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Medien
Neues in Medien wie DIE ZEIT zu gewalttätigen Jugendlichen?
Neu sind nur die Kameras in den U-Bahnen
Von Klaus Jünschke

Neue Worte gehen um: Nach „Monster-Kids“ und „Koma-Schläger“ haben Journalisten mit „Hass-Treter“ wieder mal ein neues Wort für gewalttätige Jugendliche erfunden. Aber wie selbst die Auseinandersetzung mit den sogenannten „U-Bahn.Schlägern“ in der ZEIT vermittelt, kommt nichts Gutes dabei raus. Die Ignoranz der Jugendlichen, die außer sich vor Wut vor laufenden Kameras schwerste Straftaten begehen, findet ihre Entsprechung in den Berichten der Journalisten über sie:
 
Mord und Totschläger
Jugendgewalt: Zu viel Milde untergräbt das Vertrauen ins Recht.
Wie Jugendliche zu grausamen Schlägern werden, das bleibt trotz aller Forschungen ein verstörendes Rätsel. Wie ihnen zu begegnen ist und ob die Jugendgewalt insgesamt brutaler wird – all das ist heftig umstritten. Nur über eines sind sich alle Fachleute einig: Die Justiz muss schnell arbeiten, wenn sie es mit jugendlichen Gewalttätern zu tun bekommt. Vergeht zwischen Straftat und Strafe zu viel Zeit, verpufft die Wirkung der Sanktion.“
So macht die ZEIT vom 12.Mai 2011 den Artikel ihres Politik-Redakteurs Heinrich Wefing auf. Vor der Anklageerhebung und vor dem Prozessbeginn plädiert diese Zeitung damit für eine Mordanklage gegen einen ausgerasteten Jugendlichen.
Wer wissen will, wie Jugendliche zu „grausamen Schlägern“ werden, muss sie anhören. Da sie in der Debatte über Jugendgewalt nicht zu Wort kommen, kann ein Redakteur behaupten, es sei ein „verstörendes Rätsel“.  Die seit Ende der 70er Jahre veröffentlichten Studien, die auf narrativen Interviews mit inhaftierten Jugendlichen beruhen, bleiben unberücksichtigt.
Schreiben, es sei „heftig umstritten“, ob „die Jugendgewalt insgesamt brutaler wird“, kann nur, wer den Forschungsstand zu dieser Frage nicht zur Kenntnis nimmt.  Tatsächlich haben die Studien des Kriminologischen Forschungsinstituts von Niedersachsen (KFN) ergeben, dass das Gegenteil richtig ist. Zwar ist die Zahl der Anzeigen gegen gewalttätige Jugendliche gestiegen, weil die Sensibilität dafür in der Gesellschaft gewachsen ist, aber die Brutalität selbst ist zurückgegangen. Das belegen die vom KFN gesichteten Akten der Versicherungen, die bescheinigen, dass schwere Verletzungen unter Jugendlichen rückläufig sind.
In diesem Zusammenhang muss auch betont werden, dass der geschichtslose Bezug auf „früher“, wo angeblich aufgehört wurde zuzuschlagen, wenn einer auf dem Boden lag, zu den Märchen von Polizisten und Journalisten und Politikern gehört, die damit ihre Forderungen nach mehr Härte zu begründen versuchen. Wann soll denn dieses „früher“ gewesen sein? Vor 1945? Das zu behaupten traut sich niemand. Oder in den 50er und 60er Jahren, als z.B. in manchen Städten bei den sogenannten Halbstarken-Krawallen mehrere Hunderte von jungen Leuten mit bloßen Fäusten und allen möglichen Schlagwerkzeugen aufeinander losgingen? Natürlich sind damit auch nicht die 800.000 Kinder und Jugendlichen gemeint, die nach 1945 bis weit in die 70er Jahre in der Bundesrepublik in Heimen gnadenlos misshandelt worden sind.  Gemeint sind auch nicht die totgeschlagenen Gefangenen in der Hamburger Glocke und im Kölner Klingelpütz in den 60er Jahren. Und völlig ausgeblendet wird das Elend der Frauen und Kinder, die über all diese Jahrzehnte bis heute in den eigenen vier Wänden solange malträtiert werden, bis den erwachsenen Schlägern aus allen Schichten der Bevölkerung die Kraft zum Schlagen schwindet.
Was heute neu ist, das sind nur die Kameras auf den U-Bahnhöfen und die Vielzahl von Medien, die  auf der Schiene "sex and crime sells“ um Einschaltquoten und Auflagen konkurrieren.
ZEIT-Journalist Heinrich Wefing behauptet weiter, dass sich alle Fachleute über eines einig seien: „Die Justiz muss schnell arbeiten, wenn sie es mit jugendlichen Gewalttätern zu tun bekommt.“
Dabei wusste schon Franz von Liszt (1851 - 1919): „Wenn ein Jugendlicher oder auch ein Erwachsener ein Verbrechen begeht, und wir lassen ihn laufen, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass er ein Verbrechen begeht, geringer, als wenn wir ihn bestrafen.“ In den 60er Jahren formulierte Max Busch, der Leiter der damals neu gebauten Jugendstrafanstalt in Wiesbaden: „Die Strafanstalt liefert der Gesellschaft jährlich qualifizierte Verbrecher, die als Amateure hineinkommen.“ Beide Zitate stammen aus der ZEIT vom 21.3.1969 aus einem Beitrag von Theodor Hofmann, der mit „Alte Gitter müssen fallen“ betitelt war.
ZEIT-Journalist Theodor Hoffmann stellt am Ende seines Artikels auch die „Denkschrift der Arbeitswohlfahrt zur Reform des Jugendwohlfahrtsrechts, des Jugendgerichtsgesetzes und der Vormundschaftsgerichte“ von 1968 vor, in der gefordert worden ist, gegen Jugendliche keine Freiheitsstrafe mehr zu verhängen. Der gänzliche Verzicht auf den Jugendstrafvollzug konnte gefordert werden, weil es ihn in der Schweiz z.B. schon gab und sich dort bewährt hat.
Nachdem nach dem sogenannten Foltermord in der Jugendstrafanstalt Siegburg in Nordrhein-Westfalen eine Untersuchungskommission beauftragt worden war, Vorschläge für eine effektive Präventionspolitik in Nordrhein-Westfalen zu erarbeiten, wurde am 19. Juni 2009 auch Renato Rossi, der Leiter des Arxhofes, einer Schweizer Alternative zur Jugendhaft, angehört. Er erklärte, dass „das Schweizer Jugendstrafrecht und das gilt auch für junge Erwachsene, kein Tatstrafrecht, sondern ein Täterstrafrecht ist. Das bedeutet, dass der Richter nicht beurteilt, wie schwer die begangene Tat war, sondern was der Jugendliche oder junge Erwachsene braucht, um resozialisiert zu werden.“ Und er fuhr fort: „Aber es ist nicht so, dass, je länger die Strafe dauert, sie umso nützlicher ist. Unsere Grundhaltung ist: Strafe ist ab einer bestimmen Länge nicht mehr wirksam.“
Wenn ein Journalist wie Heinrich Wefing in einem Blatt wie DIE ZEIT behauptet „Zu viel Milde untergräbt das Vertrauen ins Recht“ müsste er erklären können, was das für ein Recht ist, das zu Rückfallquoten von 80 % bei zur Jugendstrafe ohne Bewährung Verurteilten führt.
Die Frauen und Männern, die in der Jugendhilfe mit auffällig gewordenen Jugendlichen arbeiten und sich von dieser Sorte Berichterstattung nicht dumm machen lassen, wissen, dass es die Erwachsenengesellschaft ist, die für das, was Kinder und Jugendliche tun, die Verantwortung zu übernehmen hat. Und genau diese Verantwortung wollen die loswerden, die den Sozialabbau vorantreiben und in der sich weitenden Schere zwischen arm und reich auf der Gewinnerseite stehen. Noch viel deutlicher als in Europa, wo der Sozialstaat noch nicht radikal zerstört worden ist, ist in den USA zu sehen, für was law-and-order steht. „Die Vereinigten Staaten haben sich eindeutig für eine Kriminalisierung des Elends als Gegenstück zur allgemeinen sozialen Unsicherheit und der Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt entschieden.“  (Loic Wacquant: Elend hinter Gittern, Konstanz 2000) (PK)

 
Klaus Jünschke hat zusammen mit Jörg Hauenstein und Christiane Ensslin das Buch „Pop Shop“ herausgegeben, damit die inhaftierten Jugendlichen in der Debatte über sie selbst eine Stimme erhalten. Siehe auch www.jugendliche-in-haft.de


Online-Flyer Nr. 302  vom 18.05.2011



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