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Aktueller Online-Flyer vom 23. April 2024  

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Inland
Über Abgrenzung und zunehmende soziale Segregation
Die Verteidigung des Status quo
Von Riem Spielhaus

Seit einigen Monaten bewegt uns eine deutsche Selbstverständnisdebatte neuen Ausmaßes. Es bilden sich dabei ganz neue Lager jenseits der eingeübten rechts-links Kategorien. Noch etwas ist hier bemerkenswert: es stehen nicht Problemlösungen sondern die Abgrenzungen im Mittelpunkt. Aber dabei werden nicht nur Muslime als Migranten und damit als Fremde beschrieben sondern vor allem bestehende soziale Strukturen legitimiert und zementiert.
 

Quelle: dankeschoen.blogg.de
Auf lange Sicht hin erhalten derzeit Bemühungen für gleichen Zugang für alle zu Ressourcen der Gesellschaft wie Bildung, menschenwürdiges Wohnen und politische Partizipation eine Absage. Die Migranten- und Unterschichtschelte, die Thilo Sarrazin von seinem Posten als Bundesbanker aus formulierte, dient der Schärfung der bürgerlichen Identität durch Abgrenzung. Der Soziologe Hartmut Häußermann hat beschrieben, wie das funktioniert: Sobald ein Problem die Mittelschicht betrifft, wird es lautstärker und nationaler, denn sie ist artikulations- und konfliktfähiger. Es wird nicht unbedingt nationalistischer, aber es betrifft dann nicht mehr nur den Stadtbezirk, sondern schnell die Nation. Bei den Debatten um die Moscheebauten ließ sich dies recht gut beobachten. Ein Moscheebau im sozialschwachen Kreuzberger Stadtteil etwa führt zu kleineren Protesten als einer in Berlin-Heinersdorf oder in Köln-Ehrenfeld. Sobald dann nicht mehr nur lokal, sondern überregional in bundesweiten Medien diskutiert wird, wird das Finden von Lösungsansätzen schwieriger. Dann geht es nicht mehr um die lokale Gestaltung des Zusammenlebens und um die Lösung konkreter Probleme, dann geht es um die Verteidigung der nationalen Identität.


Entwurf für die Moschee in Köln-Ehrenfeld
NRhZ-Archiv
 
Im Vergleich schlechtere Schulabschlüsse von Migranten, Zwangsverheiratungen oder Ehrenmorde und die Ausgrenzung einzelner Schülerinnen und Schüler aufgrund ethnischer Zugehörigkeit gehören öffentlich diskutiert. Die Frage ist nur wie und zu welchem Zweck. Die erste große Debatte über das Kopftuch, die sich Ende der 90er Jahre am Kopftuch einer Lehramtsanwärterin entzündete, ist ein gutes Beispiel. So lange die Frauen mit den Kopftüchern diejenigen waren, die putzten, war das Kopftuch gar kein Problem in der deutschen Gesellschaft. In dem Moment aber, wo eine Lehrerin sich einklagte, es also um einen sozialen Aufstiegsjob ging, entzündete sich eine riesige Debatte. Dabei ging es nicht nur darum, dass die Kopftuchlehrerin eine Vertreterin des Staates ist. Es ging eben so sehr darum, dass sie einen Job besetzte, der „uns“ gehört, und dieses „uns“ meint das Bildungsbürgertum. Zu diesem „uns“ kann man unter bestimmten Umständen auch mit einem Migrationshintergrund gehören, aber kaum mit einem Bekenntnis zum Islam.
 
“Fremde“ Religion

Ziel vieler Debatten dieser Art ist offensichtlich die Legitimation bestehender Strukturen. Die Kopftuch-Lehrerin darf nicht unterrichten, nicht weil ihr Kopftuch eine, sondern weil es die „fremde“ Religion symbolisiert. Die alleinerziehende Lehrerin mit Kopftuch wurde aus dem Erwerbsleben ausgeschlossen, relevante und drängende Fragen nach Auseinandersetzungen mit extremistischem Gedankengut oder nach Hilfsangeboten für Opfer häuslicher Gewalt dagegen nur halbherzig behandelt. Beispielsweise war die Kopftuchdiskussion begleitet von Kürzungen an Frauenhausetats und nicht etwa Aufstockungen durch die öffentliche Hand. Und wenn derzeit behauptet wird, bestimmte Migrantenkinder sind schlecht in der Schule, weil sie entsprechend genetisch geprägt seien, ist dies anachronistisch. Mittlerweile wurde die genetisch-rassistische Argumentation weitgehend durch die konsensfähigere kulturell-rassistische abgelöst, aber beide laufen auf das gleiche hinaus: Die „Außenseiter“ allein sind schuld an der Misere. Eine lösungsorientierte Herangehensweise hingegen würde die Defizite und Potentiale aller beteiligten Akteure berücksichtigen.
 
Egal, was mit den Sozialschwachen passiert

Bedrohlich an den Debatten über Muslime und Zugewanderte der vergangenen Wochen ist die zunehmende Segregation von Mittelschicht und sogenannter Unterschicht. Das steht auch im Zusammenhang mit dem Volksentscheid zur Grundschulreform in Hamburg. Begründet mit einer vermeintlichen Verschlechterung der Bildungsqualität wurden ebenfalls die bestehenden sozialen Strukturen verteidigt. Die immanente Botschaft war, dass es egal ist, was mit den Sozialschwachen, was mit den Bildungsfernen passiert, solange die qualitativ hochwertige Ausbildung von Kindern ambitionierter Eltern gesichert ist. Wenig später liefert die aufgebauschte Sarrazin-Debatte die moralische Legitimation dafür.

Eine jüngst veröffentlichte OECD-Studie attestiert Deutschland im Vergleich zu den anderen OECD-Ländern bei den Bildungsausgaben einen der letzten Plätze. Kinder aus sozial schwachen Familien, darunter auch viele mit Migrationshintergrund, werden vom deutschen Schulsystem zu wenig gefördert und schneiden gerade auch deshalb entschieden schlechter ab als in den Vergleichsländern. Gleichzeitig muss der Bundesinnenminister zugeben, dass die angebotenen Integrationskurse von der Nachfrage übertroffen werden. Die Berechnungsgrundlagen für seine Schätzung von um die 10% Integrationsverweigerer sind hingegen nicht nachvollziehbar.

Nur scheinen sich Medienrummel und erschreckender Weise auch die bücherkonsumierende Mittelschicht lieber weiter Angstszenarien um die Ohren zu hauen als sich mit mühseligen Lösungsansätzen zu befassen. Anstatt zu schließen: die Gesellschaft verdummt, die Geburtenrate sinkt, gut Ausgebildete verlassen das Land, es gibt einen Fachkräftemangel und wir müssen alle Kräfte bündeln, um das zu verändern, entsteht just eine Debatte, die besagt: Wir könnten die Strukturen noch so sehr ändern, das ohnehin macht keinen Sinn, das lohnt sich nicht, denn „die“ würden das ja gar nicht schaffen. Verteidigt wird der Status quo. Ob man das nun mit genetischer oder kultureller Herkunft begründet oder mit fehlendem Willen, die Kernbotschaft, die da so eine breite Anhängerschaft findet, lautet nicht: Das ändern wir. Sie lautet: Mit „denen“ geht das gar nicht. (PK)
 

Riem Spielhaus
Quelle: www2.hu-berlin.de
Riem Spielhaus, geboren 1974 in Berlin, ist Islamwissenschaftlerin und forscht seit Januar 2010 am Zentrum für Europäisches Islamisches Denken an der Universität Kopenhagen. Im Dezember 2010 erscheint ihre Dissertation unter dem Titel „Wer ist hier Muslim?“.
 
 
 


Online-Flyer Nr. 272  vom 20.10.2010

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