landet der Stoff, mit dem die hemdsärmeligen Glücksspieler und Spekulanten ihre Dauerparty feiern, mit Hochzinsgewinn bei den Acker-männern. Das staatliche Finanzwesen ist vollends zum Spielfeld der Zocker verkommen.
 
Die Freundin des Banken-Anführers, der die faulen Papiere unters Volk gebracht hat, scheint damit kein Problem zu haben. War es doch die rotgrüne Bundesregierung, welche die neoliberalen Reformen auf den Weg brachte: Steuerreformen zugunsten der Reichen und der Unternehmensgewinne, Entgrenzung der Finanzmärkte, Abbau der sozialen Leistungen mit Hartz-IV und Agenda 2010, Einrichtung eines profitablen Niedriglohnsektors, Arbeits-zeitverlängerungen, Aushebelung der Tarifautonomie, Demolierung des paritätisch finanzierten Rentensystems, Einschnitte in die Gesundheits-versorgung, Privatisierung öffentlicher Infrastrukturen. Für die Kanzlerin gab es kaum etwas wegzuräumen. Schröder und Fischer haben das Kapital glänzend bedient.
 
Das teutonische Exportmodell bekommen nun auch die südländischen "Faulenzer" zu spüren. Während die einfachen Leute zur Kasse gebeten werden, sonnen sich die Abkünftlinge des listenreichen Odysseus im Goldregen aus Europa. Und die Konkursverwalter stopfen sich die Taschen voll.
 
Hier, im eigenen Land, schlägt sich der brave Arbeitnehmer mit einem Jahresgehalt, das etwa den Tagesbezügen eines Managers der Großfinanz entspricht, durch das bundesrepublikanische Jammertal. Schlimmer geht es den Heroen der neuen Vollbeschäftigungspolitik. Die Leiharbeiter, sprich "Arbeitssklaven", die erfunden wurden, um die Personalkosten zu drücken, maximieren mit ihren untertariflichen Bezügen, flankiert durch von der Leyens zahnloses Mißbrauchsgesetz, den Profitder Verleih- und Beschäftigungsfirmen. Die Bundesagentur für Arbeit glänzt durch Kooperation mit den Verleihfirmen und mit einer von Ein-Euro-, Mini-, und Befristetenjobs, mit Teilzeitbeschäf-tigung und Zeitarbeit sanierter Erfolgsbilanz. Ganz mies läuft es für die "Paria" der Gesellschaft. Die dürfen am kollektiven Glücksspiel nicht mehr teilnehmen. Sie gehören zur Risikogruppe der Erwerbslosen. Ihnen ist vorbehalten, sich schlecht und recht in den vom sozialdemokratischen Kapitalismus verordneten Hartz IV-Nischen einzurichten. Die anderen aber feiern derweil den Untergang der Kultur mit Schampus in ihren Luxuslimousinen. Dazwischen bangen die auf Abruf getrimmten Nochbeschäftigten um ihr armseliges Privileg, dem Boss die Stiefel zu lecken!
 
Gegen soziale Unruhen, wie sie mitunter über den heimischen Bildschirm flimmern, ist man zwischen Rhein und Oder gewappnet. 30 Jahre politische (Um)erziehung durch das konsumpropagierende Kapital haben jedes politische Bewusstsein getilgt. Heutzutage gibt es Mitbürger welche die Menschenrechte mit Tiefstpreisgarantie verbinden. Einzige Rettung in diesem Finanzklamauk verspricht der Schuldenschnitt. Experten fordern ihn umgehend. 50 Prozent, eher mehr wird spekuliert. Das betrifft vorerst Hellas! Doch Portugal, Spanien, Italien und Belgien stehen vor der Tür. Und wie soll die BRD ihre auf 2072,2 Mrd. (2,1 Billionen) Euro angelaufenen Schulden jemals an die Weltbanken zurückzahlen? Früher hatte man die einfache Lösung: Krieg! Danach gab es Währungsreformen, und die Leute waren ihr Geld los. Und der Staat seine Schulden!
 
„Wenn es ernst wird muss man lügen“ soll der Eurogruppen-Chef Jean-Claude Juncker im Frühjahr gesagt haben. Das setzt voraus, dass man die Wahrheit kennt. Bei Merkel und ihrem Anhang muss man dies bezweifeln. Denn wenn sie nichts weiß, dann lügt sie nicht. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass unsere Staatslenkerin einen unsichtbaren Beifahrer hat: Ob sie zu Gott bete, wollte der Interviewer von der Vorsitzenden der christlichen Partei noch wissen. Er bekam prompt die Auskunft: „Mir hilft, dass ich Christ bin (…)“. Wenn‘s ihr hilft?
 
Und die Moral von der Geschicht‘: „Am vierten Tage endlich gar, / Das Fräulein wie ein Fädchen war. / Es wog vielleicht ein halbes Lot / Und war am fünften Tage tot“ (frei nach Heinrich Hoffmann).
 
(1) Mätrisierung, vom französischen Maître (Meister, Lehrer etc.), meint Kontrolle, Beherrschung der Kinder
 
Dietmar Spengler ist promovierter Kunsthistoriker im Ruhestand und kann das Räsonieren nicht lassen!


Online-Flyer Nr. 322  vom 05.10.2011



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