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Inland
Berlin will Exportgewinne auf Kosten anderer Euroländer zu verstetigen
Das Spardiktat
Von Hans Georg

Begleitet von Protesten in mehreren europäischen Staaten verschärft Berlin den Druck zur Durchsetzung seines Spardiktats für die gesamte Eurozone. Wie es in einem Maßnahmenpaket heißt, das die EU-Kommission am vergangenen Mittwoch vorlegte, sollen Euroländer, die die sogenannten Stabilitätskriterien nicht penibel einhalten, weit schärfer als bisher sanktioniert werden.


Generalstreik in Griechenland
Quelle: media.de.indymedia.org
 
Die Kommission will nicht nur bei vermeintlich zu hoher Staatsverschuldung einschreiten, sondern auch dann, wenn die Lohnstückkosten den EU-Durchschnitt klar übersteigen, also etwa, wenn angeblich zu hohe Löhne gezahlt werden. Die Brüsseler Maßnahmen entsprechen Konzepten Berlins, die darauf abzielen, deutsche Exportgewinne auf Kosten anderer Euroländer zu verstetigen und mit EU-weiter scharfer Austeritätspolitik die notwendigen Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. Gegen die deutschen Pläne protestiert nicht nur die Regierung Frankreichs: Vergangenen Mittwoch kam es in mehreren europäischen Staaten zu Massenprotesten gegen die maßgeblich von Deutschland erzwungene Austeritätspolitik.
 
Haushaltsdiktat
 
Wie es in dem Maßnahmenpaket heißt, das die EU-Kommission vorlegte, sollen die Sanktionen gegen Euroländer, die die rigiden Kriterien des "Euro-Stabilitätspakts" nicht einhalten, verschärft werden. So sollen nicht nur Strafverfahren eröffnet werden, wenn die Neuverschuldung drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts überschreitet, sondern auch dann, wenn die Gesamtverschuldung sich auf mehr als 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts beläuft. Neu ist, dass auch Sanktionsverfahren eingeleitet werden können, sofern einzelne Länder deutlich höhere Lohnstückkosten aufweisen als andere oder bei der sogenannten Wettbewerbsfähigkeit hinter den europäischen Durchschnitt zurückfallen. Faktisch öffnet dies Brüssel die Möglichkeit, auf die EU-Mitgliedstaaten unmittelbaren Druck etwa zur Senkung von Löhnen auszuüben.
 
Sanktionen
 
Die beträchtlich erweiterten Sanktionsrechte der EU-Kommission in Bereichen, die bisher der politischen Gestaltung durch die einzelnen Demokratien vorbehalten waren, sollen mit harten Strafen versehen werden. Sogenannten Defizitsündern wird eine Einlage in Höhe von 0,2 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts abverlangt, die vollständig einbehalten werden kann, wenn die "Empfehlungen" der Kommission nicht befolgt werden. Nur eine qualifizierte Mehrheit der Finanzminister kann die Umsetzung der Sanktionen stoppen. Dies läuft nicht nur auf eine beinahe automatische Verwirklichung der Sanktionen hinaus, sondern auch auf eine künftige Sonderstellung Berlins bei der Entscheidung über Verfahren gegen einzelne Staaten: Die Bundesrepublik hat, wenn 2014 gemäß dem Vertrag von Lissabon das Prinzip der doppelten Mehrheit in Kraft gesetzt wird, das größte Stimmgewicht in den EU-Gremien inne und besitzt die besten Möglichkeiten, Stimmkoalitionen zu schmieden.
 
Deutsche Exportmacht

Mit ihren Sanktionsplänen trägt die Kommission ohnehin deutschen Forderungen Rechnung. Die Bundesrepublik hat seit der Einführung des Euro massiv bei den Löhnen sowie den Sozialausgaben gekürzt und damit der deutschen Industrie Konkurrenzvorteile verschafft. In Frankreich und in den Staaten Südeuropas ließen sich die Beschäftigten dagegen nicht so billig abspeisen. Die Folge sind deutsche Exportüberschüsse in die Länder der Eurozone und wachsende Handelsbilanzdefizite vor allem in den südlichen Euroländern. Die steigende Staatsverschuldung hat unter anderem die Krise in Griechenland ausgelöst und gefährdet auch weitere Länder.[1] Da Berlin nicht bereit ist, auf die Belange der EU-Südstaaten Rücksicht zu nehmen und seine aggressive exportorientierte Politik zu modifizieren - insbesondere Paris hatte dies vergeblich gefordert wie german-foreign-policy.com berichtete [2] -, bleibt nun der Freibrief einer harten Austeritätspolitik, um Zusammenbrüche ganzer Staatshaushalte zu verhindern. Der allgemein übliche Weg, auswärtige Exportoffensiven durch die Abwertung der eigenen Währung abzuwehren, ist den Staaten der Eurozone ja seit der Einführung der Einheitswährung verwehrt.
 
Unmut in Frankreich
 
Unmut über die deutschen Pläne regt sich vor allem in Frankreich. Die französische Finanzministerin Christine Lagarde hat schon wiederholt gegen das Spardiktat aus Berlin protestiert. Frankreich, das heute anderen Wirtschaftsrezepten folgt als die Bundesrepublik, ist zumindest gegenwärtig noch nicht zu vollständiger Anpassung bereit und protestiert besonders gegen das deutsche Ansinnen, einen Sanktionsautomatismus bis hin zum Entzug der Stimmrechte auf EU-Ebene zu etablieren. Paris habe stets "eine solide und glaubwürdige Wirtschaftsregierung" der EU favorisiert, erklärt Lagarde. Man sei aber nicht damit einverstanden, ein konkretes Modell für alle EU-Staaten verpflichtend zu oktroyieren und seine Kontrolle womöglich auch noch einem demokratisch nicht legitimierten "Experten"-Gremium zu übertragen. Lagarde erklärt in offenem Gegensatz zu Berlin: "Eine Macht, die ausschließlich in den Händen von Fachleuten liegt - nein".[3]
 
Haushaltsföderalismus
 
Auch die inneren Widersprüche des Euro, die sich in der aktuellen Krise offenbarten, werden in Frankreich inzwischen immer offener diskutiert. So heißt es in einem Kommentar in der Pariser Wirtschaftspresse, die Einheitswährung verlange im Prinzip eine gemeinsame Haushaltspolitik, um die Widersprüche zwischen verschiedenen, letztlich einander ausschließenden Wirtschaftsmodellen zu eliminieren. "Aufgabe der monetären Souveränität auf der einen, Aufrechterhaltung der Haushaltssouveränität auf der anderen Seite" - "dieser Widerspruch bedroht die Eurozone seit ihren Ursprüngen", heißt es in dem Kommentar. Deshalb müsse, wenn der Euro auf Dauer Bestand haben solle, künftig über "eine Form des Haushaltsföderalismus" nachgedacht werden: "Weil die Antwort auf diese Frage nicht von alleine kommt, muss die Frage gestellt werden."[4]
 
Massenproteste
 
Welche Folgen das deutsche Spardiktat hervorruft, zeigt sich bereits jetzt nicht nur in Griechenland, sondern auch in Spanien. Die dortige Regierung bemüht sich, dem Druck nach rascher Reduzierung des Haushaltsdefizits nachzugeben, und kündigt für nächstes Jahr eine Defizitsenkung auf gut sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts an. 2013 soll die Drei-Prozent-Grenze endgültig unterschritten werden. Harte Einschnitte bei den Sozialausgaben sind deshalb beschlossene Sache. Deshalb kam es vergangenen Mittwoch in Spanien zum fünften Generalstreik seit der Redemokratisierung des Landes; laut Angaben aus Gewerkschaftskreisen beteiligte sich gut die Hälfte aller Beschäftigten. Auch in anderen europäischen Staaten gingen viele Menschen gegen die von Deutschland forcierte Austeritätspolitik auf die Straße; in Portugal, in Griechenland und in Polen protestierten Tausende, in Brüssel demonstrierten mehrere zehntausend, nach Angaben aus Gewerkschaftskreisen 100.000 Menschen. Mit weiteren Massenprotesten ist angesichts des zurzeit erst beginnenden Spardiktats zu rechnen. (PK)
 
[1] s. dazu Das Ende der Souveränität (II) und Deutsche Größe
[2] s. dazu Ein Tabubruch
[3] Refonte du pacte de stabilité: Paris conteste les sanctions automatiques; Le Monde 29.09.2010
[4] La question politique de l'euro; Les Echos 27.09.


Online-Flyer Nr. 270  vom 06.10.2010



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