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Literatur
Forsetzungsroman in der NRhZ - Folge 5
Max - Jahrgang 27
Von Lutz Köhlert

maxMai 1945 - Der zweite Weltkrieg ist zu Ende. Zu den ziel- und richtungslosen deutschen Soldaten gehört auch Max, siebzehnjähriger Kadett der Deutschen Kriegsmarine, den es nach Norwegen verschlagen hat. Er wird von den Engländern interniert, von den Amerikanern abtransportiert und den Franzosen übergeben. Die stecken ihn in eine Antimonmine in den Cevennen. Dort arbeitet er bis Ende 1947, meist unter Tage. Die Arbeit ist schwer und nicht ungefährlich. Eine gewisse Entschädigung dafür ist das sanfte Mittelmeerklima, seine schöne Vegetation und reiche Fruchtbarkeit. Noch Jahrzehnte später wird er von den sonnigen Felsterrassen über dem Gardon träumen, vom „Garten Frankreichs“, wo er das „Dornröschenschloß“ findet und seine erste Liebe, Marie-Paule.

Max war Schüler und Soldat zugleich gewesen. Er wohnte in der Flakstellung in Börnicke und tat Dienst als K4, als Nachtseher, an einem großen Scheinwerfer.
Radargeräte waren zu dieser Zeit erst in Entwicklung begriffen. Also suchte Max mit einem lichtstarken Nachtglas den Himmel nach den feindlichen Flugzeugen ab, die im vierten Kriegsjahr fast regelmäßig abends nach zehn kamen, um ihre Bomben über Berlin abzuwerfen. Sein Splitterwall lag hundert Meter von der eigentlichen Scheinwerferstellung entfernt, damit er nicht durch das Streulicht der starken Bogenlampe in seinen Beobachtungen beeinträchtigt würde.
Bei dem Gedanken, welch schönes Bombenziel der Scheinwerfer abgab, war ihm der Abstand nicht unangenehm.
Bei klarem Himmel war es relativ leicht, die Flugzeuge zu orten und ihre Koordinaten an den K2 weiterzugeben, der den Scheinwerfer steuerte, um die Flugzeuge zu erfassen und so der Flak ein Ziel zu bieten. Bei bedecktem Himmel konnte sich der K4 nur auf sein Richtungshören verlassen. Dann trat ein Horchgerät in Funktion, in bestem Kommißdeutsch ‚Ringtrichter-Richtungshörer‘, das mit seinen Zweimeterohren den Ort einer Schallquelle genauer zu bestimmen vermochte. Allerdings sah man die Flugzeuge nicht, selbst wenn man sie im Visier hatte: Die Wolkendecke verbarg sie meistens. Nun galt das Kommando ‚Mattscheibe‘, das heißt, die Scheinwerfer beleuchteten mit Streulicht die Unterseite der Wolkendecke, damit höher fliegende Jagdflugzeuge die Gegner als Schatten vor dieser Mattscheibe ausmachen konnten. Wie unsicher dieses ganze Verfahren war, muß nicht näher erklärt werden.
Max war aber gleichzeitig Schüler, der dreimal wöchentlich von Börnicke aus in die Schule nach Falkensee fuhr, wo ihm von reaktivierten Pensionären, Kriegskrüppeln und älteren Fräuleins die Geheimnisse der lateinischen Grammatik, die Gesetze des sphärischen Dreiecks und die philosophischen Grundlagen von Goethes „Faust“ beigebracht werden sollten. Wenn aber der nächtliche Fliegeralarm länger als bis ein Uhr morgens gedauert hatte, fiel der Unterricht aus, das war im vorletzten Kriegsjahr jeden zweiten Tag der Fall. Lateinische Grammatik, sphärisches Dreieck und Goethes „Faust“ blieben Geheimnisse.
*

‚Student‘ war also weit vorausgegriffen.
„Student?“ Emil wundert sich: „So so! Student. Sei gegrüßt, Herr Student. Einen aus Berlin haben wir hier schon. Hoffentlich bist du nich auch so ’n Farkel!“ Er wendet sich zu der kleinen Kammer und schreit: „Komm mal raus, Bodo, und begrüße die Neuen. Verkriech dich nich in dein’ Saustall!“
Im Türrahmen erscheint ein rundlicher Junge, kaum älter als Max. Er trägt über einem löchrigen Pullover eine Art Lumberjack, aus dem zerrissenes Futter heraushängt, seine Wehrmachtshose ist in löchrige Gummistiefel gestopft, sein Gesicht mit dem Anflug eines Bartflaums von Pickeln und aufgekratzten Pusteln übersät.
„Sieg Heil!“ sagt er, „ick heiße Bodo, Bodo Schmude.“
Emil rümpft die Nase: „Du solltest besser Schmuddel heißen!“
„Jeh mir nich uff ’n Keks!“ sagt der Junge pomadig und reicht Max und Skroszny schlapp die Hand. Dann verschwindet er wieder in seinem Kabuff.
Skroszny gibt sich philosophisch: „Jeden sein Dreck ist jeden sein Himmelreich.“
Emil fühlt sich zurechtgewiesen und kontert mit verbalen Dreckbatzen: „Mannchen! Ihr aus Pillkallen wascht euch doch mit Ziegenseiche!“
Skroszny will keinen Streit und nörgelt nur aus Selbstachtung noch ein bißchen: „Gebohnert sieht es hier auch nicht gerade aus ...“
„Wir haben doch nur darauf gewartet, daß ihr kommt und saubermacht, damit wir wegkönnen! Wir wollen Weihnachten zu Hause sein.“
Skroszny verdreht die Augen: „So alt und noch so dußlich!“
„Du bist noch viel zu neu hier, um mit Erwachsenen zu reden!“ beendet Emil die Debatte. „Was biste ’n von Beruf?“
„Ich war Eisenbieger und -flechter am Westwall. Und du?“
„Mannomann. Eisenbiejer und -flechter! Hier kannste ’n paar Eisen biejen, die Schienen in der Jrube sind all krumm. Ich bin Zimmermann, fünfundzwanzig Jahre verheiratet, drei Kinder, alles Mädels.“
„Verheiratet bin ich auch. Kriegstrauung. Kinder hatte ich bis vor zwei Jahren noch nicht.“
Tünnes schaut aus der Küchentür: „Wenn ihr noch was zu essen wollt, holt euer Abendbrot. Ich will auch Feierabend machen.“
Sie schieben sich in die Küche, wo sich zur Essenausgabe die Mehrzahl der Lagerinsassen versammelt hat, es mögen an die zwanzig sein.
Die Küche ist länglich, halb so groß wie das Zimmer, der Boden ist gefliest. An der Schmalseite eine Tür nach draußen, sie steht offen, daneben ein schmales Fenster. An der einen Längsseite steht ein großer Herd, auf ihm mehrere Töpfe, daneben auf der Erde ein blauweißer Milcheimer, über dem Herd ein Wandbrett mit Feldbechern, Tontöpfen, einer henkellosen Tasse und Blechbüchsen, die als Trinkgefäße dienen. Auf der gegenüberliegenden Seite steht ein Küchentisch mit drei ehemals gerohrten Wohnzimmerstühlen, auf die jetzt Bretter genagelt sind, daneben an der Wand eine Bank ohne Lehne. Auf dem Tisch das Abendbrot, in Portionen eingeteilt: je ein Stück Weißbrot, ein Stückchen Käse, ein paar Oliven.
Ein ehemals dicker, jetzt abgemagerter Fünfundzwanzigjähriger mit schütterem blondem Haar und wimpernlosen Schweinsäuglein, Robert Volack, ein Fleischergeselle, betrachtet verzweifelt die schmalen Portionen: „Jetzt einen Schweinebraten mit Kraut und Klößen und einen Halben Dortmunder Pils!“
Tünnes sagt trocken: „Dortmunder! Die feine Welt trinkt Kölsch! Ich hab’ Tee jekocht.“
Skroszny schnuppert: „Gärtners Liebling!“
Tünnes: „Wein is noch nich.“
Max hält das für einen Witz: „Was denn, gibt’s Wein?“
Aber siehe da, es geschehen noch Wunder: „Ja, ein Viertel pro Tag.“
Ein anderer Blonder, schmal und mit gierigen Augen, fragt sofort: „Und gibt’s auch was zu qualmen?“
„Pro Monat ein Päckchen Preßtabak. Wie im Lager. Wenn du einteilst, kannste dir jeden Tag eine drehen.“
„Nee“, sagt Max, „ich rauche nicht.“
Ein dünner Mensch mit schlaffem Gesicht und flottem Bärtchen, Sigi, der Blonde, drängt sich zu ihm durch: „Wenn du nicht rauchst, kannst du dein’ Tabak ja mir geben!“
Tünnes scheint für Ordnung zu sein und fährt dem Dünnen in die Parade: „Sigi, versuch nicht, den Jungen zu bescheißen!“ Und zu Max sagt er: „Laß dich nicht ausnehmen. Wenn du den Tabak nicht willst, kannste tauschen. Jedenfalls laß ihn dir jut bezahlen! Der Kurs ist: ein Viertelliter – eine Zigarette.“
Sigi versucht, sich wieder ins rechte Licht zu rücken: „Ich wollt’ ihm ja gerade anbieten, ob er mir nicht seinen Tabak gegen meinen Wein abtritt!“
Skroszny grinst breit: „Davon haben wir aber nichts jehört!“
Sigi spielt den Gekränkten: „Ich hatte ja gar keine Zeit, um den Vorschlag zu machen! Tünnes hat mich ja gleich angestänkert ...“, und wendet sich wieder an Max: „Na, wie isses? Mein Viertelliter Wein jeden Tag gegen deine Monatsration Tabak?“
Max hält das für ein ähnlich gutes Geschäft wie vor Zeiten in Norwegen: eine Zigarette gegen zwei Eier, fragt aber vorsichtshalber: „Jeden Tag einen Viertelliter Wein gegen ein Päckchen Tabak im Monat?“
Sigi stimmt zu: „Genau so!“
Max will sich nun doch nicht vorschnell festlegen und wird diplomatisch: „Also, mal sehen ...“ Er bricht die Verhandlung ab und fragt Tünnes: „Du hast gesagt: Käse mit Fleisch. Wo ist das Fleisch?“
Tünnes grinst: „Guck dir den Käse an! Der is mit Fleisch. Dat Fleisch lebt noch.“
Und wirklich: Der reife Roquefort ist bewohnt. Maden winden sich an den Schnittstellen.
Sigi verzieht angeekelt den Mund: „Pfui Deibel! Maden im Käse. So ’n Mist bietest du uns an?!“
Tünnes ist sauer. Als ob er die Maden in den Käse gesteckt hätte!
„Ich biete dir den Mist an, den ich kriege! Ich würde auch lieber geräucherte Gänsebrust essen. Im übrigen hab’ dich nicht so! Die Maden kannste rauskratzen, dann ist der Käse janz jut. Besser als der Jummikäse ‚La Vache qui rit‘, ‚Die lachende Kuh‘. Da bleibt dein Jebiß drin kleben. Aber den lernste auch noch schätzen.“
Sie holen murrend und die kümmerliche Ration weiter kommentierend ihre Blechbecher oder Kochgeschirrdeckel, lassen sich mit der Schöpfkelle, von der das blaue Email abgeblättert ist, gesüßten Tee einschenken und suchen sich einen Platz zum Essen. Die einen stopfen das Wenige in sich hinein und sind schnell fertig, andere essen bedächtig, Bissen für Bissen, und kauen sorgfältig, um möglichst lange das Gefühl zu haben, gesättigt zu sein. Sie wissen noch nicht, daß auch die Franzosen den Gürtel enger schnallen müssen und daß es einige Grundnahrungsmittel nur auf Lebensmittelmarken gibt.
Währenddessen hat sich in der Ecke neben der Ausgangstür ein langer dünner Mann um die Fünfundvierzig entkleidet und beginnt, sich mit einer roten Tinktur einzuschmieren. Er hat einen dunklen Haarkranz um eine ausgebreitete Glatze, leicht aufgerissene, immer erstaunte Augen, sensible fahrige Hände mit langen Fingern, und er bewegt sich etwas mechanisch, wie eine Marionette. Er ist eigentlich ein Fahrradhändler, vor allem aber ist er ein freundlicher Narr.
Tünnes herrscht ihn an: „Sag emal, Gottlieb, kannste das nicht draußen oder in eurer Bude erledigen? Hier wollen Leute essen!“
Gottlieb reagiert ganz naiv: „In unserer Stube, da war ich so allein ...“
Tünnes: „Hör einer sich so was an! Nächstens pinkelt er hier in die Ecken, weil er dabei Gesellschaft braucht!“
Max: „Womit schmierste dich denn da ein?“
Gottlieb gibt sich gelehrt, hört sich aber an, als ob er sich entschuldigen müsse: „Das ist eine Jodtinktur, zur Desinfektion.“
Tünnes erläutert: „Jejen den Ausschlag. Den kriste von der Arbeit am Ofen. In dem Antimon ist nämlich Arsen und alles mögliche andere Mistzeug, und das fliegt beim Brennen in der Luft herum.“
„Das kann ja heiter werden!“
Tünnes: „Wenn du dich ordentlich wäschst, ist et halb so schlimm.“
Max ist zwar allerlei Störungen oder Ferkeleien beim Essen gewöhnt, aber gerade deshalb mag er sie nicht. So packt er seine kleine Portion ins Kochgeschirr und nimmt seinen Becher Tee: „Ich will erst meinen Strohsack stopfen, bevor’s dunkel wird.“
Er verzieht sich ins Nebenzimmer, stellt seine Ration auf einen Schemel neben sein Bett, greift sich den leeren Strohsack von der Pritsche und geht hinaus. Im Vorbeigehen zerrt er die schief in den Angeln hängende Kellertür einen Spalt weit auf und wirft einen Blick in das Dunkel voller Gerümpel und Unrat. Durch den Türspalt quillt modriger Gestank  herauf.
Hinter dem Haus ist vor dem steil abgebrochenen Felsen ein schmaler Hof, ebenfalls mit einem Abfallhaufen, einem halb zerbrochenen Toilettenhäuschen und einem kleinen offenen Schuppen, in dem ein Haufen Stroh liegt. Max beginnt, seinen Sack damit vollzustopfen. Das frische Stroh ist sperrig und piekt, aber er weiß, daß sich das gibt. Er stopft den Sack so voll, daß er wie eine Wurst aussieht. Anfangs wird er aufpassen müssen, daß er nicht herabkollert, aber das Stroh wird sich bald zusammendrücken und dann immer noch ausreichend Polsterung bieten, so daß man sich nicht an den Brettern der Liegestatt Ellbogen, Hüften und Knie blau stößt.

Max ist nicht verwöhnt. Beim Arbeitsdienst sind sie geschliffen, auf der Kriegsschule geschunden worden, bis zum Umfallen. So hat er gelernt, sich aus vollem Lauf, mit der Waffe in der Hand, auf Steinboden hinzuwerfen, ‚in Deckung zu gehen‘, ohne sich die Knochen blau zu schlagen.
Später einmal, als er wirklich Student ist, will er pünktlich zum Unterricht kommen und springt auf dem Bahnhof Putlitzstraße aus einem Schnellzug, der nicht anhält, rollt sauber auf dem Bahnsteig ab und ergreift dann vor dem streng heranschreitenden Aufsichtsbeamten eilig die Flucht. Natürlich ist das blödsinnig!
Er trägt zwei derbe Prellungen an Hüfte und Ellbogen davon und hat dabei noch Glück gehabt. Überhaupt muß einmal gesagt werden, daß Max bei verschiedenen Gelegenheiten nicht ganz überlegt gehandelt hat, zum Beispiel als er festzustellen versuchte, ob man an einem heißen Plätteisen lecken kann. Auf diese Weise wurde ihm mit Zischen und Dampf ein Stückchen Zunge geschmort.

Max schleppt den Strohsack auf sein Bett und macht sich über sein Abendbrot her. Als er die Maden sorgfältig aus dem Roquefort polkt, kommt Schmude aus der Küche mit einem Kochgeschirr und bietet es Max an: „Hier! Ick hab’ noch jekochte Kastanien. Wenn de willst?“
Max klappert mit den Kastanien im Kochgeschirr: „Fressen das nicht bloß die Schweine?“
„Quatsch! Det sind Maronen, Eßkastanien. Det is ’ne Delikatesse.“
Max dreht eine Kastanie zwischen den Fingern.
„Na, abpellen mußte se schon.“
Max pellt die feste Schale ab und probiert. „Hm. Schmeckt wirklich nicht schlecht. Bißchen süß, so wie Nüsse.“
„Davon ham wir ’n ganzen Wald voll.“
„Und die will sonst keiner?“
„Aber klar. Kannste auch sammeln und verkaufen. Darfst dich bloß nicht erwischen lassen. Schließlich gehört der Wald irgendwem.“
„Und die fragen dann nicht, woher du sie hast?“
„Die woll’n auch bloß Geld verdienen und freuen sich, daß sie einer gesammelt hat.“
„Und denn?“
„Denn mußte sehen, daß du Raum gewinnst.“

*

Am nächsten Morgen ist um halb sechs Abmarsch zur Grube. Die Gefangenen der Frühschicht formieren sich vor dem Haus zu einer Zweierkolonne. Das Wetter ist trübe, die Gipfel der Berge tragen graue Wattemützen. Feuchtigkeit hängt in der Luft und macht die Blätter glänzen.
Max fröstelt im Morgengrauen, er zieht die Landserjacke fester um sich, die er auf der Kriegsschule für die Infanterieausbildung empfangen hatte. Der Muckefuck zu seinem Weißbrotkanten hat ihn nicht erwärmt, und er hat schlecht geschlafen. Alle Neuen sind ein bisschen kribbelig. Die Arbeitsstelle verlockt zu Spekulationen: Die neue Umgebung, die neuen Kameraden, die Ungewißheit, wie es weitergehen wird. Wo wird er arbeiten müssen? Etwa am Ofen, der die Leute krank macht? Außerdem ist sein Strohsack noch zu prall und Max ständig in Gefahr, hinabzurollen.
Als Posten kommt heute nicht Marcel, sondern ein älterer Mann mit zerfurchtem Gesicht. Er trägt ein langes Gewehr aus dem vorigen Jahrhundert. Max kennt es, weil er damit üben mußte und sich beim Exerzieren an dem hervorstehenden Patronenschacht immer das Schlüsselbein blau geschlagen hat.
Tünnes begrüßt den Posten mit einem munteren „Salut!“, aber der ist noch verschlafen, nickt bloß zur Antwort und weist mit dem Kopf in die Marschrichtung.
Die Gefangenen setzen sich gemächlich in Bewegung und schlurren die Holzsohlen der offenen Klotzen über den steinigen Boden. Der Posten läßt die Kolonne an sich vorbei und schließt sich am Ende an.
Es beginnt zu nieseln.
Neben Max hat sich Bodo Schmude eingereiht. Er kann vor Gähnen kaum den Mund schließen, und Max bekommt auf Fragen nach dem Wie und Wohin nur einsilbige Antworten. Bodo ist ein Jahr älter als Max und ein paar Zentimeter größer, auch etwas stämmiger gebaut. Er ist kein häßlicher Bursche, wenn er nur etwas gepflegter wäre. Seine langen Locken fallen ihm immer wieder über die Augen und ein dunkler Flaum sprießt ihm auf Kinn und Wangen. Er macht ständig so ein Leck-mich-am-Arsch-Gesicht, als ob ihm alles zuwider sei. Seine bei der Reichsbahn begonnene Lehre wurde durch die Einberufung abgebrochen.
Vor ihnen geht Ehrenfried Külow, Frieda genannt, ehemals Zugführer in einer Nachrichtenkompanie, im Zivilberuf Friseur. Er hat immer straff gestriegelte, pomadisierte Haare und manikürt sich die Fingernägel mit einer Rasierklinge. Das imponiert Max, er macht es eine Zeitlang nach und läuft dann mit blutigen Nagelrändern umher. Frieda trägt die graue Montur der Mot.-Schützen (ohne Rangabzeichen) und einen roten Schal, ein Streifen von einer aufgewerteten Übergardine aus einem zerschossenen Haus im Elsaß. Im übrigen ist er ein etwas phlegmatischer, umgänglicher Bursche von vielleicht fünfunddreißig Jahren.
Neben Frieda latscht Gottlieb Kluge, mit ständig erstaunten hübschen blauen Augen in seinem runden Schädel. Dahinter folgt Skroszny, trotz des holprigen Weges mit gewohnt sicheren Schritten. Sie stolpern die dreizehn ausgebrochenen Stufen der Böschung hinauf und wenden sich dann die Dorfstraße entlang dem Ortskern zu.
Die ein- und zweistöckigen Häuser reihen sich eigenwillig zwischen Straße und Felshang oder, eng an die Straße geklebt, über dem Flußbett auf. Sie sind nicht gerade verwahrlost, aber einige könnten einen Anstrich brauchen, eine Reparatur der Fensterläden oder einen neuen Sockelputz. Kleine Weinlauben und Blumenkübel auf Treppenwangen und schmalen Terrassen verleihen den Häusern einen Hauch von Verträumtheit. Dahinter vermutet man winzige Höfe und terrassierte Gärtchen.
Vor dem Bistro sind drei kleine Tische beiseite geschoben und sechs Stühle hochgestellt, und ein Mädchen ist dabei, das schmale Trottoir zu spülen. Sie mag sechzehn Jahre alt sein und hat ein liebliches Gesicht, dessen Haar unter einem blauweißen Kopftuch verborgen ist. Um ihre Gestalt bauscht sich eine zu große Schürze. Sie schaut kurz zu den Gefangenen hin, nicht unfreundlich, und Max erhascht einen Blick aus sanften braunen Augen. Ein Lied!, denkt er. Drei, vier:
Hoch auf dem gelben Wagen sitz’ ich beim Schwager vorn.
Vorwärts die Rosse traben, lustig schmettert das Horn.
Hinter den Fensterscheiben lacht ein Gesicht so hold,
Ich würde so gerne noch bleiben, aber der Wagen, der rollt. ...
Einige Gefangene grüßen: „Bonjour!“, „Salut!“, „Bonjour, mademoiselle!“, aber sie wendet das Gesicht wieder ab, arbeitet weiter und grüßt mit gesenktem Kopf halblaut zurück: „Bonjour, messieurs.“ Erst als der Posten vorbeikommt, hebt sie wieder den Kopf und schenkt ihm ein Lächeln: „Bonjour, Matthieu.“ Und der schneidet eine freundliche Grimasse: „Salut, Marie-Paule!“
Max’ Begegnungen mit Mädchen waren alle flüchtig. Über die allgemeinen Albereien und Neckereien hinaus haben nur wenige Wahrnehmungen und Empfindungen Spuren in seinem emotionalen Gedächtnis hinterlassen.
Seine Hand bewahrt die flüchtige Berührung von Chri-stinas Brust, als sie sich beim ‚Windmüller‘ umeinander gedreht hatten. (Er war überhaupt nur in die Volkstanzgruppe eingetreten, um vielleicht eine solche intime Berührung zu erfahren.) Jetzt hatte er den Verdacht, Christina habe sich absichtlich so gedreht, daß er sie berühren mußte. Ihm war das recht, aber da war der Tanz gerade zu Ende, und nun? Seine Schüchternheit gewann wieder einmal die Oberhand, und er wandte sich mit einer formvollendeten, unpassenden Verbeugung ab.
Vor seinem inneren Auge bewegt sich auch das harmlose, aber beunruhigend erotische Bild von Mathildes Hintern, der auf dem Weg zum Sportplatz auf einem Fahrradsattel vor ihm herschaukelte.
Und auf seinem Mund spürt er immer noch die begehrliche Fülle von Bärbels Lippen, mit der er als Luftwaffenhelfer an einem Sommerabend hinter einer Strohmiete gelegen hatte, ohne mehr zu wagen als einen Kuß. (PK)



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max - jahrgang 27Max, Jahrgang 1927, 16jähriger Luftwaffenhelfer, später Kadett der Kriegsmarine auf dem Zerstörer „Hans Lody“, schildert seine Erlebnisse während des Krieges und in französischer Kriegsgefangenschaft. Seine Erinnerungen kreisen um die Arbeit im Bergwerk, um die erste Liebe zu der Französin Marie-Paule, die vergeblichen Fluchten und die endliche Heimkehr in das besetzte Deutschland. Reflexionen über die Sinnlosigkeit und Grausamkeit des Krieges haben angesichts weltweiter kriegerischer Aktivitäten nichts von ihrer Aktualität verloren.
ISBN 978-3-942693-50-9  € 11,90
© 2010 edition winterwork alle Rechte vorbehalten

Lutz Köhlert, geboren 1927 in Falkensee, lebt in Kleinmachnow. Er war
von 1943 bis 1945 Luftwaffenhelfer und Kadett der deutschen Kriegsmarine in Norwegen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geriet er in
französische Kriegsgefangenschaft und arbeitete in einem Bergwerk in den
Cevennen bis Januar 1948. Er versuchte mehrfach von dort zu fliehen.
Nach seiner Rückkehr 1948 legte er in Falkensee das Abitur ab und
studierte an der Hochschule für angewandte Kunst in Berlin und an der
Universität Greifswald Bühnenbild und Kunstwissenschaft.
Nach seiner Promotion wandte er sich dem Film, später dem neuen Medium Fernsehen zu. Bei der DEFA führte er Regie, u. a. bei den Spielfilmen „Ärzte“, 1961, und „Tiefe Furchen“, 1965. Für das Fernsehen entstanden szenische Dokumentationen wie „Schließt mir nicht die Augen“ und „Die letzten Stunden von Radio Magellanes“. Ab 1967  bis zu seiner Emeritierung 1991 war er an der Hochschule für Film- und Fernsehen „Konrad Wolf“ als Dozent, Rektor und Professor für Regie tätig.


Online-Flyer Nr. 298  vom 20.04.2011



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