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Literatur
Fortsetzungsroman in der NRhZ - Folge 19
Max - Jahrgang 27
Von Lutz Köhlert

maxMai 1945 - Der zweite Weltkrieg ist zu Ende. Zu den ziel- und richtungslosen deutschen Soldaten gehört auch Max, siebzehnjähriger Kadett der Deutschen Kriegsmarine, den es nach Norwegen verschlagen hat. Er wird von den Engländern interniert, von den Amerikanern abtransportiert und den Franzosen übergeben. Die stecken ihn in eine Antimonmine in den Cevennen. Dort arbeitet er bis Ende 1947, meist unter Tage. Die Arbeit ist schwer und nicht ungefährlich. Eine gewisse Entschädigung dafür ist das sanfte Mittelmeerklima, seine schöne Vegetation und reiche Fruchtbarkeit. Noch Jahrzehnte später wird er von den sonnigen Felsterrassen über dem Gardon träumen, vom „Garten Frankreichs“, wo er das „Dornröschenschloß“ findet und seine erste Liebe, Marie-Paule.

Paule hat Schwierigkeiten zu Hause. Die Nachbarn haben natürlich gesehen, daß sie mit Max spazierengegangen und im Wald verschwunden ist, und sie können – aus eigener Erfahrung – natürlich nicht an die Harmlosigkeit dieses Beisammenseins glauben (obwohl man zugestehen muß, daß die bisher noch uneingestandenen, aber drängenden Gefühle der beiden bald keine Beiläufigkeit mehr zulassen werden). Außerdem kann man sich doch eine so schöne Gelegenheit, der Nachbarin eins auszuwischen, nicht entgehen lassen.
Jedenfalls kommt die Geschichte so an Paules Mutter, daß sie ihre Tochter mit scharfen und wenig wählerischen Worten zur Ordnung ruft, vor allem da es sich um einen Gefangenen handelt, wobei Ausdrücke wie ,Luder‘ oder ,Schlampe‘ zu den gewählteren gehören. Sogar die Muttergottes wird bemüht: „Heilige Madonna! Hilf mir, dieses verdorbene Kind wieder an seine Pflichten als Tochter zu erinnern und auf den rechten Weg zu bringen!“ Sie habe nichts gegen die Deutschen im allgemeinen, aber müsse sie denn ausgerechnet mit einem Gefangenen gehen, wo sie schon keinen Mann kriegen würde, so wie sie aussehe? Sie mache sich nun noch nach dem Kriege zum Kollaborateur. Und dann fällt sie in Selbstmitleid, daß sie mit so einer Tochter geschlagen sei.
Der Vater, wortkarg und in dreißig Ehejahren gehärtet, verbietet seiner Tochter, sich mit einem Gefangenen herumzu-treiben, und droht ihr für den Wiederholungsfall Prügel an.
Paule errötet, schlägt aber nicht die Augen nieder. Sie läßt die Vorwürfe über sich ergehen und verteidigt sich nicht, was ihre Mutter als Starrsinn auslegt – nicht ganz zu Unrecht.
Uneingestanden befürchtet die Mutter, daß sich Paule in einen Jungen verlieben könnte, der eines Tages wegfährt, einfach aus ihrem Leben verschwindet und sie enttäuscht und verlassen zurückläßt.
Sie ahnt nicht, wie berechtigt diese Befürchtung ist.
Max wartet im Dornröschenschloß auf Paule. Es ist das Ende eines heißen Tages und ist Herbst. Er wartet, er hat keine Langeweile.
Er stellt sich – wie als Junge – vor, das Gras, das ihn umgibt, wäre ein wilder Dschungel, und er müßte sich seinen Weg durch das Dickicht von Riesenfarnen und Schachtelhalmtannen mit der Machete bahnen, bedroht von gepanzerten Riesenkäfern und raubgierigen Tausendfüßlern.
Er beobachtet, wie sich am Hang über dem Tal mit den wandernden Schatten die Häuser von ihm abwenden und in den wuchernden Gärten verstecken.
Die Sonne ist ermüdet vom langen Sommer und legt goldene Schleier auf die Blumen vor ihrem Welken und auf die Früchte vor ihrem Fall. Die Farben verschmelzen zu Ocker und Gold und zu Blauviolett. Der Abend läßt Schatten in die Täler fließen, als Vorhut einer sanften Nacht. Die Vögel grüßen schon die Abendkühle, nur die Insekten schwirren aufgeregt dem Ende ihres Tages entgegen.
Nach einer Stunde fällt Max auf, daß Paule nicht kommt. Sie wollten sich um neun Uhr treffen, jetzt ist es zehn. Max ist nicht ungeduldig, doch er ist besorgt. Was kann passiert sein? Er weiß, daß ihre Mutter sehr gegen ihre Verabredungen ist. Vielleicht hat sie ihr verboten, zu kommen?
Es vergeht eine weitere Viertel-, eine halbe Stunde. Er geht den Pfad zum Dorf ein Stück zurück, zu einer Felsnase, von der aus man ein weiteres Stück des Weges überblicken kann – Paule ist nicht zu sehen.
Wieder im Dornröschenschloß, läßt er sich ins hohe Gras fallen, lehnt sich an den noch warmen Felsen, schließt die Augen und atmet tief durch. Warum kommt sie nicht? Er ruft sich zur Ordnung. Es gibt sicherlich eine ganz harmlose Erklärung dafür, schließlich ist ihr Teffen nicht dringlich, und sie sehen sich häufig. Also kein Grund zur Panik.
Er läßt die Erinnerungen Revue passieren: Der erste Blick im Vorbeigehen, die Begegnung am Waschplatz, die Küche des Bistros, der Spaziergang durchs Dorf und der Spott der Burschen und Mädchen ... Ist ihr im Dorf, im Dunklen etwas zugestoßen?
Ehe ihn von neuem die Sorge anfällt, hört er das Rollen von Steinchen unter leichten Schritten, einen schnellen Atem und ein erleichtertes „Grace à dieu!“, mit dem Paule die letzte Stufe zu ihrem Nest nimmt und erfreut feststellt, daß Max noch auf sie wartet.
Er springt auf, und ehe er sie noch etwas fragen kann, umarmt sie ihn und sprudelt hervor, wie glücklich sie sei, ihn noch anzutreffen, und daß ihre Mutter sie gezwungen hätte, mit ihr noch Quitten zu putzen und zu zerkleinern, damit sie Gelee kochen konnte. Auch sei ihr verboten worden, noch einmal wegzugehen, sie ist aber aus dem Kammerfenster gesprungen, und nun ... Sie preßt Max an sich, und er umarmt sie, von Zärtlichkeit überschwemmt.
Als sie den Kopf von seiner Schulter löst und ihn anschaut, wird sein Gesicht ganz selbstverständlich von ihren Augen angezogen, die sich langsam schließen, so daß er sie küßt.

*

Max findet die Gute Stube leer, nur Willi sitzt da und studiert in Ruhe die Bilder einer alten Humanité de Dimanche. „Wo sind denn die anderen?“ erkundigt sich Max.
Willi weist nach nebenan, woher durch die dünne Wand Lärm und Gelächter dringen.
Max geht hinüber und sieht eine Zusammenrottung um Roberts Bett im ,ersten Stock‘. Es ist eine eigenwillige Konstruktion und besteht aus einem Federboden mit einem Strohsack, der auf vier jungen Kastanienstämmen ruht, die im unteren Bettgestell verankert sind. Jetzt lümmelt sich ein halbes Dutzend Kameraden darauf herum, und weitere hängen am Rahmen, der sich schon bedenklich durchbiegt.
Robert liegt auf dem Strohsack, die Hose heruntergezogen, und Schmelzer bearbeitet vergeblich dessen Penis, um ihn zur Erektion zu bringen. Robert amüsiert sich sichtlich darüber: „Das schafft ihr nie, wenn ich nicht will!“
Max findet das ganze zum Kotzen, vermutlich wieder so eine dämliche Wette. Für Max ist Sex irgendwie mit Liebe verbunden, und zwar zwischen Mann und Frau.

Max erinnert sich an die sexuellen Spiele in der Zeit der schulischen Erntelager und der Geländespiele des Jungvolks.
Da war zum Beispiel auf einer Wanderfahrt bei einer Balgerei Hugo, der Klassenfettsack, festgehalten und Karl-­Heinz Pfeiffer beauftragt worden, ihm in die weiten Hosen­beine zu blicken, um festzustellen, ob er schon Haare am Sack hätte. Hugo strampelte und schämte sich – ohne Erfolg. Das Ergebnis war negativ. Dann schlug einer vor, ihn an einen Baum zu binden und zu ‚piesacken‘. Keiner wußte so recht, was ,piesacken‘ sein sollte, aber alle stellten sich vermutlich Handlungen am Rande von Sado-Maso-Praktiken vor. Hugo geriet leicht in Panik, doch der Vorschlag wurde nicht realisiert. Man zog ihm schließlich nur die Hosen herunter und rieb seinen Hintern mit Viehsalz ein, das jemand in einer Scheune aufgestöbert hatte.
Hugo bekam davon Pickel am Allerwertesten und seine Mutter beschwerte sich in der Schule über die Rohlinge von Klassenkameraden. Ohne Folgen.

*

Die Arbeit in der Grube ist schwer, aber nicht so schwer, daß nicht noch etwas Energie für ein Privatleben bliebe. Sie ist eintönig (mit wenigen Ausnahmen) und läßt mehr Gedankenspielraum, als sie Denkarbeit erfordert. Die Ge­fang­enen befinden sich permanent im Ausnahmezustand und nehmen Narrenfreiheit für sich in Anspruch, das heißt, sie haben Zeit, um sich Gedanken zu machen und etwas ein­fallen zu lassen. Das sind dann meistens Dummheiten oder Grobheiten, und häufig beides zusammen.
Unter Tage ist es dunkel und gleichmäßig kühl, so um vierzehn Grad, und im Hauptstollen zieht es. Wenn die Männer in der Grube, verschwitzt von der Arbeit, sich ein paar Minuten ausruhen wollen und die Jacken ablegen, fangen sie schnell an zu zittern.
Über Tage brät sie die Sonne. Die Bergkuppe mit Gruben­eingang, Brecher, Abraumhalde und Koksschütte ist so gut wie kahl, abgesehen von ein paar halb vertrockneten Büschen. Ein kühlendes Lüftchen weht selten. Hinzu kommt die Hitze des Röstofens, der nicht nur Wärmestrahlen, sondern auch noch ätzende Qualmschwaden ausstößt.
Die Hunteschieber wechseln ständig zwischen der Kühle der Grube und der Tageshitze, wobei der Wechsel zwar als angenehm empfunden werden kann, auf die Dauer aber bald zu schweren Erkältungen führt.
Am besten hat es noch der Mann am Brecher. Ein Bretterdach hält ihm die Sonne vom Leibe, und seine Arbeit erfordert nur selten größeren körperlichen Einsatz, dann nämlich, wenn sich ein zu großer Brocken Erz im Brecher verklemmt und mit einer Brechstange wieder losgestoßen werden muß. Im übrigen zählt er die Hunte mit Erz und die mit Abraum und führt mit Kreidestrichen darüber Buch. Am Brecher sitzt gegenwärtig Frieda.
Am schlechtesten sind die Männer am Ofen dran. Sie haben kaum Schutz gegen die Ofenhitze und können den giftigen Abgasschwaden nicht ausweichen. Sie müssen stau­bi­gen Koks von der Halde zum Fülltrichter karren und dar­auf achten, daß er von dort aus gleichmäßig, zusammen mit dem Erz, in das sich ständig drehende lange Röstrohr des Ofens kollert. Außerdem haben sie am Ausfällkasten zu kon­trollieren, wie viel staubförmiges Antimon schon sub­li­miert und ausgefällt ist, um es dann, seiner Farbe nach in drei verschiedenen Güteklassen, in Papiersäcke abzufüllen. Beim Abfüllen wird viel Staub frei, gegen den sich die Öfner nur unvollkommen mit nassen Schwämmen schützen.
Trotz vieler negativer Umstände machen manche die Arbeit am Ofen gerne, weil sie dabei in frischer Luft sind und zwischendurch immer mal ein Viertelstündchen Zeit zum Faulenzen abfällt.
Am Ofen arbeiten zur Zeit Robert, Gottlieb und Tanne. Tanne stochert mit einer langen Eisenstange im Feuerloch herum, damit das Röstgut weiterrutscht, dabei schneidet er eine Grimasse und schützt sein Gesicht mit dem Unterarm gegen die Ofenglut. Dann wischt er sich mit dem Ärmel den Schweiß vom Gesicht und hinterläßt darauf schwarze Streifen.
Robert und Gottlieb liegen im Halbschatten eines kümmerlichen Gebüschs und sehen zu, wie Tanne arbeitet.
Max wuchtet einen Hunt voll Abraum ins Sonnenlicht und schließt geblendet die Augen. Er schiebt den Hunt auf die Weiche, die das Erz Richtung Ofen und den Abraum in entgegengesetzter Richtung zum Abhang dirigiert.
Frieda macht einen Kreidestrich auf der Tafel und sagt: „Abraum Nummer sechzehn.“ Er ist nicht gesprächig bei der Hitze.
Max verschnauft einige Minuten und schaut über Berg und Tal, Robert und Gottlieb nehmen ihn nicht zur Kenntnis.
Dabei sieht Max, wie Robert Gottlieb anstößt und wie der sich aufrappelt und zum Ausfällkasten schlurrt, um den Füllstand zu kontrollieren. Robert angelt inzwischen aus einem schlotterigen Feldbeutel eine verkorkte Flasche, schüttelt sie und hält sie gegen das Licht, um festzustellen, daß sie leer ist. Zuerst wirft er sie achtlos zur Seite, dann schleicht sich ein Grienen auf sein Gesicht, und er hebt sie wieder auf. Er schaut sich um und fühlt sich unbeobachtet. Er zieht den Korken heraus, knöpft seine Hose auf und pinkelt in die Flasche.
Max verzieht angeekelt das Gesicht.
Robert verkorkt die Flasche wieder und steckt sie, immer noch grinsend, in den Feldbeutel zurück.
Gottlieb kommt wieder und berichtet anscheinend über den Füllstand des Antimonkastens. Er kramt die Flasche aus dem Feldbeutel und will trinken. Zuerst bietet er Robert zu trinken an, der weicht erschrocken zurück. Das verwundert Gottlieb. Max amüsiert sich. Robert starrt Gottlieb an und animiert ihn, selber zu trinken. Max will schon gegen die Ferkelei einschreiten, aber Gottlieb ist irritiert, er trinkt nicht. Er schüttelt die Flasche, betrachtet sie wie verhext und läßt ihren Inhalt dann langsam auf die Erde rinnen.
Robert macht ein enttäuschtes Gesicht, und Max überlegt, wie wohl Gottliebs Schutzengel aussieht.
Jedenfalls stehen die beiden jetzt auf und gehen zum Ofen, um Antimon abzufüllen.
Max muß wieder einfahren.
In der Abenddämmerung steht Max vor Paules Garten. Er weiß, welches Fenster zu ihrer Kammer gehört, und dort brennt Licht, aber es ist zu weit entfernt, als daß er Steinchen dagegenwerfen könnte. Er pfeift leise, nichts rührt sich. Nur hinter dem Küchenfenster sieht man die Mutter hin und her gehen. Max pfeift etwas lauter, der Hund schlägt an, wird aber zur Ruhe gerufen: „Hector! Tais-toi!“ und schweigt bald wieder. Im Wald auf der anderen Seite des Flusses schreit ein Kauz.
Max wartet, ihm erscheint es endlos, dann pfeift er wieder. Dieses Mal bringt die scheltende Stimme der Mutter den Hund nicht so schnell zur Ruhe. Eine Außenlampe leuchtet auf, ihr Schein trifft Max, der sich tot stellt. Die Haustür klappt auf und die Mutter schreit aufgebracht ins Dunkel: „Qui est-ce? Quel voyou est-ce qu’il y a? Wer ist da? Welcher Strolch drückt sich da herum?!“
Max wechselt in den Schatten des Feigenbaums.
Die Mutter kommt ein paar Meter auf die Gartenpforte zu: „Wer ist da? Sind Sie es, Monsieur Max?“
Max tritt ins Licht, sein Herz klopft aufgeregt, er versucht, gut Wetter zu machen: „Bonsoir, madame Marchand! Das bin ich, c’est moi, Max. Ich wollte nur fragen, ob Paule ...“ Madame Marchand läßt ihn gar nicht ausreden: „Non, non, non! Lassen Sie die Dummheiten! Lassen Sie unsere Paule in Ruhe! Sie hat Stubenarrest, weil sie sich mit Ihnen herumtreibt. Was soll das geben? Ein deutscher Gefangener und ein französisches Mädchen, das schon genug Schwierigkeiten hat! Hier im Dorf! Scheren Sie sich gefälligst nach Hause und lassen Sie uns in Ruhe!“
Max versteht kaum die Hälfte, begreift aber, daß es keinen Sinn hat, mit Madame Marchand zu streiten, und tritt kleinlaut den Rückzug an: „Ja, Madame. Entschuldigen Sie. Ich gehe schon, bonne nuit!“
Er wendet sich zum Gehen, und Madame Marchand ruft ihm noch hinterher: „Sie haben mit Paule nichts zu schaffen. Kommen Sie nicht mehr hierher!“
Aufgewühlt und traurig trottet Max hoch zur Rattenburg und weiß nicht, was werden soll.

*

Abends vertreiben sich die Gefangenen, die keine Schicht haben, irgendwie die Zeit. Einer kocht Tee, ein anderer bedient sich aus einer Weinkruke, Emil bügelt seine Hose mit einem alten Kohle-Bügeleisen, das er immer wieder auf die Herdplatte stellt. Schmelzer kaut an einer großen Portion gebratenen Fleisches, das von einem Kaninchen stammen könnte.
Sigi schnüffelt und zieht den Duft des Bratens ein: „Sag mal, mein lieber Freund, was hast ’n da für ’n Braten? Willste das alles allein fressen?“
Schmelzer, der im allgemeinen nur für sich selbst sorgt, ist heute in Geberlaune. Er reißt einen Vorderlauf ab, hält ihn Sigi hin und sagt schmatzend: „Hier, wenn du willst?“
Sigi ist hocherfreut und rückt sich einen Hocker heran: „Oh danke, Kamerad! Wie bist du denn da rangekommen?“
Schmelzer mit vollem Mund: „Ist mir zugelaufen.“
Sigi hat auch schon den Mund voll und kaut: „Prima! ’n Karnickel – zugelaufen. Das kenn’ ich.“
Emil grinst: „Guten Appetit!“
Sigi nickt und kaut weiter: „Danke.“
Tünnes macht „Miau, miau!“.
Die Umstehenden lachen.
Sigi hält inne und schaut sich um: „Was ist denn los?“
Emil: „Der Hase ist ihm mehr zujefallen als zujelaufen.“
„Was soll das heißen?“
Tünnes: „Wie kommt Kuhscheiße aufs Dach? Er ist vom Himmel gefallen!“
Der Bissen in Sigis Mund verwandelt sich in eine pelzige Masse: „Etwa ’ne Katze??“
Emil kann vor Lachen kaum sprechen: „Neechen doch! ’n Dachhase.“
Sigi quellen die Augen aus dem Kopf, er springt auf und stürzt aus der Tür, um sich draußen zu übergeben. Dabei rennt er fast Max über den Haufen, der gerade hereinkommt.
Der wundert sich: „Was ist denn mit dem los?“
Tünnes stammelt, halb erstickt vor Lachen: „Der will sich ’ne Katze fangen und braten!“
Sigi wankt ganz bleich wieder herein und blafft Schmelzer an: „Mein lieber Freund! Das mußte einem doch sagen!“
Schmelzer grient überlegen und empfindet den Anwurf als Undankbarkeit: „Du hast nicht danach gefragt.“
Tünnes ‚beruhigt‘ Sigi glucksend: „Reg dich nicht auf, Sigi. Er hat ihr nicht wehgetan. Sie war schon tot, als sie vom Dach fiel ...“ Er löst damit eine neue Lachsalve aus.
Max ist mit seinen Gedanken noch bei Paule und kann nicht recht mitlachen.
Skroszny, angetrunken, stänkert ihn an: „Find’ste nicht komisch? Kannste nicht mitlachen? Was macht denn deine Bucklige? Fickt sie gut? Oder bläst sie besser Flöte?“
Max kann gegen den körperlich weit überlegenen Skroszny kaum etwas machen, kontert aber: „Und was macht Madame Mauser?“
Schmude, der auch unter Strom steht, versucht abzulenken und einen Streit zu verhindern: „Kennste den Witz von dem Mann, der ’ne pucklige Frau geheiratet hat? Also den fragen seine Freunde ...“
Skroszny winkt ab: „Hör auf mit deinen ollen Kamellen! Du fickst doch bloß mit dem Maul. Du weißt doch nicht mal, wie weit die Fotze vom Arschloch entfernt ist!“
Schmude ist dumm genug, darauf einzugehen: „Na hör mal! Klar weiß ick det.“
Skroszny ist auf dem Vormarsch: „Dann zeig doch mal, wie weit! So? Oder so?“ Er deutet zehn oder dreißig Zentimeter an.
Schmude schaut zu Max, der nichts sagt, auf die anderen, die erwartungsvoll grinsen, und zeigt auf gut Glück, etwas zögerlich, etwa eine halbe Spanne.
Skroszny und die anderen lachen: „Noch nie ’n Finger drangehabt, geschweige denn den Schwengel! Aber unter Erwachsenen mitreden wollen!“
Emil hat zwar mitgelacht, aber er findet das Ganze eigentlich albern und geschmacklos: „Das ist ja auch ’ne Leistung, zu vögeln. Alle Köter und alle Esel machen’s, wir machen’s – irgendwann –, und wenn Bodo danach ist und seiner Schnalle auch, wird er auch wissen, wo ihr Loch ist. Kein Grund, auf deine anatomischen Kenntnisse stolz zu sein!“
Angesichts dieser Unterstützung will Schmude wieder etwas Prestige gutmachen und geht Skroszny an: „Wer weiß, ob deine Erlebnisse mit Frau Mauser nicht pure Erfindungen sind.“
„Waas? Sie hat hier ’n Muttermal“, er deutet auf seine Leistengegend, „und ein Grübchen in den Arschbacken! Aber was erzähl’ ich dir das! Du kriegst ihn wahrscheinlich nicht einmal hoch.“
Schmude wird tollkühn: „Willste ’n sehen?“
Max macht ein finsteres Gesicht und zeigt Schmude einen Vogel.
Willi hat dem widerlichen Gequatsche mit gekrauster Stirn und herabgezogenen Mundwinkeln zugehört, jetzt steht er abrupt auf: „Ich habe überhaupt nichts gegen das Vögeln! Aber ihr habt ja bloß noch Mösen im Kopp! Das wird auf die Dauer langweilig.“
Er geht hinaus, Skroszny feixt ihm hinterher: „Wer nicht hat, der kann nicht!“
Willi kommt gleich wieder: „Mir reicht’s! Nebenan ist ein Bett frei, ich ziehe hier aus.“
Inzwischen ist auch Frömmich hereingekommen. Er hat die Schießschicht hinter sich, schmeißt seinen Beutel aufs Bett und zieht seine Jacke aus. Er schaut sich unter den Kumpeln um und sucht Max. „Was ist denn hier los?“ wundert er sich über die Aufregung.
Emil klärt ihn auf: „Ach, ’ne Menge. ’n ganzer Roman. Sigi frißt Katzen, Bodo kriegt Unterricht in weiblicher Ana­tomie.“
Frömmich geht nicht weiter darauf ein, sondern wendet sich an Max: „Der Rudi, mein Schlepper, hat sich die Hand gequetscht. Der Dussel. Aber das faule Fleisch muß weg. Willst du nicht einstweilen mit mir arbeiten? Wir werden denen mal zeigen, was ’ne Harke ist! Du weißt ja: Unsere Schicht geht von zwei bis acht, nicht bis um zehn ...“
Max’ Antwort fällt nicht so locker aus, wie er wollte: „Heinz, ich mach’ nachmittags beim Straßenbau. Das bringt mehr als das bißchen Prämie in der Mine.“
Frömmich hat einen schmalen Mund: „Kannste doch vormittags machen.“
Max ist froh, daß er ein richtiges Argument hat: „Vormittags geht nicht. Da haben sie genug Leute.“
Frömmich versucht noch, Max die Sache schmackhaft zu machen: „Laß die Straße sausen! Wir kriegen sicher wieder was als Autoschlosser oder als Schmied. Das macht dann wenigstens Spaß, wenn man schon seine Knochen schindet.“
Max schüttelt den Kopf: „Laß mal, Heinz. Das läuft so alles ganz gut, und wenn du was Echtes hast, hab’ ich sicher auch wieder Zeit.“
Frömmich wendet sich ab: „Vielleicht will ich dann nicht mehr!“
Max ist erleichtert, daß es keinen Krieg gegeben hat, und schiebt noch eine Erklärung guten Willens nach: „Es wäre doch doof, wenn wir uns deswegen krachen!“
Frömmich antwortet nicht. Max weiß, daß er nach­tragend ist. Aber was soll er machen? Er zuckt die Schul­tern. (PK)

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max - jahrgang 27Max, Jahrgang 1927, 16jähriger Luftwaffenhelfer, später Kadett der Kriegsmarine auf dem Zerstörer „Hans Lody“, schildert seine Erlebnisse während des Krieges und in französischer Kriegsgefangenschaft. Seine Erinnerungen kreisen um die Arbeit im Bergwerk, um die erste Liebe zu der Französin Marie-Paule, die vergeblichen Fluchten und die endliche Heimkehr in das besetzte Deutschland. Reflexionen über die Sinnlosigkeit und Grausamkeit des Krieges haben angesichts weltweiter kriegerischer Aktivitäten nichts von ihrer Aktualität verloren.
ISBN 978-3-942693-50-9  € 11,90
© 2010 edition winterwork alle Rechte vorbehalten

Lutz Köhlert, geboren 1927 in Falkensee, lebt in Kleinmachnow. Er war
von 1943 bis 1945 Luftwaffenhelfer und Kadett der deutschen Kriegsmarine in Norwegen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geriet er in
französische Kriegsgefangenschaft und arbeitete in einem Bergwerk in den
Cevennen bis Januar 1948. Er versuchte mehrfach von dort zu fliehen.
Nach seiner Rückkehr 1948 legte er in Falkensee das Abitur ab und
studierte an der Hochschule für angewandte Kunst in Berlin und an der
Universität Greifswald Bühnenbild und Kunstwissenschaft.
Nach seiner Promotion wandte er sich dem Film, später dem neuen Medium Fernsehen zu. Bei der DEFA führte er Regie, u. a. bei den Spielfilmen „Ärzte“, 1961, und „Tiefe Furchen“, 1965. Für das Fernsehen entstanden szenische Dokumentationen wie „Schließt mir nicht die Augen“ und „Die letzten Stunden von Radio Magellanes“. Ab 1967  bis zu seiner Emeritierung 1991 war er an der Hochschule für Film- und Fernsehen „Konrad Wolf“ als Dozent, Rektor und Professor für Regie tätig.


Online-Flyer Nr. 312  vom 27.07.2011



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