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Lokales
Die Sarrazins und ein Besuch bei den Parallelgesellschaften in Köln
Und der Sittich spricht hier türkisch
Von Eva Weissweiler

Köln, Anfang August 2010. Die Stadt im Zeichen der Gay Games. An ein paar schwülen, regnerischen Ferientagen sind wir mit Johanna, der Enkelin meines Mannes, unterwegs, um Bilder und Impressionen zum Thema “Krieg der Religionen“ zu sammeln. Unsere erste Station ist der Wilhelmplatz in Köln-Nippes, einem alten Stadtteil mit gewachsener Sozialstruktur. Zwischen Platanen und Gründerzeithäusern findet hier wie an jedem Wochentag großer Markt statt. Mein Artikel darüber, den die ver.di-Zeitschrift “Kunst und Kultur“ jetzt veröffentlicht hat, ist viel aktueller geworden, als ich im August ahnen konnte.
 
Johanna, die aus einem kleinen Ort in der Nähe des Bodensees kommt, traut ihren Augen nicht. Da stehen türkische Gemüsestände mit billigen Tomaten, Auberginen und Zucchini neben kleinen Zelten, vor denen Pakistanis bunte Folklore-Kleidung verkaufen, Italiener- innen preisen in lautem, gebrochenem Deutsch glitzernden Modeschmuck und grellfarbige High Heels an, an einem Stand gibt es griechischen Schafskäse und Oliven, an einem anderen arabische Bauchtanzkostüme für kleine Mädchen. Johanna, sie ist achtzehn und will vielleicht Fotografin werden, weiß vor lauter Bildern kaum, was sie fotografieren soll. Ein paar ältere Türkinnen in langen Mänteln und bunten Kopftüchern? Ein paar Roma-Kinder, die auf den Stufen eines alten Gebäudes sitzen und ihr lachend zuwinken? Den an der Fensterscheibe einer Apotheke klebenden Zettel mit der Meldung, daß ein Wellensittich, der perfekt Türkisch spreche, entflogen sei? Ein arabischer Händler hat ihr eine Aprikose geschenkt. Ein Pakistani sagt ihr höflich, daß sie sehr schön sei. Nein, vom Krieg der Religionen ist hier nichts zu spüren, auch wenn die rechtsextreme “Bürgerbewegung“ Pro Köln diesen Platz als die „Bronx von Nippes“ bezeichnet, in der „Pöbeleien und Gewaltdelikte“ an der Tagesordnung seien, „Männer arabischer Sprache und Herkunft“ die Cafés bevölkerten und multinationale Jugendbanden für den „Verfall mitteleuropäischer Sitten und Gebräuche“ sorgten.


 
Am nächsten Tag beschließen wir, den Standort zu wechseln und fahren mit der Straßenbahn Nr. 15 nach Chorweiler. Wie so viele Kölner kennen wir den in den siebziger Jahren aus dem Boden gestampften Ort nur aus Schlagzeilen: „Trabantenstadt“, „verschimmelnde Hochhäuser“, „sozialer Brennpunkt“, „größte Plattenbausiedlung Nordrhein-Westfalens“ und „Schandfleck von Köln“. Über 80.000 Menschen aus 105 Nationen leben hier, davon viele Juden aus der ehemaligen Sowjetunion. Fast jeder Dritte ist arbeitslos oder bekommt Sozialhilfe. Der Stadtteil ist kinderreich. Aber es gibt kaum Ärzte. Ein einziger Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin ist für mehr als 2.000 kleine Patienten im Quartal zuständig. Vor kurzem ist Oberbürgermeister Roters zu Besuch gewesen und war entsetzt. Man müsse dringend etwas ändern, hat er versprochen. Aber geschehen ist, soweit man weiß, bislang nichts.
 
Je mehr wir uns dem 13 km vom Zentrum entfernten Stadtteil nähern, umso leerer wird die Straßenbahn. Fast niemand, der hier wohnt, scheint sie zu benutzen. Es ist ein eigener Mikrokosmos. Zum Schluß sitzt nur noch dünnes Mädchen in der Bahn, das ein großes Hämatom unter dem linken Auge hat. Wir versu- chen, Blickkontakt aufzunehmen, aber sie starrt ins Leere. Als wir den Bahnhof verlassen, sind wir überrascht, die Straßen fast menschenleer vorzufinden. Obwohl Ferien sind, sieht man kaum Mütter mit Kindern. Nur ein paar Teilnehmer der Gay-Games steuern mit umgehängten Sporttaschen auf die Straßenbahn zu. Gegenüber dem Bürgerzentrum am Pariser Platz steht eine seltsam abweisend wirkende Trutzburg aus Backstein. Vorsichtig wagen wir uns hinein. An dem ein oder anderen diskret angebrachten Kreuz erkennen wir, daß es sich um das interreligiöse Begegnungszentrum handeln muß, von dem wir im Internet gelesen haben, zwei Kirchen und ein Versammlungsraum der Synagogengemeinde. Nur eine Moschee für die Muslime des Stadtteils fehlt. Sie steht weit draußen in einem Gewerbegebiet namens Feldkassel.
Während Johanna im Inneren der Trutzburg Fotos macht und mein Mann und ich auf dem Pariser Platz auf sie warten, überkommt uns eine schleichende Depression. Ein alter Mann sitzt auf einer Bank und starrt auf den Boden. Eine Türkin in bodenlangem Mantel geht vorbei. Man weiß nicht, ob sie alt oder jung ist. Sie ist sehr beleibt und bewegt sich langsam und beschwerlich. In der einen Hand trägt sie eine schwere Tasche, an der anderen führt sie einen kleinen Jungen im gestreiften T-Shirt, der sich losreißt, um ein Stück Papier einzufangen. An einer Wand kleben zerfetzte Plakate. Wir lesen türkische oder kurdische Worte, die wir nicht verstehen, lesen „Krieg“, „Arbeitslosigkeit“, „Krise“, „Rassismus“. Wo sind die türkischen Cafés oder Läden? Wo die russischen oder koscheren? Wir durchstreifen das Einkaufszentrum, aber wir finden sie nicht. Wir finden KIK, H & M, DM, C & A, eine Filiale von Karstadt, die uns auf großen Schildern herzlich willkommen heißt, aber leer und verfallen ist, finden ein Jugendzentrum, das erst um 17 Uhr aufmacht, eine Beratungsstelle für Migranten, die in den Ferien geschlossen ist, eine gut besuchte Kölsch-Kneipe und einen verdreckten Spielplatz, auf dem keine Kinder spielen.
 
In Blumenberg, eine S-Bahn-Station von Chorweiler entfernt, wohnt Sibel, eine türkische Freundin. Sie ist 32 Jahre alt, modisch gekleidet, Erzieherin und Diplom-Wirtschaftsjuristin, engagiertes SPD- und Gewerkschaftsmitglied. Wir besuchen sie in ihrer Wohnung in einem Mehrfamilienhaus, die hell, komfortabel und gepflegt ist. Hier gibt es keine verschimmelten Wände. Aus den Fenstern sieht man auf üppiges Grün. Die Straßen sind schmal und verkehrs-beruhigt. Es gibt Spielplätze und Kindergärten, kleine Geschäfte und sogar eine Waldorfschule. Blumenberg ist zehn Jahre jünger als Chorweiler. Man hat aus den Bausünden der Vergangenheit gelernt. Aber die sozialen Probleme, sagt Sibel, seien dieselben. Sie gibt zu, daß sie sich nicht mehr wohl fühlt und bald wegziehen will. Besonders nachts gebe es oft Randale, Schlägereien und Diebstähle. Doch sie wird böse, wenn Hassprediger wie Giordano „den“ Islam oder „die“ Migranten dafür verantwortlich machen. Schuld seien die Armut und die Chancenlosigkeit, die absurde Sparpolitik, die schlechte Infrastruktur und der Bildungsnotstand. Für die Sanierung des Opernhauses am Offenbachplatz wolle Köln demnächst um die 300 Millionen Euro ausgeben. Für ein paar dringend notwendige Sozialarbeiter oder Streetworker in Blumenberg sei dagegen kein Geld da. In der ganzen Region gebe es weder ein Gymnasium noch eine Musikschule. Selbst der Bücherbus, der einmal wöchentlich in ihr Viertel komme, solle abgeschafft werden. Wer aus dem Ghetto hinaus wolle, müsse weit fahren. Doch selbst dann sei das Stichwort „Chorweiler-Blumenberg“ ein Stigma, das man nicht loswerde, besonders, wenn man Kind türkischer Eltern sei.


 

Es ist Ramadan, als wir das Gespräch führen. Sibel hat uns Kaffee, Börek und Süßigkeiten serviert. Sie selbst fastet. Man merkt ihr an, daß sie sehr nervös ist. Denn gerade ist Thilo Sarrazins neues Buch angekündigt worden, „Deutschland schafft sich ab“, eine fast 500 Seiten lange Tirade auf die muslimische und besonders türkische Immigration. Sibel kann nicht glauben, daß es ausgerechnet ein Sozialdemokrat ist, der Muslimen das Recht auf freie Religionsausübung abspricht und das Antidiskriminierungsgesetz massiv verletzt. Sie meint, daß er Kategorien wie „Kultur“, „Islam“ und „Migrationspolitik“ wild durcheinanderwerfe, „Gläubigkeit“ mit „Terrorismus“ verwechsle und in seinem blinden Hass sogar so weit gehe, türkischen Frauen ihre Fruchtbarkeit vorzuwerfen, anstatt seinen Einfluß in der Politik dafür geltend zu machen, daß Deutschland kinderfreundlicher werde, ob für Deutsche oder Migranten. Es macht ihr Angst, daß es nicht nur die Agitatoren von Parteien wie Pro Köln, sondern auch Angehörige der intellektuellen Elite sind, die gegen die Integration schreiben, Schriftsteller wie Ralph Giordano oder Henryk M. Broder. Sie hat sich gut vorbereitet, zitiert aus einem Interview mit dem Deutschlandfunk, in dem Giordano Burka-Trägerinnen als „menschliche Pinguine“ und die Integration als durchweg „gescheitert“ bezeichnet. Muslime könnten niemals zu vollwertigen Bürgern werden, lautet sein Fazit. Weder als Individuen noch als Kollektiv.
 
Schade, daß Giordano nicht nach Chorweiler kommt und mit der Sozialarbeiterin Irina Rabinovitch spricht. Sie ist Leiterin des jüdischen Begegnungszentrums am Pariser Platz, organisiert Kurse auf Russisch, Deutsch und Hebräisch, an denen Juden, Deutsche und Muslime teilnehmen, bietet soziale und psychologische Beratung für alle an, lädt zu Stadtteilfesten, Konzerten und Lesungen ein und freut sich, wenn politisch offen diskutiert wird, sogar über das Tabu-Thema Israel. „Wir haben zum Beispiel“, sagte sie dem WDR im Juli 2010 kurz nach den israelischen Einsätzen gegen die Gaza-Hilfsflotte, „Leute türkischer Herkunft, die zu uns kommen und unsere Angebote wahrnehmen. Die kamen dann plötzlich und wollten mich umarmen und sagten: ‚Trotzdem sind wir Freunde und ihr seid unsere Brüder!’ Solche Beispiele sind auch da.“ (PK) 
 
Fotos: Klaus Kammerichs und Johanna Fausel


Online-Flyer Nr. 273  vom 27.10.2010

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