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Globales
Weltuntergangswarnungen angesichts einer modernen Demokratiebewegung
Der arabische Frühling
Von Seyla Benhabib

Die Massen mutiger Menschen in der arabischen Welt, von Tunis bis zum Tahrir-Platz, von Jemen und Bahrain bis nach Bengasi und Tripolis, haben unsere Herzen erobert. In den Vereinigten Staaten und in Europa ist der Winter der Unzufriedenheit jedoch nicht vorbei: Weder hat der arabische Frühling den unbarmherzigen Angriffen konservativer Politiker auf die materiell Schwächsten in den USA Einhalt geboten, noch hat der Aufstieg eines politisch verbrämten Neonationalismus in Deutschland und Frankreich ein Ende gefunden, die beide versuchen, ihre nationalen Sparmaßnahmen allen Lohnempfängern in der Europäischen Union aufzuzwingen.


Ägypten, 11. Februar 2011 – die Revolution hat gesiegt
NRhZ-Archiv
 
Dennoch sprießen selbst in einigen amerikanischen Bundesstaaten frische Schösslinge aus dem gefrorenen Boden: Wochenlang kämpften die Beschäftigten im öffentlichen Dienst in Wisconsin gegen den Verlust ihres Rechts auf Tarifverhandlungen, und ähnliche Aktionen sind für Indiana, Ohio und andere Bundesstaaten angekündigt. Im Internet macht das Foto eines Plakats, das ein ägyptischer Demonstrant hochhält, die Runde. Auf dem Plakat steht: „Ägypten unterstützt die Arbeiter in Wisconsin: Eine Welt, ein Leid“. Ein Einwohner von Wisconsin antwortete: „Wir lieben Euch. Danke für die Unterstützung und Glückwunsch zu Eurem Sieg!“
 
Natürlich kämpfen die Demonstranten in Wisconsin und die tunesischen und ägyptischen Revolutionäre für unterschiedliche Ziele. Erstere widersetzen sich ihrer weiteren Ruhigstellung und Demütigung, durch die sie in den vergangenen 20 Jahren aufgrund der verheerenden Auswirkungen des amerikanischen und des globalen Finanzkapitalismus beinahe zu gefügigen und mutlosen Stubenhockern gemacht worden sind. Die arabischen Revolutionäre hingegen kämpfen für demokratische Rechte, einen freien öffentlichen Raum und den Anschluss an die moderne Welt nach Jahrzehnten der Lügen, Isolation und Täuschung. In beiden Fällen aber wurde Hoffnung auf Wandel geweckt: Die politischen und wirtschaftlichen Ordnungen sind zerbrechlich und für Veränderungen empfänglich.
Eine neue Freiheitsordnung
 
Doch wir wissen, dass auf den Frühling der Revolutionen die Leidenschaften des Sommers und die Zwietracht des Herbstes folgen. Spätestens seit Hegels Analyse der Auswüchse der Französischen Revolution in seiner 1807 erschienenen „Phänomenologie des Geistes“ ist die Ansicht, die Revolution fresse ihre Kinder, allgemein verbreitet. Davor warnte nicht nur US-Außenministerin Hillary Clinton in den ersten Tagen des Aufstands in Ägypten; auch zahlreiche Kommentatoren, die ihr mangelndes Vertrauen in die Fähigkeit arabischer Völker, Demokratie zu praktizieren, vorübergehend verbargen, frohlocken nun angesichts erster Kontroversen zwischen religiösen und säkularen Gruppen in Ägypten und Tunesien. Die Journalisten und Intellektuellen der europäischen Rechten haben lang und breit darüber diskutiert, ob „Islamophobie“ rassistisch ist oder nicht. Nun bemühen sie sich, ihre Spuren zu verwischen, während die „Pseudofreunde“ Israels unter europäischen Konservativen vor Weltuntergangsszenarien warnen, die sie durch angeblich drohende Angriffe auf den Norden Israels seitens der Hisbollah und auf den Süden durch Ägypten im Bündnis mit der Hamas heraufziehen sehen.[1]
 
Nichts davon ist unvermeidlich: Es ist nicht unvermeidlich, ja nicht einmal wahrscheinlich, dass fundamentalistische muslimische Parteien Tunesien oder Ägypten in Theokratien verwandeln; und es ist auch keineswegs unvermeidlich, dass Iran bestimmenden Einfluss gewinnt und die arabischen Staaten erneut Krieg gegen Israel führen. Was sich vor unseren Augen abspielt, ist wahrhaft revolutionär in dem Sinne, dass sich in der arabischen Welt grenzübergreifend eine neue Freiheitsordnung – ein novo ordo saeclorum – herausbildet.
 
Bis vor kurzem hieß es oft, nicht nur in der arabischen, sondern in der muslimischen Welt insgesamt gäbe es lediglich drei politische Optionen: erstens korrupte Autokratien, deren Autorität, wie in Ägypten und Libyen, auf einen Militärputsch zurückgeht, und Königshäuser, die sich, wie in Saudi-Arabien und Jordanien, Loyalität gegen Wohlstand erkaufen; zweitens „islamische Fundamentalismen“ – eine pauschale Kategorie, die vorsätzlich die Geschichte wie auch die Politik dieser verschiedenen Gruppen innerhalb der Regime wie auch untereinander verschleiert; drittens den „Terrorismus“ von Al Qaida, der gelegentlich in dieselbe Schublade wie der islamische Fundamentalismus gesteckt wurde. (Historisch gesehen liegen die Wurzeln von Al Qaida im Königreich Saudi-Arabien, wo Osama bin Laden geboren wurde. Aber auch viele Ideologen der ägyptischen Muslimbruderschaft, wie etwa Said al-Qutb, haben Al Qaida beeinflusst. Es ist außerdem bekannt, dass die Nummer 2 von Al Qaida, Eiman al-Sawahiri, ein ägyptischer Arzt ist.)
 
Was jedoch kein Kommentator voraussah, ist die Herausbildung einer Massenbewegung demokratischen Widerstands, die in ihrem Politikverständnis äußerst modern und bisweilen zwar vom Glauben geprägt, aber nicht fanatisch ist – ein wichtiger, ständig ignorierter Unterschied. So wie die Anhänger Martin Luther Kings ihre Bildung in den Kirchen der Schwarzen im amerikanischen Süden erhielten und auch ihre spirituelle Kraft aus diesen Gemeinden bezogen, so stützen sich die Massen in Tunesien, Ägypten und anderswo auf die islamischen Traditionen der Schahada, gleichzeitig Märtyrer und Zeuge Gottes zu sein. Die religiöse Überzeugung und die modernen Sehnsüchte vieler, die an diesen Bewegungen teilnahmen, sind nicht zwangsläufig unvereinbar.... (PK)

Die Fortsetzung dieses Beitrags finden Sie unter
http://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2011/mai/der-arabische-fruehling
in der Monatszeitschrift "Blätter für deutsche und internationale Politik" 5/2011


 
Seyla Benhabib (geb. 1950 in Istanbul) ist Professorin für politische Theorie.
Zurzeit ist sie an der Yale University tätig. Ihr Themengebiet ist die sozial-politische Ideengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, feministische Theorie und die Frankfurter Schule im Besonderen. 2009 wurde sie mit dem Ernst-Bloch-Preis ausgezeichnet.


Online-Flyer Nr. 300  vom 04.05.2011



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