NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

Fenster schließen

Glossen
Soziale Lektionen aus einem GAU anlässlich des anderen
Aus Tschernobyl lernen heißt abschalten lernen
Von Markus Omar Braun

Wer von Fukushima erschreckt sich am Anfang dieses GAUs entschloss, aus Tschernobyl zu lernen, und sei es nur, um den Mangel an relevanter Information zum aktuellen Nuklearunfall auszugleichen, der konnte sein blaues Wunder erleben. Wer das Gleiche jetzt unternimmt, wird leider immer noch Dinge erfahren, die in der Öffentlichkeit keiner oder kaum einer sagt. Das Internet reicht als Medium solcher Informationsbeschaffung, man muss nicht einmal Englisch oder gar Russisch verstehen.


Eins der Tschernobyl-Opfer
NRhZ-Archiv
Lügen durch Verschweigen und Ignorieren
 
Wer einige Details der Geschichte von Tschernobyl kennt und dann noch von vermeintlicher Rationalität der Atomkraft oder auch nur von "Laufzeiten“ salbadert oder diesen Nonsens wiederkäut, ist entweder ein Idiot, ein Dummkopf oder kriminell - oder alles gleichzeitig. Das wesentliche Merkmal jenes Unfalls bestand darin, dass er erfolgreich eingedämmt werden konnte - um den Preis der Leben mehrerer zehntausend Liquidatoren. Das Ganze wird zielgerichtet von der Waffen- und Atomlobby aller Nationen totgeschwiegen. Wie hat man das hinbekommen? Indem man schlicht und einfach die Liquidatoren, die nicht gleich vor Ort gestorben sind, nicht zu den "Kollateralschäden“ gezählt hat, sondern zur normalen landesüblichen Sterblichkeit. Außerdem hat sich kaum jemand dafür interessiert, dass sich nach Tschernobyl z.B. der verfrühte Herztod als eine Form des Strahlentods erwiesen hat, der wohl jetzt auch vielen der japanischen Liquidatoren drohen wird. Man braucht dafür kein langes Studium, dem Autor reichte der Konsum nur eines Teiles der im Internet verfügbaren Dokumentarfilme zum Thema.
 
Konsequenzen persönlich mittragen
 
Wenn sich also in der Sowjetunion, in Tschernobyl nicht tausende, manche willentlich, viele wohl unfreiwillig, geopfert hätten, wäre es viel, viel schlimmer gekommen. Dann wäre wohl ein großer Teil Europas, inklusive erheblicher Teile Deutschlands, unbewohnbar geworden, und es wären nicht nur ein paar zehntausend Liquidatoren gestorben, sondern viel, viel mehr Menschen und zwar aus der Wohnbevölkerung. Im Klartext: Ein GAU verlangt anscheinend, damit er nicht völlig eskaliert, dass sich einige, manchmal auch recht viele Mitbürger opfern, um noch mehr Menschen zu retten. Daraus abgeleitet ergibt sich ein einfaches Rezept für den Ausstieg aus der Atomkraft: Jeder Abgeordnete oder andere Amtsträger, jeder Leitende Angestellte eines Atomkonzerns, der einmal in seinem Leben die "friedliche Nutzung der Atomkraft“ mitverantwortet hat, muss -ungeachtet seines Alters - damit rechnen, im Falle eines Unfalles, eines GAU, als Liquidator herangezogen zu werden; bei zu reichlichem Angebot entscheidet das Los. Wer eine solche Regelung ins deutsche oder anderweitige Atomgesetze einfügte, hätte damit den Ausstieg aus der Atomkraft in der folgenden Woche garantiert - per Eilverordnung, falls nötig.
 
Welche Schicksalsgemeinschaft ?
 
Wie Sebastian Pflugbeil von der Gesellschaft für Strahlensicherheit richtig anmerkte (sinngemäß): „Wenn jetzt dieser Unfall in Japan durch das Opfer der 50 Techniker gestoppt werden kann, so ist das eine schlechte Technologie, die diese Menschenopfer fordert.“ Danke sehr, Herr Dr. Pflugbeil, danke, dass Sie wohl der Einzige waren, der diese einfache Wahrheit öffentlich ausgesprochen hat (jedenfalls nach Kenntnis des Autors). Alle anderen, und anscheinend auch viele Politiker der Grünen, bräuchten wohl jenen oben angeregten Zusatzartikel zum Atomgesetz, um zu erkennen, dass wir in Deutschland gar keine Schicksalsgemeinschaft bilden, auch nie eine gewesen sind: Bei uns würden doch auch nicht die Physiker von der Universität München vorne anschaffen beim GAU-Eindämmen, geschweige denn Politiker, Ex-Kanzler oder Vorstands- oder Aufsichtsratschefs und auch kein Bischof und Prälat, sondern Türken, Marokkaner oder anderer Menschenmüll. Damit sind übrigens - für alle Gutmenschen, die mitlesen - nicht jene bedauernswerten Zeitgenossen gemeint, deren Schicksal z.B. in "Ganz Unten" von Günter Wallraff so treffend beschrieben wurde, sondern die erniedrigende, gefährliche und häufig zuletzt auch tödliche ökonomische Sonderbehandlung, die sie erfahren. „Alle Menschen sind gleich“, manche gleicher, manche nach oben, manche nach unten. Eine Raubtiergesellschaft eben, und ihre glühendsten Verehrer nennen sich "christdemokratisch“ oder "freiheitlich“ oder "sozial“, manche auch "grün“ (grün wie der Dschungel, gell?).
 
Kapitalismus: Schlendrian global
 
Der diesbezügliche Unterschied von Japan und Deutschland, ist keiner der Kultur, der Moral, der Religion, sondern ein klitzekleiner Unterschied der sozialen Realität: Die Japaner haben als Müllabfuhr wohl kaum Aus-, sondern mehr Inländer. Sprich: In Japan wird für Atommüll-Abfuhr eher mal ein Obdachloser (und Japaner) angeworben. Bei uns darf es für gefährliche, unangenehme und ungesunde Arbeiten dagegen gerne mal ein Mitbürger mit Migrationshintergrund sein. So hat halt jedes Land seine Sitten, gell? Vielleicht meinte das ja auch der Stern mit seinem rassistischen Titel zum Thema?(1)
 
Mangelnde Empathie führt zur Katastrophe
 
Zur Wiederholung für begriffsstutzige Politiker, "Entscheidungs-“ und "Leistungsträger“ und ihre besoffenen Fans: Das Prinzip „Was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem andren zu!“ ist kein Thema bloß einer Sonntagspredigt, sondern notwendige Grundlage rationalen sozialen Handelns; sie stellt für hoch arbeitsteilige Gesellschaften gar einen Eckpfeiler des Rationalismus dar. Für jeden Politiker, der nicht an den Mitmenschen, die er führen oder vertreten will, schuldig werden mag, ist und bleibt die Frage: „Würde ich das auch so machen, wenn ich oder einer meiner Lieben der Betroffene wäre?“ unerlässlicher Prüfstein all seiner Entscheidungen. Das ist dem Leser neu? Das macht doch keiner? Stimmt, nicht hier, nicht 1986 in der Sowjetunion, nicht in Japan. Deshalb haben wir auch den Schlamassel. Sollen wir deshalb aufhören, uns dessen zu erinnern? (PK)

http://www.stern.de/magazin/heft/stern-nr-13-24032011-das-unglaubliche-volk-1666460.html

 
Der Autor ist Diplom-Mathematiker von Ausbildung, Muslim (praktizierend) von Religion, Deutscher von Herkunft und lebt zur Zeit in Frankfurt am Main.

Online-Flyer Nr. 299  vom 27.04.2011



Startseite           nach oben