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Literatur
Fortsetzungsroman in der NRhZ - Folge 3
Max - Jahrgang 27
Von Lutz Köhlert

maxMai 1945 - Der zweite Weltkrieg ist zu Ende. Zu den ziel- und richtungslosen deutschen Soldaten gehört auch Max, siebzehnjähriger Kadett der Deutschen Kriegsmarine, den es nach Norwegen verschlagen hat. Er wird von den Engländern interniert, von den Amerikanern abtransportiert und den Franzosen übergeben. Die stecken ihn in eine Antimonmine in den Cevennen. Dort arbeitet er bis Ende 1947, meist unter Tage. Die Arbeit ist schwer und nicht ungefährlich. Eine gewisse Entschädigung dafür ist das sanfte Mittelmeerklima, seine schöne Vegetation und reiche Fruchtbarkeit. Noch Jahrzehnte später wird er von den sonnigen Felsterrassen über dem Gardon träumen, vom „Garten Frankreichs“, wo er das „Dornröschenschloß“ findet und seine erste Liebe, Marie-Paule.

Dicht am Lagerzaun fährt ein Lkw vorbei, und der Posten kreischt plötzlich los: „Putain de diable! Ce con là. Qu'est-ce que tu fais, salaud? Mon casque d'acier!" Der Lkw hat den Stahlhelm überrollt, und der ist geborsten. Der Schwarze fängt tatsächlich an zu weinen: „Quel malheur! Maintenant je n'aurai plus de permission les trois années prochaines! Ick jez nix Ause trois Jahr!"  
Einige Dümmlinge lachen: „Was setzte dir so 'n Papphut auf, Mensch?"
Einer sagt: „Armes Schwein. Der ist noch mieser dran als wir!"
Max denkt: Wie lange müssen wir dableiben? Bringen sie uns wirklich nach Frankreich?
Soll er abhauen? Aber wie? Der Stacheldrahtzaun ist drei Meter hoch, aber es ist ein einfacher Zaun. Man könnte hinüberklettern. Die Posten stehen nicht allzu dicht, nachts reicht der Schein der Lampen nicht überall hin. Wird der Posten schießen, wenn man gesehen wird? Und wie geht's dann weiter? Max ist gewöhnt, daß alles ,seine Ordnung hat'. Welche Ordnung gilt heute? Berlin ist weit, und über Besatzungszonen, Besatzungsmächte, Grenzen, Gesetze, Kontrollen weiß man sehr wenig.
Wie lange kann die Arbeit in Frankreich dauern? Drei Monate, ein halbes Jahr? Länger doch kaum, schließlich ist der Krieg zu Ende.
Max wird noch lernen, daß man nicht zu lange zögern darf, etwas zu unternehmen. Nicht zu lange auf bessere Bedingungen warten darf. Sie kommen meistens nicht. Eine Flucht wird immer schwieriger werden.
Aber dann wird er fliehen.
 
*
 
Schon in Norwegen hatten sie nach der Kapitulation erwogen, sich nach Hause abzusetzen, vier Kadetten und Obermaat Malich. Am letzten Apriltag waren sie von Moss aus, wo der Zerstörer Heizöl und Wasser nahm, zu fünft mit einem Opel Blitz nach Oslo gefahren, um Ersatzteile und Verpflegung zu holen.
Der Frühlingstag war blau und prächtig. Silberfäden von Schmelzwasser schmückten die Fichtenwälder an den steilen Hängen. Das Wasser des Fjords, klar und flaschengrün, wurde über der Tiefe fast schwarz, und die Sonne streute silberne Pailletten auf seinen Spiegel.
Der Opel Blitz schleuderte durch die Kehren der Straße am Hang, und Max empfand die Fahrt wie den Flug auf der Achterbahn durch eine Märchenlandschaft..
In Oslo war scheinbar Frieden, wenn man über die deutschen Soldaten hinwegzusehen vermochte. Sie luden Kisten mit Ersatzteilen, Dauerbrot, Fleischkonserven, gezuckerter Dosenmilch, Schnaps und Overstolz und ärgerten sich über die trockenen Fischbouletten, die es als einzige Speise ohne Marken zu kaufen gab.
Als sie abends mit der Ladung nach Moss zurückkamen, war ihr Schiff verschwunden. Vom Hafenkommandanten erfuhren sie, daß der Zerstörer einen Einsatzbefehl nach Kurland bekommen hatte, vermutlich um Flüchtlingsschiffe zu eskortieren Den Flüchtlingen auf der ‚Wilhelm Gustloff' hat das dann nichts genützt, ihr Befehl hieß: Warten!
Ein paar Tage lang lebten sie nicht schlecht, bei Frühlingswetter mit Nichtstun und Spaziergängen in Oslo, wo sich die Pärchen auf der Terrasse des Königlichen Museums küßten, mit einer Wanderung auf den Holmenkollen, dessen Gipfel von einer deutschen Funkstation okkupiert war, und mit Kahnfahrten auf dem Fjord. Auf die Dauer wurde die Verpflegung etwas langweilig: Dauerbrot mit Büchsenfleisch und Kornschnaps mit süßer Sahne, und sie warteten auf das Schiff, das nicht kam.
Es kam der 8. Mai!
An Hitlers ‚Wunderwaffe' hatte keiner von ihnen mehr geglaubt, und sie waren nicht sehr überrascht, als sie im Radio von der Kapitulation der Wehrmacht in Deutschland hörten. In Norwegen gab Admiral Dönitz, ,Stellvertreter des Führers', den wahnsinnigen Krieg noch nicht auf. Erst am 9. Mai erklärte auch er die bedingungslose Kapitulation.
Der Krieg war zu Ende!

In Moss rückte die norwegische ,Heimwehr' an, Zivilisten mit Armbinden. Sie wollten die fünf vom Zerstörer ‚Hans Lody' und den Zug einer leichten Flakbatterie, die den Hafen gesichert hatte, festnehmen. Alle waren froh, daß der Krieg zu Ende war, aber sie wollten sich auch nicht ‚nach dem Krieg' irgendwelchen Zivilisten ausliefern. Die Flaksoldaten stellten ihre Vierlingskanone mitten auf die Straße und erklärten, sie würden sich nur von regulären Soldaten gefangennehmen lassen, und die ‚Heimwehr' war zum Glück nicht so heldisch, einen Kampf aufzunehmen. Max war beeindruckt von dieser Demonstration der Landsknechtsehre.
In den nächsten Tagen erwogen sie, abzuhauen und sich nach Deutschland durchzuschlagen. Der Landweg war unübersichtlich und weit. Sie würden durch Kriegsgebiet müssen, das die Deutschen soeben geräumt hatten, und ihre Kenntnis der europäischen Geographie war ungenügend. Max hatte sich auf der Schule nicht sehr dafür interessiert, wo und an welchem Fluß welche Stadt lag, die er ohnehin nicht besuchen konnte, oder wo welcher Berg war, den er niemals besteigen würde.
So wollten sie einen der Fischkutter kapern, die unten im Hafen lagen. Problem Nummer eins: Sie alle waren Maschinenpersonal und kannten sich mit Hochdruck-Heißdampfkesseln und Hoch- und Niederdruckturbinen aus, sehr wenig aber mit der Navigation. Dem Daumen nach sollten sie über die Ostsee? Problem Nummer zwei: Woher wußten sie, daß der Kutter seeklar war und genügend Treibstoff gebunkert hatte? Die Norweger würden sie kaum den Kahn in Ruhe seeklar machen lassen. Problem Nummer drei: Wo war die britische Flotte, durch deren Netze sie wochenlang listig geschlüpft waren? Vage Meldungen besagten, sie läge vorm Oslofjord?
So beschlossen sie abzuwarten, zum Glück: An anderer Stelle wurden in diesen Tagen drei Matrosen erschossen, die sich - nach der Kapitulation! - ohne Erlaubnis in die Heimat aufgemacht hatten.
Drei Tage später kamen englische Soldaten und brachten sie in das Internierungslager Briesen.

In einem weitläufigen Wald- und Buschgelände zu Füßen der Berge lagen Baracken verstreut, teils Unterkünfte, teils Magazine. Ein Drahtzaun, der an vielen Stellen umgefallen oder niedergetrampelt war, umgab das Areal. Mehr als eine wirkliche Abgrenzung, war er ein Zeichen dafür, daß es sich hier um ein geschlossenes Gelände handelte, genauso sinnlos wie die militärischen Wachen, die von den Lagerinsassen selber gestellt wurden.
Die Magazine waren voll, doch die Verpflegung war kümmerlich. Weißer Kunsthonig galt schon als Delikatesse. Bürokratische und korrupte Rechnungsfeldwebel hockten auf ihren Vorräten, in Erwartung - ja, wessen? Daß der Krieg weiterginge? Oder daß ein zahlungskräftiger und geschäftstüchtiger Abnehmer aus der Versenkung erschiene?
Auf der Suche nach einer nahrhaften Arbeit stieg Max mit Pipo, einem Kadetten aus seiner Backschaft, in die Berge zu einem Bauernhof. Der Bauer war mürrisch und mißtrauisch, die Verständigung bruchstückhaft. Der Bauer sprach kein Deutsch, und Max und Pipo kannten aus dem Norwegischen nicht viel mehr als „jeg elster dig" - „ich liebe dich", was nicht recht auf den Bauern anzuwenden war, und den ebenso untauglichen Spruch: „Die Sonne schien ihm auf den Sack, mange, mange tak" - „vielen, vielen Dank". Auch der Filmtitel aus dem Lagerkino „Gammelt hjerte blive igen ung", „Altes Herz wird wieder jung", half hier nicht weiter. Man trennte sich unverstanden. Max und Pipo kehrten zur mageren Lagerkost zurück.
 
*
 
Trotz aller Unzulänglichkeiten des Lagerlebens, eingeschränkter Bewegungsfreiheit, knapper Verpflegung und einer unsicheren Zukunft wurde es ein wundervoller norwegischer Sommer.
Von Briesen kamen sie nach Larvik und Stavern. Bei strahlendem Wetter wurden sie in Frachtkähnen über den Oslofjord geschippert und genossen die Seefahrt wie einen Ausflug.
Max hatte solche Kähne noch nie gesehen: Das etwa dreihundert Tonnen verdrängende Schiff war aus Beton gegossen und entsprechend schwerfällig, aber es schwamm. Angetrieben wurde es von zwei erbeuteten französischen Panzer-Dieseln, die beide im Uhrzeigersinn liefen, was das Schiff beim Manövrieren recht schwerfällig machte.
Das Lager Stavern lag am Meer, an einer friedlichen Bucht, in einem lichten Wäldchen. Ein Ferienhotel. Man konnte schwimmen gehen und eimerweise Taschenkrebse fangen, die mühselig zu essen waren, aber hervorragend schmeckten. Gelegentlich wurde ihnen das Baden durch Feuerquallen verleidet. Prächtig orangerot changierend im Sonnenlicht, wurden sie zu Tausenden an den Strand getrieben. Sie waren schön anzusehen, aber Boten des Unheils. Streiften sie einem die Haut, hinterließen sie nicht den Duft von Moschus und Ambra, sondern ein tagelang anhaltendes höllisches Brennen. Max machte nur einmal mit ihnen Bekanntschaft.
Im übrigen entdeckte er seine Liebe zum Theater und spielte mit Begeisterung auf der kleinen Bühne des Lagers in Tragödien, Komödien, Lustspielen und all den Ereignissen des Lebens, die auf der Bühne ihre ästhetische Aufbereitung erfahren. Verantwortlich für das Bühnenbild, richtete er sich in einem kleinen Kabuff nahe dem Theater eine eigene Behausung ein und tapezierte sie mit Packpapier, das er mit Pflanzen und Blumen bemalte, in einem Zuge mit den Theaterdekorationen.
Im Lager lebten auch internierte Frauen, und Max bekam in seiner Bude einige Male Besuch von Irene, einer nicht unattraktiven Frau, die den Charme einer Kleiderpuppe hatte und ein Dutzend Jahre älter war als Max. Ihr Interesse galt allerdings weniger der Theaterkunst als Max' knabenhafter Erscheinung, was sich wiederum mit Max' Interessenlage allenfalls am Rande berührte. So schliefen die weiblichen Besuche hinter der Bühne ein, wegen fehlender Seelenverwandtschaft. Ein norwegischer Sommer blieb aber für Max eine seiner schönsten Erinnerungen.
 
*
 
Mitte September werden sie in Güterwagen gestopft, „10 Pferde oder 40 Mann". Es zeigt sich, daß auch fünfzig hineinpassen.
Die Waggons sind deutsche. Sie tragen noch halbverschmierte Inschriften: „Räder müssen rollen für den Sieg!" Sie sind teils offen, teils geschlossen. Die in die offenen Waggons kommen, haben frische Luft, noch ist das Wetter gut. Max, in einem geschlossenen Waggon, hat ein Dach über dem Kopf, dafür aber nur einen halben Kubikmeter Luft. Fenster hat der Waggon nicht, an jeder Längswand ist in der Ecke eine Blechklappe, zu hoch, als daß man hinaussehen könnte. Sie ist von außen zu öffnen, jetzt ist sie zu.
Wenn fünfundzwanzig Mann stehen bleiben, können die anderen fünfundzwanzig liegen. Oder aber alle hocken sich hin. Die an der Wand hocken, haben es gut. Sie können sich anlehnen.
Max hat einen Platz an der Wand erwischt. Er hockt auf seinem Seesack und läßt sich von den Schienenstößen durchrütteln. Sie hämmern mal schneller, mal langsamer, und ersterben gelegentlich mit Bremsenquietschen und Pufferknallen. Dann hämmern die Männer an die Waggontür: „Aufmachen! Wir müssen pinkeln! Aufmachen, verdammt noch mal!" Manchmal haben sie Erfolg, meistens nicht. Immerhin erreichen sie, daß die Luftklappen geöffnet werden.
Sie haben Hunger. Die Verpflegung in Bretzenheim war mager, und es hat keine Marschverpflegung gegeben. Es hieß, die gäbe es auf der Fahrt. Kaum einer hat noch eine eiserne Ration. Erst nach Tag und Nacht gibt es einen Becher Tee, eine Ecke Schmelzkäse, eine Handvoll Haferflocken und einen Viertelbecher Olivenöl. Eine konfliktträchtige Mischung.
Anfangs überwiegt verkrampfter Humor den Trübsinn. Malich hat sich an der Luftklappe hochgezogen: „Sieht aus wie bei Dessau: ein Fluß, Koppeln, Erlengebüsch ..."
Eine Stimme aus dem Knäuel nölt: „Ist aber nicht die Mulde, ist die Marne."
Eine andere Stimme: „Woran siehst 'n das?"
Die erste, besserwisserisch: „Das weiß man doch aus der Richtung, in die wir fahren."
„Und woher kennste die Richtung? Scheint hier der Mond rein?"
„Blödmann!"
Einer hat einen Kompaß: „Wir fahren nach Westen. Oder genauer: Südwesten."
„Wir müssen bald über die Meuse kommen." Offenbar ein Gebildeter, der die französische Aussprache beherrscht.
Deshalb lacht ein Vierter im Falsett: „Möse? Wirst du vorläufig nicht zu sehen kriegen!"
Der Dritte: „Meuse ist ein Fluß! Du Versager."
Der andere bleibt unbeirrt: „Möse ist prima! Man merkt, daß wir in Frankreich sind. Da wer 'n wir wohl bald über die Titten fahren!" Sein Lachen ist schmierig, er findet Mitlacher.
In einer anderen Ecke des Wagens entsteht Rumor: „Mann, stinkt das! Hätt'ste nicht warten können, bis die wieder aufmachen?"
Eine dünne Stimme verteidigt sich kläglich: „Die machen doch nicht auf!"
„Was haste denn bloß gefressen?"
„Ich hab' das Olivenöl getrunken ..."
„Wie kann man so dämlich sein?!"
„Ich hatte Hunger, Mensch"
„Wer hat keinen Hunger? Reicht mal die Büchse weiter!"
„Aber gebt sie zurück, ja?"
„Was denn, du auch?"
Eine Konservendose furcht mit einer dicken Wolke Gestank durch die Menge und erzeugt freien Raum um sich her. An der Luftklappe wird sie Malich gereicht, der sie ausschütten soll. Er protestiert: „Ich hab' jetzt die Schnauze voll! Soll mal 'n anderer eure Kacke auskippen!"
Amis begleiten den Transport. Sie sitzen im Bremserhäuschen, auf den Planken der offenen Waggons, auch auf Trittbrettern. Manchmal fährt einer bei offener Tür ein Stück in ihrem Waggon mit. Max versucht sein Schulenglisch: „Where do you come from?"
Der Amerikaner spuckt einen Schwall Worte aus, aus denen Max „Connecticut" heraushört. Er weiß nicht recht, wie weiter: „Ah, Connecticut. Das is' in 'n USA ..." Blöder geht es schon nicht, aber die Vokabeln sperren sich.
Der Ami grinst und amüsiert sich: „Yeah, USA, United States of America. You've been there already?"
Max muß erst überlegen, was er meint: „Oh now, äh, no!" Er redet mit Händen und Füßen: „But, äh, I will go there, once."
„Then you'll come with us, just now? But maybe you'll have to wait some time."
Max versteht so gut wie nichts, hält es aber für gut, zuzustimmen: „Yes, yes! Und ...", er deutet auf sich und dann in Fahrtrichtung: „And ... we go wohin? Where?"
Der Posten gibt ernsthafte Auskunft: „France! You're in France."
Das weiß er auch schon: „France! Frankreich ... Yes. Aber wohin? Wohin in Frankreich? Where go we in France?"
Die neben ihm Sitzenden sind auch an Auskünften interessiert: „Wat sachter? Nu fraren doch mal, wohin wir fahren!"
Die sollen ihn nicht durcheinanderbringen! „Mensch, halt die Schnauze, ich bin gerade dabei!"
Der Posten macht eine großräumige Geste: „Oh, anywhere, I don't know where. But we'll stay in France. We don't go to the USA!"
„Na, wat sachter denn nu?"
„Daß wir in Frankreich bleiben!"
„Da bin ick beruhicht, det wir nich nach China fahren!"
„Aber Amerika, det wär' nich übel."
Max macht einen letzten Verständigungsversuch: „And what time?"
Der Posten phlegmatisch: „Afternoon."
Hätte er bloß mehr Englisch geochst: „No! Not watch. How many, how long in France?"
„I'm here about nine month."
Max versteht „nine month" und deutet auf sich: „Nine month?"
Der Posten grinst wieder gemütlich: „Not you fuckin' bastard" Er deutet auf sich selber: „I'm staying in France now about nine month." Dann hat er anscheinend genug von der Unterhaltung, und da der Zug gerade wieder einmal im Schrittempo fährt, springt er ab und zieht hinter sich die Waggontür zu. Die Klinke rastet krachend ein.
Der Berliner sagt enttäuscht: „Du kannst ooch keen Amerikanisch, wat?" Max verteidigt schwach seine Bildung: „Mann, ich hab's zwei Jahre lang nicht mehr gesprochen."
Andere reagieren wütend: „Du blöder Quatschkopp, jetzt hat er die Türe zugemacht! Nischt mehr mit frischer Luft!"
„Irgendeiner muß sich doch immer dicketun."
„Das ist überhaupt so 'n Klugscheißer!"
Max ist gekränkt. Aber klüger sein als die Masse provoziert leicht deren Wut.
Malich kennt die grundlosen, gefährlichen Anfälle von Massenaggressivität und versucht abzuwiegeln: „Naa, behaltet mal euer Hemd an! Wir sitzen alle in der gleichen Scheiße, und der Junge ist am wenigsten daran schuld." Ein besonders hysterischer Nachrichtenfritze beharrt: „Aber es sind immer solche Typen, die die anderen mit reinreißen! Die muß man auf die Schnauze haun!"
Eigenartigerweise ist es Frömmich, der Ruhe schafft: „Wenn du nicht gleich mit der Stänkerei aufhörst, spiel' ich mit dir Schnauze hauen! Das kommt doch den Amis und den Franzosen zupaß, daß wir uns gegenseitig den Arsch aufreißen."
Brummelnd rücken sich die Krakeeler wieder zurecht.
 
*
 
Max weiß wohl, daß er im vorigen Leben ein Streber war. Er ist überzeugt, daß jetzt ein neues Leben anfängt. In der Schule hat alles begonnen. Die Pflichtübungen hat er mit links gemacht, und sein verehrter Lehrer Lambert gab ihm regelmäßig zusätzliche Hausaufgaben – die er auch mit links machte. Dann durfte er ein Diktat in der zweiten Klasse mitschreiben, und ihm wurde versprochen, daß er in die zweite Klasse wechseln dürfe, wenn er nicht mehr als fünf Fehler hätte Er hatte acht und war wütend. Woher sollte er wissen, daß man ‚zu Hause‘ groß schreibt und ‚ein bißchen‘ klein? Er blieb also in der ersten Klasse und prügelte sich zum Ausgleich mit jedem, der ihm über den Weg lief – jedenfalls aus seinem Jahrgang. Geriet er an Ältere, sprang ihm sein Bruder Fritz bei, der schon die zweite Klasse besuchte.
Zu Hause prügelten sie sich beide, und wenn ihre Mutter sich einmischte, schob Max seinem Bruder die Schuld zu. Hinterher kam er sich mies vor, aber bei nächster Gelegenheit lief die Sache wieder so. Das waren aber alles harmlose Jungskeilereien, bei denen keine Waffen benutzt wurden und kein Blut floß. Und sie waren beendet, wenn der zu Boden Gerungene die Kapitulation signalisierte.
Die Herausforderungen verschärften sich, als Max die vierte Grundschulklasse überspringen und nach der dritten gleich auf die Oberschule, in die Sexta wechseln durfte. War er bisher unter den Größten der Klasse gewesen, so war er jetzt der Zweitkleinste. Vorher hatte er im Altersdurchschnitt gelegen, jetzt war er der Jüngste.
Sein Vater machte den verzeihlichen Fehler, ihm das vielgewünschte Akkordeon zu versprechen für den Fall, daß er am Ende des Schuljahres wieder den besten Zensurendurchschnitt hätte. Er hatte das beste Zeugnis, aber um welchen Preis!
Seine eifrige Teilnahme am Unterricht trug ihm den Ruf des Strebers ein, und wenn er sich eine Blöße gab, wurde er zur Zielscheibe aller möglichen Spöttereien und Boshaftigkeiten, vor allem von jenen, die schlechter abschnitten. Anzüglichkeiten und Ungerechtigkeiten machten ihn aber krank! Und so gab es auch in der neuen Klasse bald Raufereien, nur daß er nicht mehr der Stärkste war und mehr Keile bezog, als er austeilen konnte. Mit Wut und Mut war nicht alles zu machen, und die blauen Flecken wuchsen auf ihm. Zugute kam ihm, daß er, obwohl einer der Kleinsten, im Sport einer der Besten blieb, wenigstens in den Disziplinen, in denen es nicht so sehr auf Körperkraft, als auf Geschicklichkeit, Wendigkeit und Mut ankam. Die Riesenwelle am Reck hat er nie geschafft, seine Armkraft reichte nicht aus, aber der Handstand auf dem Barren oder die Grätsche vom Hochreck waren ein Spaß für ihn. Und dann war da noch ein Problem: In der Klasse bildeten sich Cliquen aus den verschiedenen Wohngebieten. Finkenkruger und Falkenseer wurden feindliche Parteien und lieferten sich in den Pausen erbitterte Schlachten um den Sandkasten hinter der Turnhalle. Max aber wohnte in Falkenhain, einem Ortsteil dazwischen, und so geriet er ganz automatisch zwischen die Fronten. Er gehörte zu keiner der beiden Seiten und versuchte, es beiden recht zu machen. Später erst wurde ihm klar, daß man nicht zwei Herren dienen kann.
Die alte Devise beim Kommiß hieß: Nur nicht auffallen! Nicht zu weit vorne, nicht zu weit hinten, immer schön in der Mitte. Nie hervortun und etwa freiwillig melden, und nur nicht anders sein als die anderen! Aber das funktioniert nicht immer.
 
*
 
Irgendwann, früh am Morgen, wieder ein Halt. Mehrere Stimmen, englisch und französisch, auch aufgeregte deutsche Laute.
Der Türriegel klirrt, dröhnend rollt die Tür auf. Irgendein grauer Güterbahnhof, nicht zu erkennen, wo sie sind.
Der Posten hindert sie, auszusteigen: „Stay in! No way out!“ Neben dem Posten zwei Männer in Arbeitsklamotten. Sie haben Säcke bei sich, schon teilweise gefüllt, und kommen in den Waggon geklettert. Das Menschenknäuel quetscht sich zusammen und macht widerwillig etwas Platz. Man mustert sich gegenseitig, die Gefangenen wissen nicht, was kommt.
Der erste Zivilist faßt an die blaue Marinejacke eines Funkgasts von einem Dickschiff, der vorne steht: „Gib her!“ sagt er in gutem Deutsch. Der Matrose wischt die Hand beiseite: „Was ist los? Nimm die Pfoten weg, Mann!“
Der Zivilist beharrt: „Zieh aus die Jacke! Gib her!“ Der Lord winkelt die Arme an und ballt die Fäuste: „Mach ’ne Fliege, du Ratte, oder ich rück’ dir den Poller zurecht!“
Der Zivilist beginnt, an der Jacke zu zerren, der Matrose schubst ihn heftig zurück, so daß er gegen andere taumelt, die ihn wieder nach vorne schubsen. Doch ehe dieses beliebte Spiel richtig in Gang kommt, mischt sich der Amiposten ein: „Shut up! Gib her, Jacke!“ Er stößt dem Matrosen den Lauf seiner MPi in die Rippen und hilft dem Zivilisten, ihm die Jacke herunterzuzerren.
Der Matrose protestiert weiter und hält die Jacke fest. Die Hände des Zivilisten, der weiter an ihr herumzerrt, stößt er beiseite: „Laß deine mistigen Pfoten von mir!“ Da sie in verschiedene Richtungen zerren, wird ein Jackenärmel halb abgerissen. Der Zivilist stopft die Jacke trotzdem in seinen Sack und fordert weiter: „Und Hosen, los. Hergeben!“
Der Matrose flucht: „Was denn noch, auch die Hosen? Du bist wohl ’ne Tucke!“ Und zu dem Posten: „Wo sind wir denn hier? Unter Seeräubern? Unter Gangstern?!“ Der Ami bohrt dem Matrosen wieder die MPi in den Bauch. Als er das Wort ‚Gangster‘ versteht, wird er wütend, drängt den Seemann an die Wand und lädt durch. Gleichzeitig schüttet er einen Schwall wüster Flüche über die Gefangenen aus, unter denen ‚motherfucker’ zu den milderen gehört und häufig die Worte ‚Nazi‘ und ‚Faschist‘ zu verstehen sind.
Im Waggon wird jetzt allgemeiner Protest laut, weil inzwischen auch der zweite Zivilist von den Gefangenen Klamotten einfordert, und diese sich teils mit Flüchen, teils mit Schubsen und Püffen wehren. Mit Flüchen und Stößen unterdrückt der wütende Posten schließlich den Widerstand. Max kann seine blaue Marinejacke behalten, vielleicht ist sie dem Franzosen zu klein. Seine blauen Hosen muß er aber ebenfalls hergeben, auch seine schönen, fast neuen Seestiefel und eine Garnitur weißes Arbeitszeug.
Der Plünderer kramt ziellos und hastig in seinem vollgestopften Seesack. Dadurch platzt ein Paket „IMI“ und verteilt das Seifenpulver über die sauber gewaschenen und sorgfältig zusammengelegten Kleidungsstücke, die Max jetzt willkürlich heftig auf den schmutzigen Boden schüttet und in einen Haufen Lumpen verwandelt.
Der Mann läßt von ihm ab und wendet sich dem Nachbarn zu. Max stopft das ganze herausgezerrte, von Waschpulver schmierig überpuderte Knäuel so wie es ist in den Seesack zurück. Das erweist sich bei den weiteren, folgenden Filzungen als nützlich. Die Diebe wenden sich angewidert von dem wüsten, scheinbar schmutzigen Kleiderhaufen ab, den Max willig aus seinem Seesack schüttelt.
Die Plünderer ziehen mit ihrer Beute ab, der Posten kracht die Waggontür zu. Aus dem Nachbarwaggon hört man eine Wiederholung des Raubüberfalls. Dann dauert es längere Zeit, bis sich das empörte Stimmengewirr wieder legt.
‚Vae victis! – Wehe den Besiegten!‘ erinnert sich Max aus dem Lateinunterricht.
 
*
 
Seine erste Enttäuschung durch die vermeintlich ritterlichen amerikanischen Sieger hatte er hinter sich. Bevor sie von den Engländern in Bretzenheim abgeliefert wurden, hatten nachts auf dem Güterbahnhof amerikanische Soldaten den Zug durchkämmt und ihnen, auch mit vorgehaltener MPi, die Uhren abgenommen Wer war darauf schon gefaßt?
Max war sogar so naiv gewesen, aus dem Schlaf gerissen und mit dem barschen Wort „Uhr?!“ angeblafft, auf seine Uhr am Handgelenk zu schauen, um dem Frager die Zeit zu sagen.
Die fairen Sieger! Aber was soll das Wort ‚fair‘ im Sprachgebrauch von Landsknechten, die noch vor wenigen Wochen bereit waren, sich gegenseitig in Stücke zu reißen? (PK)


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max - jahrgang 27Max, Jahrgang 1927, 16jähriger Luftwaffenhelfer, später Kadett der Kriegsmarine auf dem Zerstörer „Hans Lody“, schildert seine Erlebnisse während des Krieges und in französischer Kriegsgefangenschaft. Seine Erinnerungen kreisen um die Arbeit im Bergwerk, um die erste Liebe zu der Französin Marie-Paule, die vergeblichen Fluchten und die endliche Heimkehr in das besetzte Deutschland. Reflexionen über die Sinnlosigkeit und Grausamkeit des Krieges haben angesichts weltweiter kriegerischer Aktivitäten nichts von ihrer Aktualität verloren.
ISBN 978-3-942693-50-9  € 11,90
© 2010 edition winterwork alle Rechte vorbehalten

Lutz Köhlert, geboren 1927 in Falkensee, lebt in Kleinmachnow. Er war
von 1943 bis 1945 Luftwaffenhelfer und Kadett der deutschen Kriegsmarine in Norwegen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geriet er in
französische Kriegsgefangenschaft und arbeitete in einem Bergwerk in den
Cevennen bis Januar 1948. Er versuchte mehrfach von dort zu fliehen.
Nach seiner Rückkehr 1948 legte er in Falkensee das Abitur ab und
studierte an der Hochschule für angewandte Kunst in Berlin und an der
Universität Greifswald Bühnenbild und Kunstwissenschaft.
Nach seiner Promotion wandte er sich dem Film, später dem neuen Medium Fernsehen zu. Bei der DEFA führte er Regie, u. a. bei den Spielfilmen
„Ärzte“, 1961, und „Tiefe Furchen“, 1965. Für das Fernsehen entstanden
szenische Dokumentationen wie „Schließt mir nicht die Augen“ und „Die
letzten Stunden von Radio Magellanes“. Ab 1967  bis zu seiner Emeritierung 1991 war er an der Hochschule für Film- und Fernsehen „Konrad
Wolf“ als Dozent, Rektor und Professor für Regie tätig.


Online-Flyer Nr. 296  vom 06.04.2011

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