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Inland
Wie Staatsinteressen nach dem Tod von Oury Jalloh gesichert werden
Kolonialer Polizeischutz neu aufgelegt
Von der Initiative Oury Jalloh

Der ursprünglich für Oktober 2010 anberaumte Prozess im Fall des afrikanischen Asylbewerbers Oury Jalloh begann nach einer angeblichen Erkrankung des angeklagten Polizeibeamten und Dienstgruppenleiters Andreas Schubert erst im Januar 2011 im Landgericht Magdeburg.(1) Auch wenn in der Revisionszulassung vom obersten Gericht, dem BGH, konkrete Fragen gestellt worden sind und das Landgericht Magdeburg bisher etwas mehr Interesse an der Aufklärung des gesamten Geschehens vom 7.1.2005 zu erkennen gab, erinnert dieses Verfahren in vielen Punkten doch an den ersten Prozess vor dem Landgericht Dessau-Roßlau.
 

Oury Jalloh
NRhZ-Archiv
Auch jetzt präsentieren die vorgeladenen Polizeibeamt/innen neben offenkundig einstudierten und wenig aussagekräftigen Antworten eine fadenscheinige kollektive Amnesie, wenn detaillierte und offenbar nicht-antizipierte Rückfragen gestellt werden. Es ist die altbekannte Strategie des Mauerns, die sich in Endlosschleifen aus „Weiß ich nicht mehr“ und „Ich kann mich nicht mehr erinnern“ darstellt. Es bleibt abzuwarten, ob die Vorsitzenden RichterInnen und SchöffInnen sich auf dieses Spiel der Vertuschung und den deutlichen Unwillen zur Aufklärung einlassen und am Ende wie schon Richter Steinhoff am Landgericht Dessau-Roßlau mit doppelter Zunge sprechen werden: Leider ist dieses erste Verfahren an der Polizei gescheitert - auch wenn Gericht und Staatsanwalt nur den reduzierten, in der Anklage formulierten Verhandlungsgegenstand zugelassen haben, nämlich die "unterlassene Hilfeleistung" des Angeklagten. So blieb damals deren Eigeninteresse in der Erklärung von Steinhoff außen vor, was bei anderen Verfahrenszielen, z.B. im Fall von "Staatsfeinden“, mit Maßnahmen gegen Zeugenverweigerung beantwortet worden wäre.
 
Zu Beginn dieses zweiten Verfahrens in Magdeburg hatte der Angeklagte zunächst jede Stellungnahme verweigert. Erst am dritten Prozesstag änderte er seine Strategie: Nachdem Schuberts Verteidiger eine Stellungnahme abgegeben hatte, in der er den Tod von Oury Jalloh als tragischen Schicksalsschlag bezeichnete, äußerte sich der Angeklagte selbst zu den Ereignissen am 7. Januar 2005. In der darauf folgenden Befragung durch das Gericht ging es vorwiegend um Versäumnisse der Dienstvorschriften und nicht um unterlassene Hilfeleistung oder gar vorsätzlichen Mord. Erst am siebten Prozesstag, dem 4. März 2011, deutete sich an, dass auch die Vorsitzenden RichterInnen die Verhöhnung durch die ZeugInnen erkannten. Der Polizeibeamte Schulze - einer von denen, die Oury Jalloh zuletzt lebend gesehen und die Gewahrsamszelle Nummer 5 kontrolliert hatten, wählte nach der Schilderung der Ereignisse des 7. Januar 2005 bei detaillierten Rückfragen der RichterInnen und Nebenklagevertreterin mehrfach das altbekannte „Weiß ich nicht mehr“ - bei einigen Fragen der Nebenklagevertreterin sogar oft, bevor diese ihre Fragen überhaupt zu Ende stellen konnte.
 
Ein Netz aus Lügen
 
Die Farce der Vernehmungen fand einen ersten Höhepunkt, als sich der Zeuge Schulze in einem Netz aus Lügen verstrickte. Hatte er zunächst gegenüber der Nebenklagevertreterin verneint, jemals an einem Treffen von Angehörigen der Polizei zur Vorbereitung auf den damaligen Prozess vor dem Landgericht Dessau-Roßlau teilgenommen zu haben, erinnerte er sich dann doch bei der Vernehmung durch die Verteidiger des Angeklagten Schubert an ein solches Treffen. Dabei soll den PolizeibeamtInnen gesagt worden sein, bei Gericht das auszusagen, was man wisse. Auf die verwunderte Rückfrage der Nebenklagevertreterin, ob er das vorher nicht gewusst habe, wußte Schulze keine Antwort, ersuchte das Gericht um eine Pause und blickte hilfesuchend in den Zuschauerraum.
 
"Fürsorgerechtliche Gründe“
 
Dort saß ein Vertreter vom Bezirkspersonalrat der Polizeidirektion Sachsen-Anhalt Ost, der bereits an den vorangegangenen Prozesstagen teilgenommen hatte – aus „fürsorgerechtlichen Gründen“, wie er am vierten Prozesstag im Zeugenstand verkündete. Das bedeutet soviel wie Pausengespräche mit dem Angeklagten Schubert, oder, wie am siebten Prozesstag, mit dem Zeugen Schulze. Die von Schulze beantragte Pause wurde ihm vom Gericht gewährt, doch im Zuschauerraum kam es zu Tumulten, als kritische Beobachter feststellten, dass der Vertreter des Bezirkspersonalrats dem Zeugen Schulze auf die separate Wartefläche folgen wollte, was aber erfolgreich verhindert werden konnte.
 
Befürchtet wurden strategische Absprachen während der Pause - nicht zu Unrecht, wie sich danach herausstellen sollte. Denn zunächst wurde ein Aktivist in den Zeugenstand gerufen, der seinen Unmut während der Pause kundgegeben hatte. Er kritisierte zunächst den offenbar befangenen Staatsanwalt. Dieser mache seine Arbeit nicht korrekt, die Anklageschrift sei eine Schande und müsse geändert werden. Und dann teilte er dem Gericht mit, dass er am Morgen des siebten Prozesstages mitbekommen habe, wie der Vertreter des Bezirkspersonalrates dem Zeugen Schulze riet, bei Schwierigkeiten eine Pause zu verlangen, was Schulze offenkundig tat.
 
Ein Zeuge und sein Telefon
 
Ein zweiter Höhepunkt der Farce wurde deutlich, als erneut kritische Beobachter im Zuschauerraum sahen, wie Schulze während der Vernehmung des Aktivisten im Warteraum telefonierte. Zwar sagte die Richterin, dass er das auch dürfe, allerdings leugnete Schulze dieses Telefongespräch, als seine Vernehmung fortgesetzt wurde. Die Nebenklagevertreterin fragte Schulze, ob man sein Handy anschauen könne, was er bejahte. Als er dann aber sein Handy herausholte, begann er wild darauf herumzudrücken. Obwohl alle Anwesenden im Saal dies sahen, bestritt er, Tasten gedrückt zu haben. Am achten Prozesstag stellte sich heraus, dass das Gericht danach einen Durchsuchungsbefehl beantragt hatte, um alle Handys von Schulze zu prüfen. Das Ergebnis der Auswertung dürfte bestätigen, dass er gelogen hat.
 
Wie wichtig es ist, dem Rechtssystem Deutschlands gegenüber misstrauisch zu sein, belegte dann auch die Vernehmung des Zeugen durch den Staatsanwalt. Die Aussagen Schulzes ergaben eindeutig, dass es ein polizeiinternes Treffen vor dem Prozess in Dessau gab, was interne Absprachen nahe legt. Mit dieser Vernehmung lenkte der Staatsanwalt jedoch die Aufmerksamkeit auf ein von ihm selbst anberaumtes Treffen von Mitgliedern der Polizei, was aber angeblich dazu dienen sollte, das Mauern der PolizeibeamtInnen zu beenden. Tatsächlich versuchte er damit nach Einschätzung der Prozessbeobachter, den Zeugen zu schützen und davon abzulenken, dass es offenkundig Bemühungen gab, die Wahrheit zu vertuschen und Absprachen zu treffen. Der Hinweis des Staatsanwaltes auf ein „Unglück“, das am 7. Januar 2005 angeblich passiert sein soll, wurde als Gipfel der Verhöhnung, angesehen, die die PolizeibeamtInnen demonstrierten. Denn das, was an jenem Tag passierte, war nach Meinung der Prozessbeobachter ein - nun auch institutionell gedeckter - rassistischer Mord. Einen letzten traurigen Höhepunkt erreichte dieser siebte Prozesstag, als die vorgeladene Zeugin Höpfner, im ersten Prozess noch Hauptbelastungszeugin gegen den Angeklagten Schubert, nun ihr Auskunftsverweigerungsrecht in Anspruch nahm und somit keinerlei Fragen ermöglichte. Dieses Recht steht der Polizistin zu, weil gegen sie bereits ein Verfahren wegen Falschaussage läuft und sie sich nun selbst belasten könnte. Mit diesem Ermittlungsverfahren hatte der Staatsanwalt schon seinerzeit wie auch in diesem Verfahren alles blockiert, was über seinen eigenen Anklagetext hinausgehen könnte.
 
Zwei Jahre vorher kam dort ein Obdachloser ums Leben
 
Immerhin war bereits in der Anfangsphase des Prozesses deutlich geworden, dass es keinerlei Rechtsgrundlage gab, Oury Jalloh damals in Gewahrsam zu nehmen, ihn an Händen und Füssen zu fixieren und über mehrere Stunden gefangen zu halten. Die Polizisten hatten sich nicht an die Gewahrsamsordnung gehalten und nach eigenem Gutdünken schlampige Kontrollen durchgeführt. Dieses Verhalten und auch dessen rechtsstaatliche Absicherung ist nicht neu: Bereits gut zwei Jahre vor dem Tod von Oury Jalloh war der obdachlose Mario Bichtemann in der gleichen Zelle unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen und ein Ermittlungsverfahren gegen Schubert eingestellt worden.
 
Der Angeklagte Schubert war auch nach Oury Jallohs Festnahme der agierende Dienstgruppenleiter gewesen, die Polizeibeamtin Höpfner seine "rechte Hand“, "Kontrollgänge" wurden unter anderem auch vom Polizisten Jürgen Semmler durchgeführt, der am achten Prozesstag als Zeuge mit seiner Aussage den Angeklagten weiter belastete: Als nämlich der zweite Kammervorsitzende Caspari Semmler mit dem Fall Mario Bichtemann konfrontierte, sagte er aus, ihm sei bei der Kontrolle des Mannes u.a. aufgefallen, dass dieser nicht mehr zu wecken gewesen sei und dass er am Gesundheitszustand des Gefangenen stark gezweifelt habe. Als er seinen Vorgesetzten Schubert darüber informierte, habe dieser es nicht für nötig gehalten, sich direkt in die Gewahrsamszelle zu begeben, um sich vom Zustand des Mannes selbst ein Bild zu machen und entsprechende Maßnahmen einzuleiten.
 
Semmlers Befragung konnte auf Grund einer angeblichen erneuten Erkrankung des Angeklagten Schubert erst vier Wochen später fortgesetzt werden. Da erinnerte sich der Zeuge auch an einen eingesperrten Drogenkonsumenten aus Köthen, dem es so schlecht ging, dass er, Semmler, Schubert gesagt habe, er würde diesen nicht unbeaufsichtigt lassen. Schubert habe das aber mit der Begründung abgelehnt, dass er weiter seinen Dienst verrichten solle. Auf die Frage, ob es nicht schon nach dem Tod von Bichtemann und spätestens nach dem von Oury Jalloh Überlegungen gab, wie so etwas zu verhindern sei, antwortete Semmler: „Oury Jalloh war für mich kein Fall, das war eine normale Kontrolle einer Gewahrsamszelle“. Und auf die Frage, ob er kein Interesse an Aufklärung gehabt hätte: „Nee, was da passiert ist, war ein mittleres Wunder. Das ist schon alles tausendmal durchgekaut worden, und wer was davon gehört hat, dass da etwa ein Feuerzeug da war und gefunden wurde. Wie sonst soll´s brennen, als durch Feuerzeug, Streichhölzer oder Voodoo.“
 
„Da piekste mal nen Schwarzen“
 
Dieses Verhalten gegenüber Ausländern und anderen "Randgruppen“ ist offensichtlich zu normal, als dass man sich damit auseinandersetzen will. „Zeit heilt alle Wunden“, wie Semmler seine Verarbeitung der Ereignisse erklärte. Auch als ihm das schon länger bekannte Telefonat von Schubert und dem Arzt Dr. Blodau vorgehalten wurde („Da piekste mal nen Schwarzen“), wußte er: „Das sind so Sprüche, ist wie auf´m Bau“. Die fallen da auch vom Himmel und Menschen resp. Bauarbeiter sind nun mal so.
 
Wie Festnahme, Einsperrung und Isolation der Opfer im Rahmen der Ordnung funktionieren, demonstrierte anschließend der damalige Revierleiter Kohl. Dass nach dem Tod von Mario Bichtemann im November 2002 ein Ermittlungsverfahren gegen Schubert eingeleitet und wieder eingestellt wurde, war ihm bekannt. Dass damals die nach Gewahrsamsordnung halbstündigen Kontrollen auch nicht durchgeführt wurden, war ihm, dem Revierleiter, angeblich weniger bekannt, denn: „Dann hätte Schubert ja gegen die Gewahrsamsordnung verstoßen, aber die Ermittlungen gegen ihn wurden eingestellt". Ähnlich seine Antwort auf die Frage, in welchen Jahren und wie oft die Beamten in diese Vorschriften eingewiesen wurden: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass jahrelang nicht geschult worden ist“. Für die Ermordung von Oury Jalloh ist das tatsächlich belanglos, da weder Gewahrsams- noch Brandschutzordnung sich mit der Frage beschäftigen, warum jemand eingesperrt wird und wie ein Brand in einer Zelle ausbrechen kann. Umso ehrgeiziger war dieser Zeuge Kohl aber, schon einige Tage nach dem Mord auf Versammlungen und mit Aushängen im Polizeirevier die offizielle Version zu verbreiten, nach der Oury Jalloh sich selbst angezündet und der Angeklagte Schubert "unverzüglich“ auf den Alarm reagiert habe. Auch seine eigene erste Zeugenaussage, wonach Schubert nach dem Alarm einige Minuten telefoniert habe, änderte er nun dahin, dass das Telefongespräch nur eine Minute gedauert habe, so wie ihm nun auch wieder einfiel, dass er vom Beamten Steinmetz von dem angeblich verlorenen Feuerzeug des ehemals angeklagten Kollegen März gehört habe, nachdem ihm dessen Name an diesem Verhandlungstag vorgehalten wurde, und dass er diese Information „garantiert“ an seine Vorgesetzten weitergeleitet habe. - Einstellung und Taten des Zeugen Kohl, die in weiten Teilen schon durch das Verfahren in Dessau bekannt wurden, hatten inzwischen zur Folge, dass er mittlerweile zum Leiter des größeren Reviers Anhalt-Bitterfeld aufgestiegen ist.
Vielleicht hatte er sich das ja dadurch verdient: „Im Rahmen meiner dienstlichen Verantwortung habe ich mich in Tatortnähe aufgehalten.“
 
"Niemand, der zu so etwas fähig wäre"
 
Zwei Wochen später erfuhr das Gericht vom Zeugen Möbes, der Schubert nach dem Alarm zur Zelle begleitet hatte und dort nach eigener Aussage versuchte, das Feuer mit einer Decke zu löschen, auf die Frage, ob er Schubert danach gefragt habe, warum er nicht einen Feuerlöscher oder ähnliches mitgenommen habe: „Zum Leben erwecken können wir den Herrn Jalloh nicht und die Zeit zurückdrehen. Das darf nicht passieren, schon gar nicht mit einem - ich sag mal Schutzbefohlenen“. Wenn es um die Loyalität zu den Kollegen geht, hilft offenbar die formelhafte Sprache der Verdrängung, die eigene Nicht-Auseinandersetzung mit dem "Fall Oury Jalloh" zu rechtfertigen. Doch besitzt dieser Zeuge in seiner ganzen Befangenheit noch ein Minimum an Empathie: Als ihm von den RichterInnen und der Nebenklage trotz Störversuchen der Verteidigung genug Raum gelassen wurde, sich zu erinnern, beschrieb er relativ genau, was er in der Zelle gesehen hatte, und wie Oury Jalloh auf der Matratze brannte: „von oben bis unten, der Anblick war grauenhaft“ und: „die Flammen nicht hoch, 20 bis 30cm“. Das war kurz nachdem die Zeugin Höpfner Oury Jalloh noch bitten hörte: „Mach mich los“ und dann: „Feuer!“. Dennoch ist auch für ihn ausgeschlossen, dass welche von seinen Kollegen Oury Jalloh angezündet haben: „Dagegen verwehre ich mich, dass so eine Anzeige gemacht wird, und ich kenne niemanden in unserem Bereich, der zu so was fähig wäre“.
 
Eine Überraschung gab es noch, als der Zeuge Bock - der mittlerweile im Revier Anhalt-Bitterfeld arbeitet und irgendwie verpasst haben muss, was Konsens an seiner ehemaligen Arbeitsstelle ist - erzählte, wie er nach der „Fixierung“ von Oury Jalloh auf Streife war und danach in den Gewahrsamsbereich ging, um den Kollegen März zu fragen, ob dieser mit „zu Mittag" kommen wolle. Der habe in dem Moment mit seinem Kollegen Scheibe in der Zelle Nr. 5, gestanden und „Abtastbewegungen“ an der Hose von Oury gemacht und gesagt, dafür gerade keine Zeit zu haben. Also ging der Zeuge „zu Mittag" und kam danach auf den Hof, als das Feuer schon ausgebrochen war. Auch wenn er auf den Vorhalt, dass Scheibe gesagt habe, um neun Uhr das letzte Mal in der Zelle gewesen zu sein, und Bock daraufhin davon sprach, womöglich habe er nur nach dem „zweiten Frühstück“ gefragt, war damit ausgesprochen, was Frau Höpfner schon früher damit angedeutet hatte, dass sie um 11.30 Schlüsselgeräusche an der Zellentür gehört habe. Doch die verweigert ja nun dank dem Eingreifen des Staatsanwalts jede Aussage und schweigt.
 
Staatsanwalt: Ein vermeidbares "Unglück"
 
In seiner Befragung des Zeugen Bock bemühte sich Oberstaatsanwalt Christian Preissner, diesen wieder auf die richtige Spur zu bringen und verwies ihn mit den Worten „Ist ja lange her, da können sich Erinnerungen ändern“, darauf, dass er womöglich doch früher in der Zelle gewesen sei. Ein derartiges Verhalten von Preissner konnte im bisherigen Verlauf des Prozesses immer wieder beobachtet werden. Wann immer die Zeugenaussagen auch nur im Ansatz von den bisherigen Erkenntnissen abwichen oder die staatsanwaltschaftliche "Unglückstheorie“ nicht bestätigten, versuchte Preissner die entsprechenden Polizeibeamten wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Dabei erweckten seine Fragestellungen und Äußerungen den Eindruck, als wäre er an einer Aufklärung der Todesursache von Oury Jalloh nicht nur nicht interessiert, sondern steuere dieser sogar vehement entgegen. Nach wie vor spricht er unbeirrt von einem „Unglück“ und suggeriert damit den Prozessbeteiligten, dass die Ereignisse vom 7.1.2005 eine Art „Unfall“ waren. Seiner Ansicht nach hat Oury Jalloh sich mit einem (nicht vorhandenen) Feuerzeug auf einer feuerfesten Matratze selbst angezündet, um die BeamtInnen dazu zu bewegen, ihn von den Hand- und Fußfesseln zu befreien. Dabei habe der Gefangene wohl nicht damit gerechnet, dass die PolizistInnen nicht schnell genug reagieren und erst eintreffen würden, als er bereits an einem Hitzeschock gestorben war. Dies stellt in den Augen Christian Preissner das vermeidbare „Unglück“ dar. Tatsächlich ist diese Hypothese genauso haltlos wie alle anderen Theorien, die davon ausgehen, dass Oury Jalloh sich allein angezündet haben könnte. Abgesehen davon, dass er kein Feuerzeug hatte - dies wäre ja bei der Durchsuchung gefunden worden - und dass die Matratze, auf der er lag, keine Beschädigungen aufwies, fehlt der wohl wichtigste Beweis, der für eine Selbstanzündung mit dem Ziel, auf sich aufmerksam zu machen, sprechen würde: Oury Jalloh hat nicht geschrien. Das bestätigte auch die Zeugin Anette Freund. Diese hatte am 7.1.2005 den ganzen Vormittag an der Hauswache gesessen. Sie erklärte, dass man gelegentlich Leute aus dem Gewahrsamsbereich schreien hören konnte, Oury Jalloh hingegen habe sie an diesem Tag nicht gehört. Und bei der Ortsbesichtigung des Polizeireviers in Dessau am 5.5.11 durch die Prozessbeteiligten konnten diese bei einem Test selbst erleben, dass man Schreie aus der Zelle tatsächlich deutlich bis in den DGL-Bereich hörte.
 
„Unbeabsichtigte Erinnerungsfehler“
 
Am 16. Verhandlungstag kam es zu einer skandalösen Entwicklung. In den vergangenen Prozesstagen hatten zwei beachtliche Aspekte zu einer Wende im Revisionsverfahren beigetragen. Doch Oberstaatsanwalt Christian Preissner versuchte nun, die daraus resultierenden neuen Entwicklungen zu torpedieren.
 
Nachdem der Zeuge Bock in seiner durchaus glaubwürdigen Aussage dargelegt hatte, dass die Polizeibeamten März und Scheibe - entgegen ihren eigenen Angaben - kurz bevor Oury Jalloh verbrannte, noch einmal in der Zelle waren, deutete alles darauf hin, dass die beiden etwas mit dem Tod des Afrikaners zu tun haben könnten. Der Staatsanwalt hat jedoch offenbar ganz andere Interessen. Am Ende des Verhandlungstages forderte er in einem Beweisantrag, die Beamten März, Scheibe und eventuell Thippe erneut zu laden. In einer langen Rede erklärte er, dass sich der Zeuge Bock getäuscht haben müsse, als er davon sprach, gegen Mittag noch einmal in der Zelle gewesen zu sein. „Ich mache dem Zeugen Bock keinen Vorwurf, das kann ja auch nur ein Irrtum gewesen sein“, erklärte Preissner. Er unterstellte Bock „unbeabsichtigte Erinnerungsfehler“, welche durch die Aussagen von März und Scheibe bestimmt revidiert werden könnten.
 
Beweisstücke verschwanden
 
Daraufhin stellt die Nebenklagevertretung zum zweiten Mal die Frage nach dem Verbleib des Fahrtenbuches von März und Scheibe. Dieses könnte darüber Aufschluss geben, ob die beiden Beamten nach der Ingewahrsamnahme mit dem Funkstreifenwagen noch einmal im Stadtgebiet unterwegs waren oder nicht. Aber dieses Fahrtenbuch, das sich eigentlich in den Akten der Staatsanwaltschaft befinden müsste, ist nicht mehr aufzufinden. Es ist nicht das erste Beweismittel, das im Zuge der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen einfach verschwunden ist. Neben den Videoaufzeichnungen im Gewahrsambereich, auf welchen man alle Personenbewegungen am Vormittag des 07. Januar 2005 hätte sehen können, und dem zweiten Paar Handschellen, mit denen Oury Jalloh fixiert worden war, ist damit erneut ein wichtiges Beweisstück verschwunden.
 
Aber es verschwinden nicht nur Dinge im Fall Oury Jalloh, es tauchen auch neue Gegenstände auf. So zum Beispiel ein Feuerzeug, welches auf der ersten Asservatenliste nicht notiert worden war, aber einige Tage später auf einer zweiten Liste vermerkt wurde. Fazit: Video, Handschellen und Fahrtenbuch verschwinden - ein Feuerzeug taucht auf, mit dem sich Oury Jalloh selbst verbrannt haben soll.
 
Als Reaktion auf die Revierbesichtigung am Donnerstag, 12.5.11, stellte Preissner einen zweiten Beweisantrag. Dieser stieß ebenfalls auf völliges Unverständnis, und diesmal nicht nur bei den Prozessbeobachtern. Auf die Erkenntis hin, dass man mögliche Hilfeschreie von Oury Jalloh aus der Zelle bis in das Zimmer des damaligen Dienstgruppenleiters Andreas Schubert deutlich hätte hören können, teilte er mit, dass in den Jahren nach dem Feuertod von Oury Jalloh Baumaßnahmen im Revier erfolgt seien. Um auszuschließen, dass diese möglicherweise die Akustik im ganzen Revier verändert haben könnten, beantragte Preissner die Ladung von für den Bau Verantwortlichen als Sachverständige.
 
Selbst die Verteidigung von Andreas Schubert hält diesen Beweisantrag anscheinend für völlig schwachsinnig. Infolge der Besichtigung des Dessauer Polizeireviers und dem vor Ort durchgeführten Akustik-Test hatten beide Verteidiger bereits zu Beginn des Verhandlungstages mit folgender Erklärung überrascht: Die Problematik, ob man nun Hilferufe aus der Zelle 5 bis in den Raum des Dienstgruppenleiters habe hören können oder nicht, spiele für diesen Prozess keine Rolle. Rechtsanwalt Teuchtler: Es sei nicht erwiesen, dass Oury Jalloh überhaupt geschrien habe, weil kein Zeuge jemals etwas von lauten Hilferufen berichtet habe, begründet er seine Meinung. Sein Kollege Böger fügte hinzu, „dass nicht erwiesen ist, ob ein Leichnam verbrannt ist, oder ein Mensch bei lebendigem Leib.“
 
Die Richterin wies anschließend darauf hin, dass sich demnächst die zwei von Preissner gewünschten Sachverständigen zu dieser Problematik äußern würden. Worauf die Nebenklagevertreterin Gabriele Heinicke fragte: „Sie meinen zu der Problematik, ob jemand
der verbrennt, schreit oder nicht schreit?“
 
Es wird eng für Oberstaatsanwalt Preissner
 
Ausgerechnet die Verteidigung räumte demnach ein, wovon die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh von Anfang an überzeugt war: Oury Jalloh hat nicht geschrien. Und dafür gibt es nur zwei mögliche Erklärungen: Entweder war er bewusstlos geschlagen worden oder bereits tot, als er angezündet wurde. Beide Varianten schließen jedenfalls aus, dass er sich selbst angezündet hat. Es wird offensichtlich eng für Oberstaatsanwalt Christian Preissner. Auch durch derart abstruse Beweisanträge und verschwindende Beweismittel wird er die Wahrheit nicht länger unter den Teppich kehren können.
 
Fazit: So macht ein deutscher Oberstaatsanwalt seine Arbeit: Er schützt den Staat, dessen Gewalt und Gesetze und kümmert sich um seine weitere Karriere. Nicht umsonst sieht der Rechtsstaat vor, dass eine Anklage im Fall Oury Jalloh nur von ihm vorgenommen werden kann. Nachdem die Nebenklage schon am 14.4. eine erneute Vernehmung der Polizeibeamten März und Scheibe gefordert hatte, legte auch er am 12.5. einen Beweisantrag zur Vorladung der beiden Beamten vor, um - nach seinen Worten - zu zeigen, dass Bock sich hinsichtlich deren Aussage geirrt habe. Und die von ihm beantragte Vernehmung zu Baumaßnahmen in Dessau nach dem 7.1.05 soll zeigen, ob es dem Angeklagten an diesem Tag möglich gewesen sei, Schreie aus der Zelle wahrzunehmen und ob er nicht darauf reagiert hat.
 
Auch damit bliebe seine Behauptung erhalten, dass Oury Jalloh sich, um Aufmerksamkeit zu erregen, selbst angezündet habe und Schubert nicht sofort reagierte, was ja Inhalt der staatsanwaltlichen Anklage ist. Beides zusammen genommen zeigt, was Sinn des rechtsstaatlichen Verfahrens ist: Ein Anzuklagender wird gefunden, auch wenn dessen Prozess nichts mit der Brandursache zu tun hat, und der wird dann so erledigt, dass kein Mensch von der Polizei an dieser beteiligt und dafür verantwortlich war. Im Ergebnis wurde "der Fall“ bisher so verhandelt, dass die Ausführenden der staatlichen Gewalt gegen Menschen aus den kolonisierten Ländern und Kontinenten geschützt und zur weiteren Gewaltausübung autorisiert werden.
 
Diese Technik war den westlichen Staaten schon in den Zeiten bekannt, die in den Geschichtsbüchern offiziell als Kolonialismus gilt und die Gewalt der "Schutztruppen“ gegen die Menschen aus den kolonisierten Gebieten als abgesegnet durch das allgemeingültige Recht legitimierte. An dieser Verfahrensweise und ihrer Grundlage, der Selektion von Schwarz und Weiß, hat sich wenig geändert, und dabei macht Preissner treu seine Arbeit, in derselben Beschränktheit wie seine Schutzbefohlenen von der Polizei in Dessau. Diese ist vor allem damit beschäftigt, Anzeigen gegen Teilnehmer der Initiative Oury Jalloh wegen Beleidigung zu stellen, so wie sie schon zuvor - unterstützt vom Oberstaatsanwalt - mit Durchsuchungen, Festsetzungen und anderen Gewaltausübungen gegen MigrantInnen reagierte. Schon in dem Verfahren in Dessau hat auch das Gericht bewiesen, auf welcher Seite es steht und dass Parteilichkeit immer noch sicherer ist als Aufklärung dessen, was im Rahmen dieser Gesellschaft üblich und möglich ist.
 
Deshalb gab es am 19. Mai im Anschluss an die nächste Verhandlung eine Demonstration durch Magdeburg, die vor dem Landgericht begann. Die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh forderte: "BREAK THE SILENCE! Brecht das Schweigen! Wir wollen ein faires Verfahren, das Aufklärung des Falles, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die Familie bringt! Ein Ende der Schikanen und Repression gegen alle Aktivist_innen! Ein Ende der Polizeibrutalität und des Behördenrassismus!" Eine weitere Demonstration zum Gedenken an Oury Jalloh und für Aufklärung und Gerechtigkeit ist für den 27. Juni in Berlin geplant. (PK)
 
(1) http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=16093
 
Weitere Infos zu dem bis Dezember 2011 vorgesehenen Prozess http://initiativeouryjalloh.wordpress.com/


Online-Flyer Nr. 303  vom 25.05.2011

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