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Literatur
Fortsetzungsroman in der NRhZ - Folge 15
Max - Jahrgang 27
Von Lutz Köhlert

maxMai 1945 - Der zweite Weltkrieg ist zu Ende. Zu den ziel- und richtungslosen deutschen Soldaten gehört auch Max, siebzehnjähriger Kadett der Deutschen Kriegsmarine, den es nach Norwegen verschlagen hat. Er wird von den Engländern interniert, von den Amerikanern abtransportiert und den Franzosen übergeben. Die stecken ihn in eine Antimonmine in den Cevennen. Dort arbeitet er bis Ende 1947, meist unter Tage. Die Arbeit ist schwer und nicht ungefährlich. Eine gewisse Entschädigung dafür ist das sanfte Mittelmeerklima, seine schöne Vegetation und reiche Fruchtbarkeit. Noch Jahrzehnte später wird er von den sonnigen Felsterrassen über dem Gardon träumen, vom „Garten Frankreichs“, wo er das „Dornröschenschloß“ findet und seine erste Liebe, Marie-Paule.

Die ,usine‘ liegt abseits der Mine im Dorf, oberhalb der Straße, verlassen.
Sie ist die alte Werkstatt der Grube, die nicht mehr benutzt wird. Das Sonnenlicht fällt durch erblindete Scheiben auf das verstaubte, unordentliche Inventar: Schmiedeesse, Amboß, Feuerzangen, Schraubstock und einiges Schlosserwerkzeug, auch Anthrazit für das Schmiedefeuer. In einem kleinen Nebenraum die Reste der Einrichtung eines Laboratoriums, ein Spülstein, Destillierkolben, Kühlschlangen, in einem Schränkchen auch einige Chemikalien, die ehemals zum Bestimmen des Antimons und seiner Beimischungen benutzt wurden.
Ein Wunder, daß die brauchbaren Dinge nicht schon ihre Liebhaber gefunden haben.
Jetzt nutzt Heinz Frömmich die Werkstatt für allerlei Reparaturaufträge.
Max hat von seinem Vater, einem gelernten Werkzeug-macher, schon eine Menge handwerklicher Handgriffe gelernt und auf der Kriegsschule, als Ingenieur-Offiziersanwärter, eine Grundausbildung im Schweißen, Drehen und Schlos-sern bekommen. Er hat den unvermeidlichen Würfel feilen, eine saubere Schweißnaht ziehen und einen Meißel härten müssen. Von Frömmich, dem er zur Hand geht, lernt er eine Menge mehr, zum Beispiel wie man einen Automotor in alle seine Bestandteile zerlegt und wieder zusammenbaut. Nach seiner Heimkehr wird Max diese Kenntnisse gut gebrauchen können.
Jetzt steht ein kleiner zeppelinförmiger Simca-Rennwagen aus­geweidet in der Werkstatt. Der Vierzylindermotor sieht winzig aus, und Frömmich ist dabei, die Lager der Kur­belwelle neu auszugießen und auszuschaben. „Siehst du? Den wollten sie auf den Schrott werfen! Aber mit Motoren macht mir keiner was vor. 1938 war ich fast deutscher Meister auf dem Hockenheim-Ring. Auf Harley-Davidson. Das war ein Maschinchen! Damit konntest du ’n Lkw-Anhänger senkrecht die Wand hochziehen. Aber das war ein zu teurer Sport. Wenn man nicht Werksfahrer ist, kann man mit den Reparaturen und erst recht mit den Neuentwicklungen nicht mithalten. Komm mal her, wenn du was lernen willst!“

*

Zu den allwöchentlichen Verrichtungen gehört das Wäsche­waschen. Sein Ritual gründet sich auf die Vorbilder der Hausfrauen des Dorfes und vollzieht sich abhängig von den Wasserverhältnissen am Fluß. Wenn es die Wäsche sehr nötig hat, weicht man sie in Seifenlauge ein (so man Seife hat), ist sie normal verdreckt, kann man, dank dem Gardon, Seife sparen. So oder so legt man die Wäsche einfach ins Flußbett, dort wo das Wasser recht kräftig sprudelt, und beschwert sie ausreichend mit Steinen, damit sie sich nicht mit dem Wasser auf die Wanderschaft macht. Das sprudelnde Wasser walkt sie nun kräftig durch, und nach vierundzwanzig Stunden oder etwas mehr ist sie sauber und kann wieder eingesammelt werden. Beim Trocknen übernimmt die Sonne das Bleichen, und die Wäsche duftet dann nach Wind und Wolken, Sonne und Wasser – und vielleicht ein wenig nach Krebsen.
Auch Max und Bodo Schmude waschen so ihre Wäsche. Während Max noch den steinernen Ballast auf der Wäsche plaziert, dreht sich Schmude eine Zigarette.
Den Weg am Fluß entlang kommt Marie-Paule, mit einem Korb voller Tücher, die ihre Mutter gebügelt hat.
Bodo sieht sie zuerst: „Max! Da kommt unsere Küchen­fee.“
Max schaut auf, ohne zu deutlich zu Marie-Paule hin­zu­sehen.
Schmude schubst ihn an: „Willste ihr nich juten Tach sagen?“
„Mann, laß mich in Ruhe!“
Als das Mädchen näher kommt, baut sich Schmude am Wegrand auf und macht eine große Verbeugung: „Bonjour, mademoiselle!“
Ohne stehenzubleiben schaut sie von Schmude zu Max, der rot wird und „Bonjour!“ in seinen nicht vorhandenen Bart murmelt. Sie antwortet zurückhaltend, aber nicht unfreundlich: „Bonjour, messieurs.“
Schmude versucht, ein paar Schritte neben ihr herzugehen und ein Gespräch anzuknüpfen: „Na, wie jeht’s? Alleh zum Bistro?“ Der Pfad ist schmal, Schmude muß durch niedriges Gestrüpp und über Steine stolpern.
Marie-Paule ist von der Anmache peinlich berührt, muß aber ein Lächeln über Schmudes Stolperschritt unterdrücken: „Oui, monsieur, je vais au bistro.“
Schmude bleibt weiter neben ihr und hüpft einen Wechselschritt, um mit ihr in den gleichen Tritt zu kommen, wobei er fast auf die Nase fällt.
Sie bemerkt das aus dem Augenwinkel und lächelt deutlicher.
„Ah, soll ich ein Stückchen mitkommen? Avec moi – promener?“ insistiert Schmude.
Ihr Lächeln erstirbt, und sie weist ihn zurecht: „Non, monsieur! J’irais tout seul! Au revoir.“
Schmude dienert nochmals: „Au revoir!“, und bleibt zu­rück. Er wendet sich mit gewohnter Überzeugung an Max: „Haste jesehn? Wenn se nich zur Arbeit jemußt hätte, wer weeß? Vielleicht wär’t ’n hübscher Spazierjang jeworden ...“
Max nickt und sagt sarkastisch: „Janz sicher!“

*

Als Max und Bodo ins Lager kommen, herrscht in der großen Stube Remmidemmi, Schimpfen, Geschrei, Gelächter.
Auf Gottliebs Bett toben vier oder fünf Köter herum, kläffen, zerren an den Leinen und beißen sich. Sie sind ein buntes Gemisch von Rassen, mehrheitlich vom Dorfköter abstammend: Spitz, Boxermischling, Hütehund, Terrier oder sonstwas. Auf den ersten Blick wundert man sich, warum sie auf dem Bett herumtoben, auf den zweiten sieht man, daß sie angebunden sind und nicht wegkönnen. Außerdem liegen auf dem Bett mehrere Felsbrocken von gut zwanzig Kilo.
Gottlieb steht ängstlich und hilflos daneben und versucht mit fahrigen Gesten, die Hunde vom Bett zu scheuchen: „Husch, husch! Geht runter von meinem Bett! Geht weg da!“ Die Hunde tun nichts dergleichen.
Ein Dutzend Gefangener steht umher und amüsiert sich.
Frömmich schaut herein. Er sieht einen Augenblick zu, ohne zu lachen, dann geht er entschlossen zu dem Bett: „Treibt euren Quatsch doch mal mit jemandem, der sich wehren kann!“ sagt er zu den Gaffern. Die treten zurück oder wenden sich ab. Frömmich bindet die Hunde los und treibt sie aus der Stube: „Raus mit euch, räudiges Viehzeug!“
Skroszny, inmitten der Feixenden, fühlt sich angegriffen: „Kümmere du dich doch um deinen Scheißdreck und spiel hier nicht den Heiland!“
Robert, in seinem Schatten, sekundiert ihm: „Man wird doch mal ’n Spaß machen dürfen.“
Frömmich wirkt böse: „Sag’ ich ja: Mach doch mal so ’n Spaß mit mir, zum Beispiel!“ Robert weicht einen Schritt zurück, aber Frömmich hat sich schon wieder Gottlieb zugewendet: „Jetzt kannst du die Klamotten wegräumen.“
Gottlieb macht einen schüchternen Versuch, einen der Brocken anzuheben, gibt es aber gleich wieder auf und sagt in aller Harmlosigkeit zu Frömmich: „Räum du sie doch gleich mit weg. Du hast doch schon schmutzige Hände.“
Frömmich ist perplex und stutzt einen Moment, die Truppe wiehert, und Skroszny äfft nach: „Räum du sie doch gleich mit weg. Du hast doch schon schmutzige Hände!“ Frömmich bleibt verbissen ernst, greift sich den größten Brocken und schleudert ihn ein halbes Dutzend Meter weit durch die Tür hinaus, so daß zu nahe Stehende erschrocken zu­rückzucken. Die anderen Steine folgen eins, zwei, drei. Frömmich klopft sich die Hände ab und geht durch achtungs­volles Schweigen hinaus.
Max ist beeindruckt, nur Bodo Schmude brabbelt halblaut: „Wenn er wütend ist, zerreißt er Papier.“
*

Der 14. Juli ist der Feiertag aller Franzosen. ‚La Grande Nation‘ bestätigt sich selbst an diesem Tag. Das Dorf ist mit Fahnen, frischem Laub und Blumen geschmückt. Feierlich gekleidete Menschen führen Uniformen, Schärpen, Orden und ihre festlich-heitere Stimmung spazieren, Gendarmen, freiwillige Feuerwehr, Veteranen. Fahnen und Standarten überflattern die angeregte Menge.
Das Rathaus steht inmitten des langgestreckten Dorfes an der Durchgangsstraße, die jetzt von der Menschenansammlung verstopft ist. Von der vier Stufen hohen Treppe des Rathauses herab hält der Bürgermeister eine patriotische Rede, mit Einfügungen, die den dörflichen Alltag betreffen und Beifall oder kritische Zwischenrufe provozieren, in einer dem Feier­tag angemessenen Form, versteht sich. Neben dem Bürgermeister präsidieren die Honoratioren des Dorfes, der Pfarrer, der Ingenieur und der Schweinehändler, der dem Gemeinderat angehört, obwohl ihn keiner leiden kann.
Der größte Teil der Gefangenen ist im Quartier geblieben oder hat sich in die Landschaft verzogen. Einige wenige wollen sich das Ereignis nicht entgehen lassen, halten sich aber abseits, etwas unterhalb der Straße, auf dem ins Tal führenden Weg. Sie zollen dem nationalen Ereignis Achtung, oder legen wenigstens Wert auf ein respektables Aussehen, indem auch sie sich sonntäglich gekleidet haben, also mit gebügelten Hosen, frisch gewaschenen Hemden und gekämmten Haaren erschienen sind.
Als im letzten Kriegsjahr die ersten Gefangenen ins Dorf kamen, waren sie heftigen Anfeindungen ausgesetzt, denn in der Zeit der deutschen Besetzung hatte es schwere Übergriffe der SS gegeben. Im Verlauf der Arbeit und Zusammenarbeit waren die Deutschen als normale friedliche Menschen akzeptiert, und der Umgang war teilweise sogar freundschaftlich geworden. Am 14. Juli freilich sind nationale Ressentiments nicht ausgeschlossen, und die Gefangenen wollen keinen Ärger.
Eine Blaskapelle kommt anmarschiert, die Rede des Bürgermeisters geht in der lauten Musik unter. Eine Slapstick-Szene: Der Bürgermeister klappt den Mund auf und zu und gestikuliert, aber über der Musik ist nichts von der Rede zu vernehmen, und jeder kann sich seinen Text dazu denken. Der Bürgermeister redet unverdrossen weiter, nur akzentuiert er seine kernigen Worte deutlicher, und seine Gesten gewinnen an Dramatik. Die Kapelle nimmt seitlich von der Tribüne Aufstellung, der Kapellmeister winkt ab, und die Musiker senken die Instrumente. Der Bürgermeister setzt seine Rede unverdrossen und jetzt fast schreiend fort.
Die meisten Gefangenen haben die Schnauze voll von nationalem Pathos, erst recht wenn es nicht das eigene ist. Frömmich spöttelt: „Die aufgeblasene ‚Grande Nation‘!“
Sigi fühlt sich noch immer als ‚Herrenmensch‘: „Worauf die sich so viel einbilden?“
Max weiß immerhin: „Die haben die Bastille gestürmt!“
Sigis Logik hinkt auf beiden Beinen: „Und wir die Maginot-Linie! Erfunden haben sie die Guillotine und heute machen sie Geschrei, daß bei uns Volksfeinde liquidiert worden sind.“
Tünnes empört sich: „Dat kannste wohl nicht jut ver-jleichen! Die haben ihre Schmarotzer rausjeschmissen.“
Sigi ist ein schwacher Ideologe und Politiker: „Bei uns hat der kleine Mann mit Plutokraten und Blutsaugern aufgeräumt!“
„Dir haben sie ja ins Jehirn jeschissen!“ beendet Skroszny grob die Debatte. „Wird Zeit, daß du dein Gehirn ausmistest. Die kleinen Juden und Kommunisten, die von den Nazis umjebracht worden sind, dat waren doch keine Blutsauger.“
Sigi will recht behalten: „Sieh dir mal ihre Berufe an: Bankiers, Warenhausbesitzer, Verleger, Advokaten ...“
„Ärzte!“ wirft Tünnes ein.
„Schön, auch Ärzte. Aber was die für Versuche an Menschen gemacht haben, das ist viel zu wenig bekannt.“
Skroszny schüttelt den Kopf über soviel Verbohrtheit: „Nee, dir haben sie das Jehirn amputiert!“
Sigis Besessenheit eskaliert: „Und dann Schauspieler, und überhaupt Intellektuelle!“
„Bei uns zu Hause haben sie einen Schuster und einen Vertreter abjeholt, für Hüfthalter und Strapse. Bist du nicht auch Vertreter?“
„Es kommt darauf an, wie man seinen Beruf ausübt.“
„Ich denke, es kommt auf die Abstammung an, auf das Bluuut“, apostrophiert er.
Sigi verteidigt sich verkniffen: „Mein lieber Freund ...!“
„Der bin ich ja zum Jlück nicht“!
„Du bist auch so ’n Intellektueller, der alles ganz genau weiß!“
„Ich bin Seemann“, kontert Tünnes trocken.
Max versucht, vom Streitthema abzulenken: „Mein Opa hat zu den Franzosen immer ,Schangels‘ gesagt. Was heißt ,Schangels‘?“
Frömmich weiß Bescheid: „Das kommt von ‚Jean‘. Heißt also: Sind alles ‚Jeans‘. Uns nennen sie ja auch ‚Fritzen‘.“
Tünnes: „Oder die ‚Krauts‘: les choucroutes, die ‚Sauer­krauts‘.“
„Hab ick nischt jejen! Ick eß sehr jerne Sauerkraut.“ Schmude zeigt sich als Praktiker.
Auch Max ist dafür: „Au ja! Besonders mit Rippchen.“
Tünnes: „Ja, Rippchen. Besser noch ist Eisbein! Schön gepökelt.“
Beim Thema Essen sind sich alle wieder einig, es gibt höchstens noch Geschmacksunterschiede.
Sigi: „Angebraten! Das Fett darf nicht zu wabbelig sein.“
„Und dazu scharfen Mostrich und dicke Erbsen.“
„Das kennen die Franzosen nicht. Die lieben Schnecken und Froschschenkel und fressen Singvögel.“
Tünnes stoppt Sigis Scharfmacherei: „Halt mal die Luft an! Du ißt auch Muscheln und Krebse und rohes Fleisch, nämlich Tartar.“
„Nee. Eß ich nicht!“
„Dann biste schön dämlich.“
Max will dem Sinn von Schimpfwörtern weiter auf die Spur kommen: „Und was heißt ‚boche‘?“
Tünnes: „Schwein, glaub’ ich.“
„Schwein heißt doch ‚cochon‘.“
„,Porc‘ heißt Schwein“, gibt auch Schmelzer seinen Senf dazu. „Unser Nachbar nennt sich ‚marchand de porc‘ – Schweinehändler.“
Frömmich kann von ihnen noch am meisten Französisch: „,Cochon‘ ist das ganze Schwein, ‚porc’ hauptsächlich das Schweinefleisch. Und ‚boche‘ ist einfach ein Schimpfwort wie ‚Schweinehund‘ oder ‚Saukerl‘.“
Skroszny stänkert ein bißchen: „Und wie nennt man den, der ohne Rücksicht auf die Kameraden wühlt, um selber Fettlebe zu machen?“
Frömmich zahlt mit gleicher Münze zurück: „Ein fauler Arsch heißt auf französisch ‚lémard‘.“
„Unter den meisten Worten kann man sich immerhin was vorstellen: Schweinhund ist halb Schwein und halb Hund, irgendwie böse und lächerlich zugleich. Und ein Kerl wie eine Sau ist ein Mistkerl. Schimpfwörter haben eben auch ihren Sinn.“
Frömmich gibt zu: „Hab’ ich noch nicht drüber nachge­dacht, mon ‚chou-chou‘.“
„Chouchou?“
„Kleiner Kohlkopf. Das ist ein Kosewort.“
„Vielleicht heißt es auch ‚kleines Arschloch‘. Die sind doch alle schwul.“
Max weiß ein paar Berliner Schimpfwörter. „Die Berliner sagen ‚Ausdrücke‘. ,Der sagt Ausdrücke‘ heißt soviel wie ,er benutzt Schimpfwörter oder grobe Worte‘.“ – „Matzbleeke!“ sagt er also. Dann freut er sich selber über den Fund: „Siehste, das ist ’n Schimpfwort ohne Sinn. Oder wie sieht ’ne ‚Matzbleeke‘ aus?“
„Na eben wie Sieghelm“, sagt Skroszny.

Die Feiern gehen bis in die Nacht. Nach dem Festakt geht man ausgiebig essen, zu Hause oder im Bistro, und danach wird getrunken, geschwatzt, getanzt und wieder gegessen. Zwischendurch wohl auch ein bißchen geliebt.
Neben dem Bistro, zwischen Felswand und Straße, ist ein winziger Garten. Dort und auf dem Gehweg stehen Stühle und Tische, man sitzt in der warmen Nacht im Freien, auch jenseits der Straße auf der niedrigen Mauer, die die Straße vom Felshang trennt, der steil zum Flußbett hin abfällt. Der Akkordeonspieler spielt unentwegt, getanzt wird zwischen Stühlen und Tischen und auf der Straße.
Auf der Mauer hocken auch Max und Bodo, schauen dem festlichen Treiben zu und machen ihre Bemerkungen über die Einzelnen und die Paare.
Skroszny sitzt ein paar Meter weiter auf einer Steinbank.
Auch Mausers Frau tanzt, ihr Mann sitzt vor einem Krug Rotwein mit den anderen Männern am langen Tisch. Als Madame Mauser bei Skroszny vorbeitanzt, winkt sie ihm hinter dem Rücken ihres Tänzers zu, und Skroszny winkt verstohlen zurück.
Schmude stößt Max in die Rippen: „Haste jesehn?“ Er steht auf: „Ick jehe jetzt ooch tanzen!“
Max hält das für keine gute Idee. Es gibt zwar keine offenen Aversionen gegen sie, aber er merkt deutlich, daß immer noch eine Schranke zwischen Franzosen und Deutschen, zwischen freien Bürgern und Gefangenen besteht. Zwar existieren per­­sönliche Sympathien, in einzelnen Fällen wohl auch ero­tische, vielleicht auch sexuelle Beziehungen, die werden aber verborgen gehalten. Und der Nationalfeiertag wäre ver­mutlich der schlechteste Zeitpunkt, sie sehen zu lassen.
„Ick weeß nich!“ sagt er denn auch zu Schmude, „willste Ärger riskieren?“
Schmude ist forsch: „Wieso denn? Guck mal, die drei da drüben warten doch auf ’n Kavalier.“ Er geht um die Tanzenden herum zu einem Tisch, an dem drei Mädchen schwatzend und kichernd allein sitzen. Sie bemerken ihn erst, als er am Tisch steht und eine Verbeugung macht: „S’il vous plaît, mademoiselle! Voulez-vous ... tanzen?“ Er deutet das Herumschwenken an.
Das angesprochene Mädchen ist ein bißchen erschrocken. Sie schaut unsicher zu ihren Freundinnen, die ihre Verwirrung genießen, und winkt dann entschieden ab: „Non, monsieur! Merci.“
Schmude ist nicht gerade feinfühlig und nicht so leicht in Verlegenheit zu bringen. Er wendet sich unverdrossen den beiden anderen zu: „Und vous, mademoiselle? S’il vous plaît?“
Auch die anderen schütteln den Kopf, wenden sich ab und kichern.
Schmude steht noch ein paar Sekunden und tritt von einem Bein aufs andere, da tritt ein Mann heran, die Jungen kennen ihn, er arbeitet oben am Bahnhof, und bedeutet Schmude, er solle die Mädchen in Ruhe lassen. Seine Kopfbewegung besagt eindeutig, daß er sich aus dem Kreis der Feiernden zurückziehen soll.
Die Mädchen schauen zwischen den beiden hin und her und haben offensichtlich widersprechende Gefühle, zu denen sie sich aber nicht äußern. Schmude geht mit roten Ohren, wenn er auch eine wurstige Haltung einnimmt.
Vom Nachbartisch haben ein paar alte Männer den Vorgang mit Mißbilligung beobachtet, man weiß aber nicht recht, wogegen sich ihre Mißbilligung richtet.
Max hat gesehen, wie Schmude abgeblitzt ist, und schüttelt den Kopf.
Dann erblickt Mauser Max und ruft ihm durch die Tanzenden hindurch zu: „He, Max! Viens ici! Komm hier.“ Er hebt sein Glas: „Komm ein trink!“
Aber Max hat Hemmungen, sich zu den Feiernden zu setzen, und winkt ab: „Hallo! Nein danke!“ Und bevor Schmude bis zu ihm zurückkommt, steht er auf und schlendert davon. Dabei wäre er gern geblieben. Auch wenn es nicht seine Feier ist, herrscht doch eine sehr schöne Stimmung in der lauen, duftenden Sommernacht, mit den Sternen über dem friedlichen Tal und den fröhlich Tanzenden. Max möchte immer gern ‚dazugehören‘, wenn ihm Menschen sympathisch sind. Es ist schon ein bißchen traurig, Außenseiter zu sein. Andererseits kann man allein sich auf sich selbst besinnen, seine Gefühle und seine Urteile zurechtrücken. „Der Starke ist am mächtigsten allein!“ Und Max will eine starke Persönlichkeit werden. Man wird ihm später nachsagen, er sei ,hart im Nehmen‘, aber er bleibt zum Glück im Inneren sehr empfindlich und leicht verwundbar.

Max wendet sich dem Weg zu, der von der Straße hinab ins Tal und auf der anderen Seite zum Kirchberg hinaufführt. Er fühlt sich sehr verlassen.
Die Gespräche mit den Kameraden drehen sich immer um dieselben Themen: Fressen, Saufen und Vögeln, oder ausschweifende Zukunftsvisionen von sybaritischem Wohl-leben, in denen alles zusammen in wuchernder Fülle erscheint. Das hängt ihm zum Halse heraus.
Mit den Franzosen kommt er nicht recht ins Gespräch, teils weil immer noch emotionale Schranken bestehen, teils weil seine Sprachkenntnisse nicht ausreichen, um kompliziertere Themen zu behandeln, und er Hemmungen hat, seine Ver-ständigungsmöglichkeiten auszureizen. Erst später begreift er, daß man Sprachen nur lernt, indem man sie ohne Rücksicht auf mögliche Fehler spricht.
Max vermißt Zärtlichkeit. Den elterlichen Zärtlichkeiten war er als Junge meist ausgewichen, jetzt aber hat er ein noch unbestimmtes Verlangen nach Zuneigung, der Zuneigung eines Mädchens.
Musik und Stimmengewirr folgen ihm ins Tal, und er nimmt zunächst einen verhaltenen Ruf gar nicht wahr: „Monsieur Max!“ Erst beim zweiten „Monsieur Max!“ bleibt er stehen und schaut sich um.
Paule steht über ihm am Straßenrand und kommt nun leichtfüßig den Weg herab. Lächelnd bleibt sie vor ihm stehen: „Bonsoir, monsieur Max.“
Max ist verwirrt. Er schaut sich um, ob sie gesehen werden können, er schaut Paule an: „Bonsoir, mademoiselle Marie-Paule ...“ Er hat plötzlich das Gefühl, mit Paule auf einer Insel zu stehen, die auf den Wellen des Festlärms davontreibt.
„Vous connaissez mon nom? Sie kennen meine Namen?“ wundert sie sich.
„Und Sie meinen auch“, staunt Max. Sein Französisch ist plötzlich völlig ausreichend für die Unterhaltung.
„Ich habe gehört, als Sie im Bistro gearbeitet.“
Max sieht sie an und wiederholt „Paule!“, als ob sie eine Fata Morgana sei.
Paule sagt etwas bitter: „Belle épaule ...“, und Max versteht ihren Spottnamen nicht: „Schöne Schulter.“ Er hört „belle Paule – schöne Paula“ und nickt freundlich.
Sie spürt, daß er sie nicht verstanden hat, schiebt aber entschlossen ihre Hand unter seinen Arm und wendet sich mit ihm dem Tal zu: „Allons, promenons un peu.“ Sie sucht die deutschen Silben zusammen: „Wir ge-hen spazier. Gutt?“
Max freut sich: „Wir gehen spazieren. Gut! Woher kön-nen Sie so gut deutsch?“
„Ich lern duitsch, mit Buch. Mein Tant’ hat nahe von Alsace klein Hotel. Ich will lern Hotel. Gastronomie. In Collet-de-Dèze, in Frankreich überhaupt kein’ Chance. Ich lieb’ Deutschland.“
Max weiß nicht so recht, wie er das bewerten soll. Sucht sie jemanden, der ihr in Deutschland einen Einstieg verschafft? Dazu ist er kaum der Richtige.
Sie gehen über die steilen Wege zwischen Felshang und Flußbett, berankt von Wein, eingeschlossen von Feigen-büschen und Maulbeerbäumen, im Tal entlang dem Flusse und den Hang hinauf zum Kirchberg. Die Häuser sind fast alle dunkel, ihre Bewohner sind auf dem Fest. Die milde Nachtluft trägt den Duft wilder Rosen, von Malven und Lavendel herbei und schmeichelt der Haut. Max genießt das sanfte Schreiten, die anhängliche Hand an seinem Arm und weiß nicht, ob er Konversation machen soll und wie.
Ein einzelner Bursche kommt ihnen entgegen und eilt in Richtung des Festplatzes. Er erblickt Paule, die Max nicht losläßt, und ruft ihr spöttisch zu: „Hallo, belle épaule, gehst du nicht tanzen?“
Der Scherz ist gewohnheitsmäßig grob, aber nicht böse gemeint.
 Sie reagiert auch nicht gekränkt, sondern reicht ihn zurück: „Mir hat dein Bocksgesang gefehlt!“
Und dann kommt es doch etwas gehässig: „Viel Vergnügen mit dem ‚Kraut‘!“
Paule erwidert nichts weiter und wendet sich Max zu. Der wiederholt: „Belle Paule! – Schöne Paula.“
Sie schüttelt den Kopf und bemüht sich, ihm verständlich zu machen, indem sie ihm die verwachsene Schulter zuwen-det: „Nein. Belle épaule! Du nicht verstehst? Épaule – das ist Schulter, Paule – das bin ich. „Belle épaule – schön Schulter. Ich bin ein ‚bossue‘, ein Bucklige.“
Jetzt erst versteht Max das Wortspiel. Er ist betroffen und beharrt, in diesem Augenblick vielleicht nur um sie zu trösten: „Non! Belle Paule!“
Sie schaut ihn an, ob er das wirklich meint, und versucht, an ein Kompliment zu glauben, nicht an eine Ausrede. Erleichtert zieht sie ihn weiter.
Max blickt verstohlen auf das Mädchen an seiner Seite, dessen Körperfehler so kaum zu sehen ist. Er sieht ein sanftes Profil, locker fallende braune Haare und die deutliche Rundung der Brüste unter dem Kleid. In seiner Verwirrung sucht er ungeschickt ein Gesprächsthema: „Tanzen Sie nicht?“
Im gleichen Moment ist ihm die Frage peinlich, aber sie nimmt sie völlig normal: „Manchmal ich tanze gern. Aber wenn ich keinen Kavalier habe, ist das stupide. Jetzt gehe ich gern spazieren – mit Sie.“
„Mit Ihnen“, korrigiert Max.
„Ja“, versteht sie, „Sie mit mich.“ Sie bemüht sich um die deutschen Worte: „Spaziergehen ... so?“ Sie schaut ihn an, Max merkt das, schaut verlegen zurück und ergänzt: „Spazierengehen. Das ist richtig.“
Ein Abendspaziergang mit einem Mädchen, das man vorher ein paar Mal flüchtig gesehen hat, das man aber kaum kennt. Mit einem Mädchen, dessen Weiblichkeit unbestreit-bar und das ebenso unbestreitbar hübsch ist. Und die noch dazu offenkundig gerne mit ihm spazierengeht. Nur daß sie eben diesen kleinen Körperfehler hat. Was heißt Fehler? Ihre eine Schulter trägt ein wenig stärker auf als die andere, würde der Schneider sagen. Und wie vielen Leuten steht die Nase zu weit aus dem Gesicht hervor? Wie viele sind so fett, daß man sie nicht anfassen möchte?
Diese hier hat ein Gesicht wie ein Engel. Ein frecher Engel. Sie hat hübsche kleine, aber kräftige Hände. Und die reizende Figur. Max hat gerade erst gelernt, daß im Französischen ,la figure‘ nicht die Figur einer Frau meint, sondern ihr Gesicht. Um ihr ein Kompliment über ihre Gestalt zu machen, sagt man ,la belle taille‘. Nur eben dieser kleine Fehler! Max schimpft sich im stillen einen Idioten, aber er kann sein Vorurteil nicht einfach lassen.
Paule hat inzwischen ihre Hand auf seinen Arm gelegt, leicht wie eine Feder. Aber schon diese Berührung scheint Max zu intim, und als sie einem kleinen Gebüsch ausweichen müssen, benutzt er die Bewegung, um sich von ihr zu lösen. Er hofft, daß sie die Absicht nicht erkennt, aber sie hat es doch bemerkt und geht weiter getrennt neben ihm her.
Ein Spannungsfeld von Anziehung und Abstoßung. Jeder versucht zu erraten, was der andere fühlt, was er denkt. Scheinbar geschieht gar nichts, doch sie verändern sich, einer durch den anderen. Auch die Welt um sie her verändert sich. Die Dinge bekommen ein neues Gesicht.
(PK)

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max - jahrgang 27Max, Jahrgang 1927, 16jähriger Luftwaffenhelfer, später Kadett der Kriegsmarine auf dem Zerstörer „Hans Lody“, schildert seine Erlebnisse während des Krieges und in französischer Kriegsgefangenschaft. Seine Erinnerungen kreisen um die Arbeit im Bergwerk, um die erste Liebe zu der Französin Marie-Paule, die vergeblichen Fluchten und die endliche Heimkehr in das besetzte Deutschland. Reflexionen über die Sinnlosigkeit und Grausamkeit des Krieges haben angesichts weltweiter kriegerischer Aktivitäten nichts von ihrer Aktualität verloren.
ISBN 978-3-942693-50-9  € 11,90
© 2010 edition winterwork alle Rechte vorbehalten

Lutz Köhlert, geboren 1927 in Falkensee, lebt in Kleinmachnow. Er war
von 1943 bis 1945 Luftwaffenhelfer und Kadett der deutschen Kriegsmarine in Norwegen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geriet er in
französische Kriegsgefangenschaft und arbeitete in einem Bergwerk in den
Cevennen bis Januar 1948. Er versuchte mehrfach von dort zu fliehen.
Nach seiner Rückkehr 1948 legte er in Falkensee das Abitur ab und
studierte an der Hochschule für angewandte Kunst in Berlin und an der
Universität Greifswald Bühnenbild und Kunstwissenschaft.
Nach seiner Promotion wandte er sich dem Film, später dem neuen Medium Fernsehen zu. Bei der DEFA führte er Regie, u. a. bei den Spielfilmen „Ärzte“, 1961, und „Tiefe Furchen“, 1965. Für das Fernsehen entstanden szenische Dokumentationen wie „Schließt mir nicht die Augen“ und „Die letzten Stunden von Radio Magellanes“. Ab 1967  bis zu seiner Emeritierung 1991 war er an der Hochschule für Film- und Fernsehen „Konrad Wolf“ als Dozent, Rektor und Professor für Regie tätig.


Online-Flyer Nr. 308  vom 29.06.2011



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