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Aktueller Online-Flyer vom 25. April 2024  

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Aktuelles
Großer Erfolg beim Atom-Widerstand
Merkel auf dem Abstellgleis
Von Hans-Dieter Hey

Mehr als 90 Stunden hat der Castor-Transport mit 123 Tonnen hochradioaktivem Atommüll gebraucht, um von der Wiederaufbereitungsanlage im französischen La Hague bis zum Zwischenlager nach Gorleben zu gelangen. Mit dem 48-stündigen Protest konnte durch hervorragende Logistik und Medienpräsenz und dem Mut einer hochmotivierten Widerstandsbewegung der Castor zunächst aufgehalten werden. Noch Dienstagmorgen mussten ein letzter Aktivist von einem Betonklotz gelöst, ein querstehender LKW von Greenpeace beseitigt und 4.000 Atomkraftgegner aufgelöst werden. Dann war es vorbei. Die gesetzten Zeichen aber bleiben.

Überfälliger Widerstand
 
Die Veranstalter gehen davon aus, dass mit fast 50.000 Teilnehmern doppelt so viele Menschen wie im Jahr 2008 gegen die Verlängerung der Hochrisikotechnologie Atomstrom protestiert haben. Mit zahlreichen Aktionen des zivilen Ungehorsams wie Blockaden und "Gleisarbeiten“ stellten sich bis zu 5.000 Menschen auf den Gleisen quer. Und je mehr Menschen sich hinzugesellten, umso schwieriger wurde dann ihre Kriminalisierung durch Politik und Polizei. Es waren eben nicht - wie von der Regierung auch hier wieder gern behauptet - "Linksextreme“, sondern viele Menschen aus dem bürgerlichen Lager, die offenbar die Notwendigkeit des Widerstandes gegen die schwarz-gelbe Atompolitik erkannt haben. Die Blockade wird von allen Aktivisten verteidigt. BUND-Sprecher Torben Becker: „Die Sitzblockade ist die richtige Antwort auf die Geheimabsprachen der Bundesregierung mit den Stromkonzernen“.



Fröhlicher Mobilisierungsfilm
Quelle: castor.schottern.org
 
Fehler wurden aber auch zuvor gemacht. Während Claudia Roth, Cem Özdemir und Anhänger der Grünen in Gorleben munter gegen die weitere Nutzung der Atomenergie mitdemonstrierten, wird ihnen durch die Linke Schlingerkurs vorgeworfen. Sie würden sich im Wendland als Protestierer gebärden, hätten aber im Bundesrat dagegen gestimmt, dass dieser sich mit dem schwarz-gelben Atomdeal beschäftigt. Ulrich Maurer vom Vorstand der Linken weiter: „In sieben Jahren Mitregieren im Bund haben die Grünen in der Endlagerfrage nicht viel mehr geschafft als ein Moratorium der Gorleben-Erkundung. Wenn der Salzstock aber ungeeignet ist – und alles spricht dafür – hätte Jürgen Trittin doch in seiner Amtszeit als Umweltminister die ergebnisoffene Suche nach Alternativen einleiten können, ja müssen, um weitere Castor-Transporte zu verhindern.“
 
Überforderte Polizei – auch moralisch
 
Dass die Aufgabe für die 16.500 Polizisten nicht einfach werden würde, dem Castor-Transport den Weg frei zu halten, war schnell klar. Immer häufiger wird die Polizei von der Politik missbraucht, wenn sie politische Entscheidungen gegen den Willen der Bevölkerung durchsetzen soll. Bereits im Vorfeld der Ereignisse äußerte Konrad Freiberg, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei, dass die Polizei nicht dazu da sei, um unwillkommene politische Projekte zu sichern. Vor allem nicht länderübergreifend. Bereits im Jahr 2009 hätte es 160 länderübergreifende Einsätze dieser Art gegeben. Angesichts der hohen Zahl könnte man darauf kommen, dass mit der Politik in diesem Land etwas grundsätzlich falsch läuft. Dafür steht nicht nur Stuttgart 21 als Beispiel.
 
Offenbar war der Einsatz der Polizeikräfte im Wendland dilettantisch. Ein Sprecher von "Widersetzen“: „Nur durch gewalttätiges Handeln war die Polizei in der Lage, uns von der Schiene zu bekommen. Leute wurden geschubst, geschleift und fallengelassen.“ Doch dessen Befürchtungen wurden noch übertroffen. Das Ergebnis des teilweise brutalen Polizeieinsatzes durch Schlagstöcke und Pfefferspray: 1.000 Demonstranten wurden verletzt, 950 Augenverletzungen, 16 Brüche, 29 Kopfplatzwunden und drei Gehirnerschütterungen, berichten verschiedene Quellen. Die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke: „Ich konnte mit eigenen Augen beobachten, wie die Staatsgewalt rücksichtslos zugeschlagen hat“, berichtete sie gegenüber der Jungen Welt.



Dem Schottern wurde 2008 noch mit rechtsstaatlichen Mitteln 
begegnet... | Quelle: graswurzel.tv

Beispielsweise waren zwanzig Demonstrationsbeobachter Augenzeugen, als eine Gruppe friedlicher Demonstranten sich mit Polizisten der 50-Meter-Verbotszone näherte, aber plötzlich von einer anderen, Baden-württembergischen Polizeieinheit ohne Vorwarnung mit Schlagstöcken und Pfefferspray traktiert wurde. „ Nicht die allereinfachsten Grunderfordernisse einer 'rechtsstaatlichen' Auflösung einer Versammlung wurden eingehalten“, so die Beobachter.

Das Thema "Polizeigewalt“ wird jedenfalls von der Linken im Deutschen Bundestag zum Thema gemacht. In einer Pressemitteilung vom 8. November heißt es: „Die Linke wird unverzüglich eine parlamentarische Aufarbeitung des Polizeieinsatzes einleiten, insbesondere zur Rolle der Bundespolizei und der Bundeswehr. Dabei wird sich die Linke auch für ein Verbot von Reizgaseinsätzen gegen Demonstrierende stark machen.“
 
Aber auch sonst ging man mit Gesetzen recht hemdsärmelig um. Nach Auskunft des Pressebüros der Demonstranten hätten Juristen bemängelt, dass die Polizei ohne richterliche Genehmigung eine mit Stacheldraht umzäunte Gefangenensammelstelle eingerichtet hätte, um dort rund 1.000 Gefangene festzusetzen. Nach Durchfahrt des Zuges wurde diese wieder aufgelöst.
 
„Danke, dass sie alle gekommen sind.“
 
Indessen gibt sich Umweltminister Röttgen offenbar frei von Sachkenntnis, was die Kosten für die nuklare Entsorgung angeht. Dies sei – so gegenüber der ARD – eine staatliche Aufgabe. Die Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg scheint besser informiert: „Norbert Röttgen irrt in einem entscheidenden Punkt, denn die Zwischenlagerung der hochradioaktiven Abfälle ist Aufgabe der Abfallverursacher, vier Atomstromkonzerne EnBW, E.on, RWE und Vattenfall", weil das standortunabhängige Zwischenlager in Gorleben in einem räumlichen Zusammenhang mit der dort errichteten betriebsfertigen
Pilot-Konditionierungsanlage und dem sogenannten "Erkundungsbergwerk" stehe. Durch die Organisation "Campact" wurde Bundespräsident Christian Wulff aufgefordert, das neue Atomgesetz, dass die Merkel-Regierung ohne den Bundesrat durchpeitschen will, nicht zu unterschreiben.


...das sollte im Jahr 2010 ganz anders sein | Quelle: graswurzel.tv

Inzwischen dürfte Angela Merkel mit ihrer Atompolitik auf dem Abstellgleis stehen, weil mehr und mehr Menschen die risikoreiche Verlängerung der Atomnutzung auf ausdrücklichen Wunsch der Atomlobby und ihrer Profitinteressen nicht mehr akzeptieren. Der Widerstandsbewegung gegen die weitere Atomnutzung ging es daher nicht prinzipiell darum, den Castor aufzuhalten, sondern Druck auf Merkel auszuüben, endlich das Ende der gehassten Technologie einzuleiten. Ständige "Atomunfälle“ in deutschen Reaktoren, einfallendes Wasser im Lager Asse, Kontakt zum Grundwasser oder brennbare Gase in Gorleben, so Kritiker und wissenschaftliche Gutachter, machten den Ausstieg längst überfällig. Zudem gäbe es weltweit bisher kein einziges Endlager für den Atommüll, der bis zu unvorstellbaren 30.000 Generationen unseren Kindeskindern sein strahlendes Gift abgeben wird. Dass dies mit der noch nicht vorhandenen Technik Transmutation "nur“ noch ein paar hundert Jahre strahlen soll, beruhigt ja nicht wirklich.
 
Der deutliche Protest im Wendland gegen längere Laufzeiten und Gorleben als Endlager ist aber auch nur ein Teil für den Unmut hierzulande, wie mir schnell klar wurde. Die Frau eines – durchaus konservativ wirkenden – Ehepaars aus Dannenberg, das mich freundlicherweise zu meinem Bus fuhr, war hier völlig unzweideutig: „Wissen sie was? Die Leute haben einfach alle die Schnauze voll von Schwarz-Gelb. Das ist nicht nur Gorleben. Das ist Stuttgart 21, das ist Hartz-IV, Arbeiten bis 67 oder Gesundheitsreform. Die Leute wollen das alles nicht mehr. Danke, dass Sie gekommen sind.“ (HDH)


Online-Flyer Nr. 275  vom 10.11.2010



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