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Aktueller Online-Flyer vom 28. März 2024  

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Arbeit und Soziales
Notizen und Anmerkungen zu den „Konsumkrawallen“ in England
Die große Wut der Überzähligen
Von Götz Eisenberg

In London und anderen englischen Großstädten wie Birmingham, Liverpool und Manchester explodierte Anfang August der aus sozialer Verelendung und Verzweiflung erbrütete Zündstoff. Nachdem die Polizei einen farbigen Mann und Vater dreier Kinder erschossen hatte, brannten die Innenstädte. Geschäfte wurden geplündert, die Polizei war pausenlos im Einsatz und schien der Lage nicht mehr Herr zu werden. Man hatte alle Polizisten aus dem Urlaub zurückbeordert. Circa 1500 sogenannte Randalierer wurden festgenommen, fünf Menschen kamen zu Tode. Eine lang gestaute Wut entlud sich ungerichtet, blindwütig schlugen die jungen Leute auf die Fassade ein. Ganze Stadtteile versanken in Schutt und Asche, es sah aus wie im Krieg. Wir bekamen einen Vorgeschmack kommender Revolten.

Premierminister David Cameron
Quelle: www.soundportal.at
  
Der englische Premierminister Cameron brach seinen Toscana-Urlaub ab und kehrte nach England zurück, um martialische Reden zu schwingen und den Jugendlichen mit drakonischen Strafen zu drohen. Cameron möchte den Familien der Randalierer die Sozialhilfe entziehen. Schnellgerichte urteilen rund um die Uhr die jungen Leute ab und schicken sie nach einer zehnminütigen Gerichtsverhandlung wegen des Diebstahls von Wasserflaschen für ein halbes Jahr ins Gefängnis. Die Antwort auf die Folgen sozialer Desintegration ist pure Härte und Repression. Man könnte auch sagen: Staat und Gesellschaft lassen es sich etwas kosten, die Ursachen der Gewalt bestehen zu lassen und ihre Folgen repressiv zu bekämpfen. Die britische Politik profitiert davon, wie Heribert Prantl bemerkte, „dass die Unruhen so sprachlos gewalttätig, so destruktiv sinnlos und so niederträchtig waren. Die Blödheit der Randalierer hat es der Regierung erleichtert, in der eigenen Dummheit zu verharren.“
 
Es gibt eine Revolte einer perspektivlosen Jugend fast überall in Europa, nur in Deutschland nicht. Die spontanen Emeuten bedürfen dringend der politisch-moralischen Orientierung und Kontrolle, sonst werden sie nicht nur zu nichts führen, sondern der Reaktion und dem Ausbau der staatlichen Gewaltapparate und der Militarisierung der inneren Sicherheit in die Hände arbeiten. Aber wo sind die Kräfte, die der Revolte eine Richtung und einen politischen Inhalt geben und sie der regulativen Idee der sozialen Emanzipation unterstellen könnten?
 
In keinem der vielen Kommentare, die ich in den letzten Tagen zu den Ereignissen in England gehört und gelesen habe, war vom Stolz die Rede. Oder besser: vom gekränkten Stolz der jungen Leute. Zornig werden Menschen, wenn man ihren Stolz mit Füßen tritt und ihre Anerkennungsbedürfnisse chronisch übergeht. So etwas brütet Rachsucht aus. „Grausamkeit“, sagt Nietzsche, „ist das Heilmittel des verletzten Stolzes“.
 
Hätten wir nicht auch jede Menge gute Gründe, „Tage des Zorns“ abzuhalten? Den Unterschied zwischen den nordafrikanischen Ländern, in denen zur Zeit Aufstände stattfinden und dem Land, in dem wir leben, hat die aus Rumänien nach Deutschland emigrierte Herta Müller in ihrem Roman „Reisende auf einem Bein“ beschrieben: „In dem anderen Land habe ich verstanden, was die Menschen so kaputtmacht. Die Gründe lagen auf der Hand. Es hat sehr wehgetan, täglich die Gründe zu sehen. ... Und hier, sagte Irene. Ich weiß, es gibt Gründe. Ich kann sie nicht sehen. Es tut weh, täglich die Gründe nicht zu sehen.“
 

Autor Götz Eisenberg
Quelle: drömer-knaur
„Die Bösen sind wir los; das Böse ist geblieben“, könnte man mit Peter Brückner einen Prozess charakteri-sieren, in dessen Verlauf unmittelbare Herrschaft und manifeste Gewalt sich zurückziehen, ohne indessen in einen gewalt- und herrschaftsfreien Zustand zu münden. Die „Peitsche des Aufsehers“ wird vom „stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ (Karl Marx) abgelöst und durch subtile und lautlose Mechanismen der Kontrolle ersetzt. Herrschaft hat sich entperso-nalisiert und anonymisiert, sie tarnt sich immer perfekter als Technik und tritt den Menschen gegenüber als sogenannter Sachzwang auf. Gegen wen oder was soll die akkumulierte Wut sich wenden, wen können wir zur Verantwortung ziehen? Wer ist Schuld an unserem diffusen Unbehagen und unserer Misere? Wir werden von unsinn-lichen Abstraktionen und um die Erde zirkulierenden Geldströmen be- herrscht. Die Abstraktheit und Anonymität der Verhältnisse, unter denen viele Menschen leiden, ist auch der Grund, warum sich die Revolte so blindwütig artikuliert. IWF, WHO, Weltbank, Börsen und Finanzströme kann man nicht mit einer Baseballkeule und Steinwürfen treffen. Sie entziehen sich dem Zugriff, deswegen hält sich die Wut an Symbole im Nahbereich, die als Ersatzobjekte fungieren. Das meinte ich, als ich vorhin schrieb: Sie schlagen blind auf die Fassade ein.
 
In England wird bei den seltenen Versuchen, die Ursachen der Krawalle zu ergründen, dieser Tage gelegentlich gefragt: „Wer sind wir? Und was für eine Gesellschaft haben wir überhaupt geschaffen?“ Zentral in dieser Auseinandersetzung ist ein Beitrag des Kolumnisten Peter Oborne im „Daily Telegraph“, in dem der Autor unter anderem schreibt: „Die Kriminalität auf unseren Straßen kann nicht getrennt behandelt werden von der moralischen Desintegration auch in den höchsten Rängen der modernen britischen Gesellschaft, ob Banken oder Politik. In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben wir einen erschreckenden Verfall der Normen unter Englands regierender Elite erlebt. Es wurde akzeptabel unter unsern Politikern, zu lügen und zu betrügen. Eine fast universale Kultur aus Selbstsucht und Gier hat sich bei uns breit gemacht.“
 
Wohl wahr. Wer immer sich ein Gewissen und einen halbwegs klaren Blick bewahrt hat, muss die Verwahrlosung und moralische Verwilderung der herrschenden Klassen und ihre Auswirkungen auf die Masse der Bevölkerung thematisieren und ihre Mitschuld beim Namen nennen. Eine Gesellschaft, deren einziger kategorischer Imperativ der der Bereicherung ist, darf sich nicht beklagen, wenn die wertzynische Motorik des Geldes und die Imperative der Flexibilisierung die moralischen Traditionsbestände und menschlichen Eigenschaften wie die Fähigkeit zu Empathie und Mitleid erodieren lassen und zerstören. Dem Geld ist, salopp gesagt, alles egal. Es fließt dahin, wo die Chancen seiner Vermehrung am größten sind.
Eine Gesellschaft, welche die Entstehungsbedingungen des Menschlichen ihren ökonomischen Funktionsimperativen opfert und es zulässt, dass auf die Kindheit der Kälteschatten von Elend, Indifferenz und Bindungslosigkeit fällt, darf sich nicht wundern, wenn in ihrem unwirtlichen Schoß eine Generation heranwächst, die nur noch die psychischen Korrelatformen des Marktes entwickelt: kalte Schonungs- und Rücksichtslosigkeit, moralische Indifferenz und eine latente Feindseligkeit, die jederzeit in Hass umschlagen kann. Wir sind Zeugen einer „anthropologischen Mutation“ und erleben mit, wie sich der wahrhaft kapitalistische und flexible Mensch herausbildet, der von keinerlei Hemmungen von nichts mehr zurückgehalten wird.

 
Unter den Bedingungen fortdauernder Herrschaft wird die Zerstörung von Moral und Über-Ich grauenhafte Züge annehmen, solange nicht solidarische Bande und bewusste Reflexion an die Stelle reflexartigen Funktionierens treten und die Menschen mit der „äußeren Herrschaft auch deren Niederschlag in ihrem Inneren beseitigen. Unsere Lage ist aber dadurch gekennzeichnet, dass die industrielle Zivilisation ins Stadium ihrer Selbstzerstörung eingetreten ist, ohne dass irgendwelche produktiven Gruppierungen schon bereit stehen oder auch nur erkennbar sind, die diesem Zerfallsprozess eine emanzipatorische Wendung geben könnten. Das sind gesellschaftliche Situationen, aus denen Barbarei erwächst.
 
Gegenwärtig erleben wir ein Zugleich von nachlassender Integrationskraft der Arbeitsgesellschaft, die immer weniger in der Lage ist, die Gesamtheit der Menschen über den Modus der Lohnarbeit sozial zu integrieren und deshalb "Überschuss-Bevölkerung" produziert, einer Lockerung der Selbstzwänge zur Befolgung von Gesetzen und Normen, was sich nicht nur in einem Anwachsen der Ladendiebstähle, des Blaumachens und Schwarzfahrens ausdrückt, sondern in einer Zunahme von Akten privater und neuerdings auch politisch motivierter Aggression, und schließlich einer Militarisierung des Staates, der auf diese Desintegrationsphänomene mit dem Ausbau von Instrumenten des Fremdzwangs reagiert. Im Sinne Peter Brückners und unserer bisherigen Argumentation würden die Grundlagen der Regierbarkeit erschüttert, wenn die Verwandlung von Fremdzwang in inneren Selbstzwang nicht mehr in ausreichender Zuverlässigkeit stattfindet. Wo die innere Polizei nicht mehr in der Lage ist, für die Aufrechterhaltung der Ordnung zu sorgen, muss die „äußere Polizei vermehrt in Erscheinung treten. Die Repräsentanz des Staates in den Individuen beginnt zu schwinden. Umso dringlicher wird es für ihn, als sichtbare „äußere Gewalt, als Polizei, wieder anwesend zu sein. Max Horkheimer hat unsere Zeit als eine Zwischenperiode beschrieben, wo das Gewissen die Menschen nicht mehr und staatliche Gewalt und/oder automatisierter Gehorsam sie noch nicht integriere und bei der Stange halte. (Max Horkheimer, Gesammelte Schriften Bd. 13, Ffm. 1989, S. 226/227) Horkheimer war der Meinung, dass die Phase der Steuerung der Gesellschaft über die Innerlichkeit der Individuen, über Moral, Gewissen, Über-Ich lediglich ein Zwischenspiel darstellt auf dem Weg zur „total verwalteten Welt“, wo die einzelnen automatisch auf „äußere Signale“ reagieren. Die Menschen wären dann komplette Tauschmaschinen, reine Geldsubjekte, "schlaue, fortgeschrittene, zynische Vulgärpragmatisten", die nicht einmal mehr von einem unglücklichen Bewusstsein heimgesucht würden, sofern das System die Güter zu ihrer Befriedigung liefert. (Bd.14, S.350)
 
Habermas hatte schon Ende der 1960er Jahre die Diagnose gestellt, der inzwischen wohl niemand mehr widersprechen mag: „Die sozialpsychologische Signatur des Zeitalters wird weniger durch die autoritäre Persönlichkeit als durch Entstrukturierung des Über-Ich charakterisiert.“ Die Entstehung des Über-Ichs, der Gewissensinstanz, ist an bestimmte Bedingungen gebunden, die immer weniger anzutreffen sind. Immer seltener werden deshalb Aggressionen von verinnerlichten Hemmungen und moralischen Einsprüchen des Gewissens an ihrem rohen Durchbruch gehindert. Lang vorbei sind die Zeiten, da - wie in Heinrich Manns Roman "Der Untertan" - ein deutscher Junge Herzklopfen empfand, wenn ein Schutzmann am Horizont auftauchte. Das kann man unter gewissen Aspekten sicher auch begrüßen, aber wenn gar nichts an die Stelle der reflexartigen Unterwerfungsbereitschaft und des blinden Gehorsams tritt, kann es eigentlich nur barbarisch werden. Wenn das staatliche Gewaltmonopol außer Kraft gesetzt wird, beginnt nicht das Reich der Freiheit, sondern herrscht das Dschungelrecht, das Recht des Stärkeren. Doris Lessing hat in ihrem „Bericht über die bedrohte Stadt“ bereits geschrieben, dass in Zeiten gesellschaftlichen Zerfalls diejenigen überleben werden, die sich auf das Chaos und die Katastrophe eingestellt haben. „Die Bürgerlichen, die Befehlsempfänger, die Angepassten, die Gutmütigen müssen damit rechnen, die ersten Opfer zu werden. Aber die Vagabunden, die Kriminellen, die Verrückten, die Allerärmsten werden die Mittel haben, um zu überleben. Wir kommen daher zu der Überzeugung, dass wenn sich das Erdbeben innerhalb der nächsten fünf Jahre ereignet, niemand übrigbleibt als jene Menschenklasse, die die gegenwärtigen Führer der Gesellschaft als nicht wünschenswert ansehen …“ 
 
Wenn man Habermas weiterdenkt, kann man zu folgenden Thesen gelangen: Die sozialpsychologische Situation der Gegenwart ist dadurch gekennzeichnet, dass immer mehr Menschen in eine anomische Position gedrängt werden, in eine objektive Kränkungs- und Entwertungssituation. Gleichzeitig wird die Fähigkeit, mit Kränkungen angemessen und reif umzugehen, immer weniger erworben. Genau daraus resultiert der immer häufiger zu beobachtende Ausbruch narzisstischer Wut und raptusartiger Gewalt. Die jungen Leute leben im Zustand einer permanenten Frustration: Sie werden tagein-tagaus mit Bildern des Luxus vollgestopft und gleichzeitig verwehrt man ihnen die Mittel, um die Gegenstände auf legalem Weg erwerben zu können. Gleichzeitig bildet sich das zurück, was man Frustrationstoleranz nennt. Zum Begreifen der Kriminalität, die sich in diese städtischen Revoltformen mischt, braucht man eigentlich nur Robert K. Mertons soziologische Kriminalitäts-Theorie: Die jungen Leute begehren, was alle begehren und was man besitzen muss, wenn man dazu gehören will - also Markenturnschuhe, Plasma-Bildschirme, gewisse Handytypen usw. -, aber sie verfügen nicht über die gesellschaftlich vorgegebenen Mittel, um an diese Dinge heranzukommen. Ihre Kriminalität ist, wenn man so will, devianter Konformismus. Sie plündern Vodafone-Filialen und Elektrogeschäfte, erbeuten Turnschuhe, Plasma-Bildschirme, Smartphones und Süßigkeiten. Wenn die Teilnahme am Konsum mehr und mehr über die Zugehörigkeit zur Gesellschaft entscheidet, gehört, wer bestimmte Dinge nicht vorzeigen kann, eben nicht dazu. Die Jugendlichen holen sich die Dinge nun auf ihre Weise. Der britische Historiker Owen Jones hat deshalb vorgeschlagen, von „Konsumkrawallen“ zu sprechen. Die Krawalle erinnern ihn eher an einen massenhaften Ladendiebstahl, denn an politisch motivierte Widerstandshandlungen gegen den Staat.
 
Meine „Vandalismus-Formel“ lautet also: Gesellschaftliche Desintegration (also Schrumpfen des Arbeitsmarktes, Mehrfach-Ausgrenzungen) plus psychische Entstrukturierung (also Über-Ich-Schwund, verbreitete Ich-Schwäche, Neigung zu primitiven Formen der Abwehr, unintegrierte, archaische Wut) = Wahrscheinlichkeit, dass ratusartige Gewaltausbrüche zunehmen.
 
Ein paar sogenannte Fakten und Zahlen: In keinem anderen westeuropäischen Land, so konnte man dieser Tage in vielen Zeitungen lesen, ist die Kluft zwischen Arm und Reich so groß wie in Großbritannien. Großbritannien liegt auf dem letzten Platz der europäischen Staaten beim Gini-Index, das heißt: nirgends klafft die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinander. Die oberen zehn Prozent der Gesellschaft verfügen über hundertmal so viel Geld wie die unteren zehn Prozent. Das Realeinkommen der ärmeren Schichten sinkt ständig weiter. England liegt bei der Jugendarbeitslosigkeit im europäischen Vergleich vor Spanien und Griechenland auf dem drittletzten Platz, sie beträgt rund zwanzig Prozent. Polizeiwillkür gegenüber schwarzen Jugendlichen ist an der Tagesordnung. Ihre Chance, von der Polizei angehalten und kontrolliert zu werden, ist rund 25 Mal so hoch wie bei Weißen. „England unter Cameron kann wie Frankreich unter Sarcozy nach wie vor als Klassengesellschaft bezeichnet werden. Man gehört vor allem dann nicht dazu“, schreibt Joachim Kersten in der TAZ vom 15. August 2011, „wenn man die falsche Hautfarbe oder den falschen Familiennamen hat, denn bei der Jobsuche oder der Polizeikontrolle nützt auch der richtige Pass nicht viel. Man ist Staatsbürger dritter Klasse. Junge Männer und Frauen finden keine Arbeit. Das ist das Antlitz des Rassismus, das Erbe der kolonialen Grandiosität, der Überlegenheit der weißen ‚Rasse‘, ihres Militärs und ihrer Polizei.“
 
Was wäre denn, wenn solche Aktionen auch aus dem Grund begangen würden, ein einziges Mal Ursache von etwas zu sein? Menschen, die stets Mittel fremder Zwecke und Anhängsel von etwas Äußerem sind, von dem sie einfach nur mitgeschleift werden, wollen endlich einmal Ursache von etwas sein, und wenn es Straftaten sind. Wer immer nur Amboss ist, möchte endlich mal Hammer sein, wie man in der Sprache der Arbeiterbewegung sagen würde. Die Jugendlichen genießen den flüchtigen Rausch der Machtausübung und dass sie es sind, die Angst und Schrecken verbreiten. Die Jugendlichen hocken nach ihren wandalischen Aktionen vor dem Fernseher, sehen die Bilder vom Tage und sagen sich: „Das waren wir! Die ganze Aufmerksamkeit gilt Taten, die wir begangen habe!“ Wieder einmal scheint das Programm des malignen Narzissmus wirksam zu sein: Negative Aufmerksamkeit ist besser als gar keine.
 
Die wertabstrakte Militanz, die uns an den Krawallen so erschreckt, quittiert auch den Umstand, dass den jungen Leuten der Weg zur Produktion und damit zu traditionellen Formen des Klassenkampfes versperrt ist. Sie können nicht streiken und Fabriken besetzen, weil sie keine Arbeit haben. Sie sind die Überzähligen, die Herausgefallenen, das, was die Ökonomen in ihrem zynischen Jargon Surplus-Bevölkerung nennen. Wir erleben das Wiederauftauchen „gefährlicher Klassen“, die für die Zeit der Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise charakteristisch waren. Konnten damals entwurzelte, plebejische Massen und unterbürgerliche Schichten noch nicht über den Modus der Lohnarbeit integriert werden, so heute die aus dem Arbeitsmarkt Herausgefallenen und Überzähligen nicht mehr. Die neue „gefährliche Klasse“, gegen die man sich rüstet und von der ein Großteil der Gewalt verübt wird, die die Öffentlichkeit erschreckt, wird im Wesentlichen von jungen Männern zwischen Pubertät und Heiratsalter gebildet, für die keine verbindlichen oder wirksamen Regeln und Schranken des Verhaltens mehr bestehen und deren Verhalten kaum noch durch verinnerlichte Normen gesteuert wird. Sie werden nicht einmal mehr ausgebeutet, aber schlimmer noch als Ausbeutung scheint zu sein, komplett ignoriert und wie Fische auf dem Trockenen liegen gelassen zu werden. Arbeit zu haben bedeutet weit mehr, als über eine geregelte Einnahmequelle zu verfügen. Arbeit vermittelt Teilhabe und Anerkennung. Arbeit ist der Ort der Vergesellschaftung, da einem abends zugerufen wird: „Tschüs, und dann bis morgen!“ Wenn Identität sich weitgehend über Leistung herstellt, heißt es im Umkehrschluss: Wo keine Leistung erbracht werden kann und darf, kann sich auch keine Identität ausbilden. Gerade für junge Leute besteht die Funktion von Arbeit auch darin, ihre wild wuchernden Vorstellungen von der eigenen Grandiosität zu „erden“ und Legierungen mit gesellschaftlich realistischen Erwartungen eingehen zu lassen. Arbeit trägt dazu bei, die oft noch ungekonnten Äußerungsformen ihres Antriebslebens zu bändigen, Aggressionen der Kontrolle des Ichs zu unterstellen und gesellschaftlichen Zielen dienstbar zu machen. Fehlende Arbeit kann in einer Arbeitsgesellschaft zur Quelle von Persönlichkeitsstörungen und Depressionen werden.
 
Kindheit und Jugend münden für viele heutige Jugendliche direkt ins Ghetto, und die Ghetto-Lage brütet Rachegefühle und Hass aus. Zu den drängenden Fragen der Gegenwart gehört: Wie soll man eine Identität in einer Gesellschaft ausbilden, die einem bedeutet, dass sie einen nicht benötigt? Wie sollen Menschen sich wehren, wenn sie nichts haben, das sie der Gesellschaft entziehen oder verweigern können? Es gibt für die Überflüssigen und Herausgefallenen nur die Wahl zwischen einem depressiven und einem aggressiven Modus der Verweigerung: Selbstverbrennung, Hungerstreik, das stumme Nein des Körpers und der Selbstzerstörung durch Drogen oder die Randale, die Zerstörung, die gewaltsame Aneignung dessen, was man ihnen verweigert.
 
Jean Baudrillard hat gesagt: „Wenn die Gewalt aus der Unterdrückung aufsteigt, dann der Hass aus der Entleerung.“ Die Räume wie die Menschen sind arbeitslos. Man baut ganze Wohn- und Bürostädte, die ewig leer stehen werden, Auswüchse von Verbrechen und Spekulation. „Ghost towns – ghost people: die Menschen darin sind selbst endlos als Abfälle reproduzierbar oder als einfache Figurinen, die diese Junggesellenmaschine in Gang halten – Symbole des circulus vitiosus der Produktion, in welcher – im Gegensatz zu der historischen These – nicht mehr die Arbeit das Kapital reproduziert, sondern das Kapital selbst die Arbeit unbestimmt reproduzieren muss.“ „Die Menschen, die zum Abfall ihrer eigenen Abfälle werden – sie sind das Zeichen einer Gesellschaft, die ihren eigenen Werten gegenüber gleichgültig geworden ist und die sich selbst in Gleichgültigkeit und Hass austreibt.“ Wären die jungen Leute noch Teil der Arbeiterklasse, bekämen sie, wenn sie über die Stränge schlügen, von ihren älteren Kollegen die Leviten gelesen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kann man das an der deutschen Arbeiterbewegung studieren: Die jungen Heißsporne aus dem Osten werden von ihren gewerkschaftlich und in der SPD organisierten älteren Kollegen gebremst und zivilisiert und an die Einhaltung gewisser Formen gewöhnt. Man schlägt dem Chef keins in die Fresse, sondern geht solidarisch oder auch listig gegen ihn vor. „Immer langsam mit den jungen Pferden“, bekamen sie gesagt und lernten ihre Lektionen in politischen Kämpfen und Disziplin. Ihre Aggressivität wurde domestiziert und in eine aufklärerische Richtung gelenkt.
 
Eine weitere Krux heute: Es existieren keine gesellschaftlichen Kräfte, die diese Sozialisierung und Zivilisierung der jungen Wilden leisten und übernehmen könnten. Es gibt keine Arbeitermilieus mehr, kaum noch Gewerkschaften und schon gar keine revolutionär gestimmten Arbeiter. Es fehlt eine strategische Bündelung der verschiedenen Konfliktpotenziale und Unruheherde. Die Älteren stoßen sich an der Unübersichtlichkeit der Welt und dem rasanten Tempo des Fortschritts, das sie schwindeln macht und die Welt nicht mehr verstehen lässt. Die jungen Leute sind arbeits- und perspektivlos, die Studierenden leiden unter der Verschulung ihrer Studiengänge und den fehlenden Aussichten auf einen angemessenen Job, die Arbeitenden bekommen immer weniger Geld für ihre Arbeit und werden prekär beschäftigt. Die ganz Alten werden in abscheuliche Heime abgeschoben und vegetieren dort vor sich hin. Es käme darauf an, all diese verschiedenen Potenziale und Intentionen zu einem einzigen mächtigen Willensstrahl zu bündeln und sie strategisch zu codieren. Wo ist unsere Fähigkeit geblieben, den Menschen zu interpretieren, was mit ihnen los ist? Warum sind wir nicht in der Lage, das oft stumme Leiden der Menschen beredt werden zu lassen und kämpferisch gegen seine Verursacher zu wenden?
 
Ich erinnere mich gut, wie ich 2005, als es in den französischen Vorstädten zu brennen begann, morgens von der aufgeregten Stimme eines jungen Maghrebiners, die aus dem Radio an mein Ohr drang, aus dem Schlaf gerissen wurde, der den saturierten Bürgern wütend seine Anklage entgegenschleuderte: „Wir werden nicht gebraucht und von euch wie Dreck behandelt. Und jetzt regt ihr euch auf, dass eure Autos brennen!“ Die Unruhen in Frankreich waren ausgebrochen, nachdem zwei Jugendliche am 27. Oktober 2005 in Paris auf der Flucht vor der Polizei die Absperrung zu einem Transformatorenhäuschen überwanden und dort von Stromschlägen tödlich getroffen wurden. Sarkozy sprach angesichts der nachfolgenden Unruhen in den Banlieus von „kriminellem Gesindel“, das mit Hilfe eines Hochdruckreinigers weggespült werden müsse. David Cameron nennt nun Teile der englischen Gesellschaft „krank“. Kranke Teile des Volkskörpers müssen herausoperiert und entfernt werden. Die anständigen Engländer fordern den Einsatz scharfer Munition gegen den „enthemmten Pöbel“.
Was charakteristisch für die revoltierenden jungen Leute ist: Sie haben nichts, sie besitzen nichts. Es gibt nichts, was sie an diese Gesellschaft bindet: weder Arbeit, noch Eigentum, noch die Liebe, die dem schweifenden Trieb Dauer und Form verleiht, indem sie ihn an ein Objekt bindet. Sie sind abstrakt, ohne Wurzeln, ohne so etwas wie Heimat, ohne emotionale Bindungen. Libidinöse Beziehungen zu und emotionale Bindungen an Menschen und Dinge sind aber das einzig wirksame Antidot gegen die Gewalt. Das gilt für einzelne Menschen wie für Gruppen und Klassen. Wer zu nichts und niemand eine Beziehung unterhält, fühlt sich niemandem gegenüber zu nichts verpflichtet. „Nur wer sich selbst auch anerkannt fühlt, hat ein Interesse an der Stabilität gesellschaftlicher Normen und gewaltsamer Ordnung“ schreibt Wilhelm Heitmeyer in der TAZ vom 25. August 2011.
 
Und noch etwas: Die Bilder, die wir aus Frankreich in Erinnerung haben und die wir jetzt aus England übermittelt bekommen haben, führen uns vor Augen, was in vielen Teilen der Welt traurige tägliche Realität ist. Es herrscht Krieg und Bürgerkrieg. Autos und Häuser brennen, Menschen sind auf der Flucht und sterben.
 
Der afrokaribisch-französische Schriftsteller und Politiker Aimé Césaire hat in seinem 1955 erschienenen Buch "Über den Kolonialismus" bereits angesichts des Algerienkrieges davon gesprochen, dass die koloniale und imperiale Gewalt in die Mutterländer zurückschlage und dort zu einer „Rebarbarisierung“ und „Verwilderung“ des gesellschaftlichen Klimas führe, eine Erfahrung, die sich später in den USA im Kontext der Kriege in Vietnam, Afghanistan und im Irak bestätigte. Die Veteranen leben in einer Welt aus Scheidung, Alkohol, Drogen, Verbrechen, Polizei, Gefängnis und Depression. Noch fast dreißig Jahre nach der Rückkehr aus Vietnam kann Lester Farley, ein Vietnamveteran, dem wir in Philip Roth’s Roman "Der menschliche Makel" begegnen, kaum eine Nacht richtig schlafen, ist unruhig, trinkt, neigt zu Gewalttätigkeiten und terrorisiert Frau, Kinder und seine ganze Umgebung. Er empfindet sich als ein Mann, der in Vietnam „gestorben ist“ und seither als „Untoter“ mit anästhesierten Gefühlen weiterlebt. Jede Soldateneinheit, die aus einem Kriegseinsatz zurückkehrt, kann man als lebendige Quelle von Gewalt begreifen. Immer wieder wird davon berichtet, dass amerikanische Kriegsheimkehrer nicht ins zivile Leben zurückfinden und ihre Familien und sich selbst umbringen. Laut Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.11.2009 wird seit 2001 auf Militärstützpunkten ein Anstieg der häuslichen Gewalt um 75 Prozent verzeichnet. Während die Gewaltkriminalität in vergleichbaren Städten zurückgeht, stieg sie in Garnisonsstädten seit 2001 um 22 Prozent an. „Der Krieg ist darin schlimm, dass er mehr böse Menschen macht, als er davon wegnimmt“, wusste bereits Kant.
 
Bei uns in Deutschland seien Gewaltausbrüche wie in England nicht zu befürchten, versichern Politiker und ihre wissenschaftliche Leibstandarte. Ein Narr, wer ihnen das abnimmt. (PK)
 
 
Götz Eisenberg ist ein deutscher Sozialwissenschaftler und Publizist. Im Anschluss an eine Ausbildung zum Familientherapeuten erhielt er eine Stelle beim Psychologischen Dienst der JVA Butzbach, wo er seit 1993 als Gefängnispsychologe arbeitet. Er schreibt für die Frankfurter Rundschau, die Schweizer Wochenzeitung (WOZ) und die in Gießen erscheinende Zeitschrift psychosozial. Seit den frühen 70er Jahren schreibt Eisenberg theoretische Texte und Essays, die in der Tradition der Kritischen Theorie (Frankfurter Schule) und des antiautoritären Denkens der Neuen Linken stehen. In NRhZ 249 vom 12.05.2010 finden Sie eine Rezension zu seinem Buch „...damit mich kein Mensch mehr vergisst! - Warum Amok und Gewalt kein Zufall sind.“ Pattloch Verlag, April 2010, 303 Seiten, Preis: 16.95 Euro


Online-Flyer Nr. 318  vom 07.09.2011



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