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Literatur
Der Fortsetzungsroman in der NRhZ – Folge 1
Max - Jahrgang 27
Von Lutz Köhlert

max Mai 1945 - Der zweite Weltkrieg ist zu Ende. Zu den ziel- und richtungslosen deutschen Soldaten gehört auch Max, siebzehnjähriger Kadett der Deutschen Kriegsmarine, den es nach Norwegen verschlagen hat. Er wird von den Engländern interniert, von den Amerikanern abtransportiert und den Franzosen übergeben. Die stecken ihn in eine Antimonmine in den Cevennen. Dort arbeitet er bis Ende 1947, meist unter Tage. Die Arbeit ist schwer und nicht ungefährlich. Eine gewisse Entschädigung dafür ist das sanfte Mittelmeerklima, seine schöne Vegetation und reiche Fruchtbarkeit. Noch Jahrzehnte später wird er von den sonnigen Felsterrassen über dem Gardon träumen, vom „Garten Frankreichs“, wo er das „Dornröschenschloß“ findet und seine erste Liebe, Marie-Paule.
Das Tal zu seinen Füßen windet sich durch die weißen Felsterrassen, die Flecken bunten Buschwerks, die grünen, braun grundierten Hänge. Im Geröll des Flußbetts bricht sich die Sonne auf dem glitzernden Rinnsal des Gardon, das immer noch der Augusthitze trotzt und im Schatten der Felsbalkone grünblaue Kolke bildet. Im Hintergrund steigen die Cevennen tausend Meter hoch in den malvenblauen Himmel. Linkerhand schaut das Zwiebeltürmchen der Dorfkirche über die Felsen. Das silbrige Flimmern der Luft verwischt die Konturen und zerlegt die Flächen in Farbtupfer. Weither kommender Duft von reifen Feigen, Heckenrosen, Lavendel, wildem Thymian und hundert anderen Kräutern wiegt ihn in wohlige Entspannung. Im Dorf jenseits des Tales hat Max sein Auto auf der ansteigenden Straße abgestellt, die zum ehemaligen Bahnhof führt, heute ein Hospital. An den alten Männern vorbei, die wie eh und je auf der Bank gegenüber dem Bistro sitzen, ist er ins Flußbett hinabgestiegen, über die klappernden Bretter der Fußgängerbrücke gegangen und schließlich die Windungen des Geröllpfades diesseits wieder hinaufgeklettert. Dicke Brombeerbüsche haben den schmalen Pfad überwuchert und ihm die Haut zerkratzt, aber er hat doch ‚Dornröschens Schloß‘ gefunden, den Platz zwischen Heckenrosen, Lorbeer- und Ginsterbüschen am Rande des Felsens über dem Tal. Die Jahre haben Spuren in seinem Gesicht hinterlassen, wenn man ihm auch seine dreiundsechzig nicht ansieht. Seine blauen Augen sind wach, seine hagere Gestalt läßt Zähigkeit und Ausdauer vermuten. Vor fünfundvierzig Jahren war er das letzte Mal hier, und die Bilder, Töne, Empfindungen dieses halben Jahrhunderts drängen sich jetzt auf die Bühne seines Bewußtseins. Der Himmel bezieht sich, die Sonne hüllt sich in graue Schleier, diffuse Wolken verlieren schüchterne Tropfen, die sich allmählich zu sanftem Regen verdichten. Max schlägt den Kragen der Jacke hoch und steht auf. Er wirft noch einen Blick auf das schiefgedrückte, verwitterte Kreuz hinter einer spitzblättrigen Yucca. Der Name darauf ist kaum noch zu lesen: Marie-Paule Marchand, 1931–1947.

                                                              *

Der Regen klatscht Max in das junge Gesicht, die Tropfen trommeln auf das Matrosenschiffchen, auf die geschlossenen Lider. Über Nase, Mundwinkel, Kinn spült die Flut, bildet Bäche in den Falten der Zeltplane und platscht auf die geschnürten Decksschuhe, die bis zum Knöchel im Lehm stecken. Der Lehm schnappt nach seinen Füßen, aber noch weist das geölte Leder das Wasser ab. So muß die Sintflut begonnen haben, denkt er, alles Böse wird weggewaschen. Er denkt an die klaren, sprudelnden Wasser des Lagen bei Stavern, im vergangenen Sommer, aber das muß in einem früheren Leben gewesen sein. Er ist erst siebzehn, aber er hatte schon mehr als ein Leben. Katzen haben sieben, heißt es, wie viele kann ein Mensch haben? Seit vier Monaten ist der Krieg zu Ende, jetzt krachen die Reste der alten Welt zusammen. Alles im Eimer! Und wie die neue Welt aussehen wird, das weiß keiner. Der Sommer ist voller Sonne gewesen und seine Zeit im Internierungslager, an den klaren Fjorden Norwegens, ein fabelhaftes, trügerisches Abseits. Man ist geschwommen, hat Dwarslooper gefangen, Theater gespielt, musiziert und studiert und versucht, sich wieder auf ein Leben in Frieden und Freiheit einzustellen. Der Zusammenbruch schien aufgehalten zu sein, unterbrochen wie ein gerissener Film in der Wochenschau: Die Front des Hauses ist eingestürzt, man kann im zweiten Stock ein bewohnbares Zimmer sehen, nur daß keine Treppe mehr hinaufführt. Das Zimmer ist aufgeklappt wie ein Leporello. An der Wand steht das Sofa, in der Ecke der Ofen, vor der geblümten Tapete hängt ein Bild des ‚Führers‘, die Lampe ist mitten im Pendeln schief hängengeblieben. Dann läuft der Film weiter und das ganze Haus kracht zusammen. Vorher war die Kriegsschule Flensburg-Mürwick gewesen.

*

Dort waren sie als Offiziersanwärter geschliffen worden, nach dem Motto „Gelobt sei, was hart macht!“. Der Steilhang an der Flensburger Förde war ein beliebtes Übungsgelände, besonders die mit Robinien bewachsene Sanddüne. Versuchte man hinaufzusteigen, rutschte der Sand unter den Füßen weg, und wollte man sich festhalten, machte man mit den Stacheln der Robinien unliebsame Bekanntschaft. Generationen von Rekruten und Kadetten wurden den Hang hinauf- und hinabgetrieben, als gelte es, ihn platt zu machen. Eines Tages verbot der Küstenschutz diese Unterhaltung, und die ganze Kompanie brach in ein Freudengeheul aus. In den Ohren von Leutnant Boenisch, eines flotten jungen Mannes aus der ‚Ostmark‘, klang das Geheul besonders niederträchtig. Er quittierte es mit der trockenen Ankündigung: „Meine Herren!“ – so wurden die Soldaten der Strafkompanien angeredet –, „an dieses Geheul werden Sie noch denken!“ Und sie mußten nicht lange darauf warten. Infanterie-Gefechtsausbildung gehörte zum Programm, auch bei klirrender Kälte. Nach einer Stunde Eilmarsch mit Stahlhelm, Sturmgepäck, Karabiner, leichtem MG und Munitionskästen standen sie dampfend, in Linie angetreten, am Rand einer alten Lehmgrube. Im Frost war der Lehm zu tückischen Wellen und Strudeln erstarrt, auf die das flach einfallende Sonnenlicht Schaumkronen setzte. Leutnant Boenisch schnarrte wieder „Meine Herren!“ und dann sein geländekundliches Ansinnen: „Sehen Sie den Horizont? Dort drüben in Linie angetreten. Marsch, marsch!“ Sie sprangen den Steilhang hinunter und brachen sofort bis über die Knöchel in den Lehm ein, den nur eine dünne Eiskruste bedeckte. Wen das schwere Gepäck und die Waffen von den Füßen rissen, der schlug der Länge nach in den Brei und hatte Mühe, wieder auf die Beine zu kommen. In wenigen Minuten sahen die eben noch schmucken Krieger wie Zombies aus. Schritt für Schritt quälten sie sich durch den Lehm voran, zogen Fuß nach Fuß aus der schmatzenden Pampe. Als sie am Rande des gegenüberliegenden Steilhanges angetreten waren, waren sie alle gleichmäßig kackgelb. Man konnte die Farbe förmlich riechen. Eine zollstarke Lehmschicht überzog Hände, Gesichter, Uniform, Stahlhelm, Gasmaskenbüchse, Karabiner und Munitionskiste und machte jeden Mann zehn Kilo schwerer. All keuchten, ächzten, spuckten und fluchten leise. Und dann mußten sie zurück durch die Grube, um wieder am alten Platz anzutreten. Der Rückweg erschien ihnen doppelt so lang. Einer der Letzten war ‚Opa‘ Rutsch aus Max’ Stube, der ein bißchen rundlich und weniger beweglich war. Er war so erschöpft, daß er sich kurz vorm Ziel einfach fallen ließ. Leutnant Boenisch kehrte den Kameraden heraus und sprang mit seinen blankgewichsten Langschäftern in den Lehm, um Rutsch herauszuhelfen. Sein Bursche würde die Stiefel schon wieder sauber kriegen. Boenisch sah sich seine Truppe von Lemuren an. „Meine Herren! Kein Triumphgeschrei?“ Erschöpft im Ansatz, sich aber schnell und trotzig zu einem wütenden und stolzen Brüllen entwickelnd, scheuchte ein minutenlanges „Hurraaah!“ die winterstillen Vögel aus den Bäumen. Boenisch ließ es ausklingen und gab sich unbeeindruckt: „Meine Herren! Dort drüben ist ein Bach, waschen Sie sich. Marsch, marsch!“ Sie platschten mit Stiefeln, Uniform und Karabiner in das trotz des Frostes strudelnde Wasser und wuschen, so gut es ging, den Lehm von Gesichtern, Händen, Uniform und Waffen, um dann durch die Stadt zurückzumarschieren. „Ein Lied!“ Der Flügelmann stimmte an: „Auf der Heide blüht ein kleines Blüüümelein, ... drei, vier!“ „Was mich nicht umbringt, macht mich härter ...“

*

„Komm, Jung! Noch ’n paar Schwimmstöße!“ Malichs Stimme klingt dünn im Rauschen des Regens.
Widerwillig taucht Max aus seinen Gedanken auf und philosophiert: „Die Welt steht auf dem Kopp. Gestern noch hatten wir das Wasser unterm Kiel.“
Auch Obermaat Malich, mittelgroß, schmal, etwa fünfundzwanzig, steht knöcheltief im Wasser. Die Bänder an seiner Tellermütze sehen im Regen aus wie Wasserschlangen.
„Ein Glück, daß wir dem Kammerbullen die Zeltplane aus dem Kreuz geleiert haben!“
„Weil Sie ihm Feuer unterm Arsch gemacht haben!“ pflichtet Max beflissen bei und findet sich sofort zum Kotzen. Zwar weiß er, was er weiß, und sagt laut seine Meinung, aber wenn nichts davon abhängt, macht er sich klein. Er hat vielfach erfahren, daß es oft besser ist, nicht recht zu behalten.
„Inzwischen hat er wahrscheinlich alles verscherbelt. Oder sie haben alles verbrannt, ‚damit es nicht dem Feind in die Hände fällt‘. Diese Etappenhengste!“ Sie gehen weiter. Widerwillig schmatzend, lösen sich die Füße aus dem Schlamm, um in die nächste Pfütze zu patschen. Der Schlamm ist gelb und grau und hat eine Gänsehaut von den aufklatschenden Tropfen. Der Regen verhängt die Weite des Feldes und macht Gestalten und Zelte zu Schemen. In klatschnassse Decken gemummte Männer quälen sich irgendwohin. Andere hocken, in sich zusammengesunken, hilf- und reglos am Boden. Sie werden in ihren Erdlöchern allmählich zugeschwemmt und scheinen Wurzeln zu schlagen, um nach dem Weltuntergang wieder auszutreiben.
Vierzigmannzelte sind in vorsintflutlicher Ordnung hingeklumpt. Sie sind von Leibern aufgequollen, die sie nicht verdauen können, Eingang suchende verschlammte Gestalten werden krampfartig wieder ausgespien. Das ist das Auffanglager Bretzenheim bei Kreuznach im September 1945.
Malich ist aus drei Zelten wieder hinausgedrängt worden, jetzt zwängt er sich entschlossen in das vierte: „Beide Maschinen äußerste Kraft voraus, Seemann! Wir ersaufen sonst im Stehen.“
Der Gedanke an ein Dach überm Kopf, an eine Chance, mal wieder trockene Klamotten zu haben, ist verlockend. Sie quetschen sich in den Preßsack von Zelt.
Max hat einmal ein Bild vom Jüngsten Gericht gesehen, wo die Verdammten, wie ein Bündel zusammengeschnürt, in den Flammen jammerten und schrien. Hier stecken sie zwar nicht in den Flammen, sondern in einem stinkenden Dunst, und sie jammern und schreien weniger als sie stöhnen und fluchen, aber sie sind mit Sicherheit auch in der Hölle, in einer nassen und modrigen Version jener anderen, mit phantasievollen Qualen ausgestatteten heißen Hölle.
Stehende, hockende, liegende Körper füllen den Raum, scheinbar Hunderte. Hinten hängt eine Benzinlampe, ihr ätzendes Gegenlicht verwandelt Männer in schwarze Unholde. Fahrig zuckende funzelige Taschenlampen erhellen Bruchstücke menschlicher Gesichter. Ein Brei murmelnder, flüsternder, manchmal bockig aufbrodelnder Stimmen mischt sich mit dem monotonen Trommeln des Regens. Die dumpfe Luft besteht aus dem Gestank von Schweiß, animalischen Ausdünstungen, nassem Leder und muffigem Tuch.
Malich zerrt Max hinter sich her. Der Stimmbrei schwillt an, die Masse will die beiden reflexhaft wieder ausstoßen. Malich klammert sich am Zeltpfosten fest und versucht, sich am breiten Rücken eines Obergefreiten vorbeizuquetschen: „Zieh mal den Schwanz ein, Großer! Der Junge hier hat Fieber“, schwindelt er sich zurecht.
Der Obergefreite schaut ihn von oben herab an und rührt sich nicht. Rangunterschiede haben sich offenbar erledigt.

*

Jahrelang waren sie für Max ein fester Bestandteil der Weltordnung. Die aber erwies sich schon seit längerer Zeit als brüchig. Als er zur Kriegsschule einrückte, wurden sie mit ihren Koffern und Pappkartons am Bahnhof von Obermaat Malich und Leutnant Boenisch, dem künftigen Kompaniechef, empfangen und in Marschkolonne aufgestellt. Sie kannten die Prozedur von Jungvolk, Hitlerjugend, Luftwaffenhelfern und Arbeitsdienst her und paßten sich reibungslos in die drei Reihen. Noch in Zivilklamotten, standen sie erwartungsvoll und etwas verlegen herum und versuchten, ihre Spannung in kleinen Albereien zu entladen. Da kamen zwei ,Lords‘ vorbeigeschlendert, U-Boot-Leute mit zusammengeknautschter Mütze, einem ,Schlag‘ in den Hosen, der die Schuhe verdeckte, ein paar Winkel am Ärmel und allerlei Lametta an der Brust. Max sah ehrerbietig das EK I, das U-Boot-Abzeichen und das Deutsche Kreuz in Gold. Die beiden grinsten und machten Witze über die Rekruten. Nicht im entferntesten dachten sie daran, Malich oder den Leutnant als Vorgesetzte zu grüßen, wie es die Dienstvorschrift vorsah. Leutnant Boenisch, der nur ein schwaches EK II vorzuweisen hatte, machte Front gegen sie und schrie: „He, Stabsgefreiter! Können Sie nicht grüßen?“ Die beiden zogen Gesichter, als ob sie eine Kuh mit zwei Köpfen sähen. Dann grinsten sie noch breiter, und der Angesprochene sagte, wie zu einem armen Irren: „Mannomann! Dreh bloß nicht durch!“ Die Rekruten waren zu verblüfft, um zu lachen. Gab’s denn so was überhaupt? Boenisch pumpte Luft und lief rot an, Malich unterdrückte nur mit Mühe ein Grinsen, verhinderte aber eine Konfrontation, indem er sie anschrie: „Quatschen Sie nicht im Glied! Ich habe nichts von ‚Rührt euch!‘ gesagt! Reeechts um! Im Gleichschritt – marsch! Aaain Lied!“ Trampelnd setzten sie sich in Bewegung, und Boenisch mußte sich beeilen, an den rechten Flügel zu kommen. Malich brüllte: „Erika! Flügelmann, Ton angeben!“ Der rechts vorne Marschierende begriff nicht gleich, daß er gemeint war, sein Hintermann mußte ihn in die Rippen boxen, dann blökte er erschrocken: „Aaaah!“ Malich schrie: „Drei, vier!“, und sie grölten verkrächzt, teils rauh und teils piepsig: „Auf der Heide blüht ein kleines Blüümelein ..., und das heißt ... Eeerika!“

*

Der Obergefreite im Zelt bleibt unbeweglich. Eine am Boden hockende Gestalt schimpft zu Malich hoch: „He! Paßt auf, wo ihr hinlatscht!“ Malich kontert: „Verhol deine Quanten, Mann!“ „Ich sitz’ bloß auf ’ner halben Arschbacke“, verteidigt sich der am Boden. Max macht sich so dünn wie möglich, Malich quält seine Ellbogen an fremden Rippen vorbei und kramt unter der nassen Zeltplane eine Packung Overstolz hervor: „Zehn Aktive für deinen Platz!“ Der am Boden knurrt: „Und wo soll ich hin?“ „Du bist doch vom fliegenden Personal!“ – „Her mit den Aktiven!“ – „Schleich dich, Flieger ...!“ Jetzt werden andere munter: „Zehn Aktive? Lüfte an, Mann.“ Und sie beginnen, schnell korrumpierte Helfer eines Besitzenden, den Flieger vom Boden hochzuzerren. Der versucht, sich festzukrallen: „Ihr spinnt doch! Warum denn ich? Macht ihr doch Platz!“ „Kannst ja wieder reinkommen“, wird er getröstet. Malich werden die Zigaretten aus den Händen gerissen, und der vom Boden wird tatsächlich von vielen Händen angelüftet und schwimmt dem Ausgang zu. An dem Obergefreiten, einem Fels in der Brandung, bleibt er hängen. Dessen Stimme klingt unerwartet autoritär: „Was is ’n das für ’n Kuhhandel? Wenn der raus soll, gehören ihm wenigstens die Zigaretten!“ Aber die sind schon verschwunden. Malich hat Max in die frei gewordene Lücke geschubst, der Flieger kann nicht dorthin zurück. Als ihn die Hände loslassen, sinkt er wie ein Stein im Schlamm zu Boden, halb auf Max drauf. Der Druck verteilt sich im Gedränge nach allen Seiten, und indem sich unter saftigen Flüchen die Glieder entspannen, werden die Körper nachgiebiger und nehmen die beiden Neuen in ihre Masse auf. Malich mustert das Gesicht des Obergefreiten, zwei Handspannen über ihm: „Sag mal, kenn’ ich dich nicht irgendwoher?“ Der dreht sich aus dem Licht der Benzinlampe in den Schatten: „Meinst du mich?“ Malich, leicht aggressiv: „Wen sonst?“ Der Obergefreite bewegt die Schultern, zweimal so breit wie Malichs: „Suchst du Streit?“ „Nicht die Bohne. Aber warst du nicht mal in Memel?“ Max glaubt zu sehen, daß die Augen des Obergefreiten für Sekundenbruchteile böse werden, es kann aber auch nur der Schein der Lampe darüber hingehuscht sein. Die Stimme jedenfalls bleibt völlig gelassen: „War ich nie. Wo soll das gewesen sein?“ Malich winkt ab: „Hab’ ich mich eben geirrt. Wenn du nicht in Memel warst ...“ Zu Max sagt er: „Alles klar, Seemann?“ Der genießt die Entspannung im feuchtwarmen Gedränge und möchte am liebsten die Augen schließen: „Jawohl, Herr Obermaat!“ (PK)

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max - jahrgang 27Max, Jahrgang 1927, 16jähriger Luftwaffenhelfer, später Kadett der Kriegsmarine auf dem Zerstörer „Hans Lody“, schildert seine Erlebnisse während des Krieges und in französischer Kriegsgefangenschaft. Seine Erinnerungen kreisen um die Arbeit im Bergwerk, um die erste Liebe zu der Französin Marie-Paule, die vergeblichen Fluchten und die endliche Heimkehr in das besetzte Deutschland. Reflexionen über die Sinnlosigkeit und Grausamkeit des Krieges haben angesichts weltweiter kriegerischer Aktivitäten nichts von ihrer Aktualität verloren.
ISBN 978-3-942693-50-9  € 11,90
© 2010 edition winterwork alle Rechte vorbehalten

Lutz Köhlert, geboren 1927 in Falkensee, lebt in Kleinmachnow. Er war
von 1943 bis 1945 Luftwaffenhelfer und Kadett der deutschen Kriegsmarine in Norwegen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geriet er in
französische Kriegsgefangenschaft und arbeitete in einem Bergwerk in den
Cevennen bis Januar 1948. Er versuchte mehrfach von dort zu fliehen.
Nach seiner Rückkehr 1948 legte er in Falkensee das Abitur ab und
studierte an der Hochschule für angewandte Kunst in Berlin und an der
Universität Greifswald Bühnenbild und Kunstwissenschaft.
Nach seiner Promotion wandte er sich dem Film, später dem neuen Medium Fernsehen zu. Bei der DEFA führte er Regie, u. a. bei den Spielfilmen
„Ärzte“, 1961, und „Tiefe Furchen“, 1965. Für das Fernsehen entstanden
szenische Dokumentationen wie „Schließt mir nicht die Augen“ und „Die
letzten Stunden von Radio Magellanes“. Ab 1967  bis zu seiner Emeritierung 1991 war er an der Hochschule für Film- und Fernsehen „Konrad
Wolf“ als Dozent, Rektor und Professor für Regie tätig.


Online-Flyer Nr. 294  vom 23.03.2011



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