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Lokales
Abgehauen aus Lust an der Welt
1983: Dessau – Istanbul – Köln
Von Hans-Dieter Hey

Als „Blue Flower“, gerade 19jährig, 1983 aus der DDR abhaute, weil sie „mal den Westen kennenlernen wollte“, hatte sie nicht geahnt, was sie erwartet. In einer wahren Odyssee fuhr sie per Anhalter über Rumänien bis zur türkischen Grenze, um sich von da nach Deutschland-West schleppen zu lassen. Lesen Sie ihre spannende Geschichte.

Blue Flower ist in Köln als politische Sängerin bekannt. So wollen wir sie

"Blue Flower"...
auch weiter nennen. 1963 in Dessau geboren, wuchs sie dort auch auf. Nach zehnjähriger Schulausbildung lernte sie Elektromaschinen-Bau – hierzulande ein Männerberuf. Doch es war nicht ihr Traumberuf. Sie wollte lieber etwas mit Tieren zu tun haben und nahm im Anschluss eine Stelle als Tierpflegerin im Tierpark Dessau an. Dort bekam sie 456 Mark im Monat. „Aber ich habe nur 100 verbraucht, weil alles so billig war, und 30 Mark Miete für eine kleine 50-qm-Wohnung.“ Im Restaurant des Tierparks habe sie jede Woche ein großes Steak mit Pommes gehabt und trotzdem die 456 Mark nicht aufgebraucht.

„Du warst eigentlich immer super abgesichert, und das wissen die Leute hier einfach auch gar nicht. Wenn ich damals geahnt hätte, wie das hier ist, wäre ich nicht abgehauen.“ Man hätte drüben immer von den hohen Löhnen gehört, aber man kannte nicht die wahnsinnigen Ausgaben. Ein Nachbar, westreisender Rentner, meinte damals: „Da drüben ist das gar nicht lustig, da möchte ich nicht leben. Als Jugendliche wollte ich ihm das nicht glauben, ich wollte nur das Gute glauben“, sagt sie.    

„Ich habe mich zu Hause eigentlich immer wohlgefühlt. Es war nur einfach so, dass vom Westen so eine Verführung rüber kam. Das Parfüm roch immer so toll, das Westpaket auch. Man sieht die Werbung im Fernsehen und Leute, die Päckchen aus dem Westen bekamen, wurden immer besonders bewundert.“ Ambitionen, abzuhauen, hatte sie allerdings nicht. Doch seit dem 16. Lebensjahr war sie immer mindestens vier Wochen im Jahr durch die Sozialistischen Länder getrampt, durch Ungarn, Bulgarien, Rumänien, bis ans Schwarze Meer.

Auf der Hinterachse festgebunden


Auf die Frage, ob sich irgendwann eine politische Haltungsänderung eingestellt hatte, die sie zur Republikflucht geführt habe, antwortet sie: „Wir hatten gefeiert, auch mit Alkohol, und hatten das ganz spontan entschieden. Es war überhaupt nicht geplant. Ich habe mich in der DDR nicht schlecht gefühlt, und für mich gab es keinen Grund, dort wegzugehen. Es war die Neugier und dass man eben nicht ausreisen konnte. Und ich dachte, dass muss da viel schöner sein, und die haben doch dort Mon Cherie und Persil, und das riecht so toll. Als Jugendliche lässt man sich eben durch solche Äußerlichkeiten sehr verführen.“  

Auf abenteuerlicher Fahrt über Bulgarien kam sie bis 15 Kilometer vor die türkische Grenze. Dort ließ sie sich von Reisenden mit Gürteln zwischen Hinterradachse und Wagengehäuse eines Lasters festbinden. „Ich erinnere mich daran, dass mir auf der LKW-Achse richtig die Zähne klapperten, so eine Angst hatte ich. An der Grenze sah ich dann die Beine der Soldaten in Uniform, hörte sie reden. Sie klopften mit Stangen an das Fahrzeug, schauten auch darunter, aber sahen mich nicht.“ Auf der türkischen Seite, in Idirna, wurde sie von der LKW-Achse losgebunden und schaffte es ohne Papiere bis Istanbul.

Vom türkischen Geheimdienst verhört


In Istanbul wurde Blue Flower von mehreren Militärkontrollen angehalten. „Überall gab es Militär, an jeder Ecke Maschinenpistolen. Oft wurden wir angehalten. Einer der Mitreisenden, Rainer, gab Blue Flower als seine Frau aus. Das ging mehrfach gut, weil türkische Frauen keinen Pass hatten und Ehefrauen im Pass der Männer eingetragen wurden.“ Das war riskant, fiel aber niemandem auf.

Nachdem sie sich bei der Deutschen Botschaft gemeldet hatte, wurde sie als „Flüchtling“ behandelt und kam in ein türkisches Lager. Das war nicht gerade lustig, aber besser, als in einem türkischen Gefängnis zu landen, wie es einigen anderen erging. „Ich wurde dann eines Tages im Lager abgeholt und musste in ein Auto ohne Fenster steigen. Nach längerer Fahrt ging das Auto auf und ich befand mich in einer Art Bunker und kam sofort in einen Verhörraum.“


...singt politische Lieder wie das "Resolutionslied" von Berthold Brecht auf Protestveranstaltungen | Foto: H.-D. Hey - gesichter zei(ch/g)en

Stundenlang wurde sie von einem Mann des türkischen Geheimdienstes verhört, und der „hat versucht, mich durcheinander zu bringen. Er hat immer wieder die selben Fragen gestellt und die Themen wiederholt. Vor allem auch immer wieder, wie ich über Bulgarien abgehauen bin. Er warf mir immer wieder vor, ich hätte vor einer Stunde was anderes gesagt. Alles wurde aufgeschrieben. Und irgendwann bin ich dann aus der Fassung geraten und ich schrie ihn an: „Scheiße nochmal, dass habe ich ihnen doch gar nicht gesagt. Selbst das Wort „Scheiße“ schrieb der in seinen Bericht.“

Nach fünf Wochen bekam sie endlich von einem türkischen Mann die Ausreisepapiere. Der kam von einer „merkwürdigen katholische Organisation in der Türkei. Das war richtig mysteriös. Er sollte mich zum Flughafen begleiten und mir Geld für Essen und Fahrtkosten nach Deutschland geben. Das Geld bekam ich jedenfalls nicht. Die brachten mich dann in irgendeine fremde Wohnung, wo sich merkwürdige Männer trafen, die sich stundenlang unterhielten. Ich war schließlich total eingeschüchtert und traute mich nicht, etwas zu sagen. Ich hatte zeitweise richtig Panik.“       

Nach Stunden der Angst wurde sie „zu anderen Männern in irgendeine Wohnung gebracht. Ich habe gedacht, der legt es drauf an, mich irgendwohin zu verkaufen. Man hatte mir gesagt, man kann dort als Frau nicht allein rumlaufen. Die fangen dich ein, und dann kommst du in irgendeinen Harem. So dachte ich damals. Die Männer sahen mir auch nicht vertrauenswürdig aus. Damals war das ja auch noch eine Militärregierung und ich hatte Angst, dass die mir was tun.“

Endlich, abends, wurde sie zum Flughafen gefahren und war froh, in das Flugzeug einsteigen zu können. In Frankfurt meldete sie sich sofort der Polizei, und man brachte sie zur Bahnhofsmission. „Die haben mir dann erst mal was zum Essen gegeben und ich habe dort übernachtet. Am nächsten Morgen haben die mich dann ins Übergangslager gesteckt.“

Die bitteren Enttäuschungen im „Westen“

Konkrete Vorstellungen vom Westen hatte sie gar nicht. Der berufliche Start stellte sich dann auch als besonders schwierig heraus. Als ausgebildete Elektromaschinen-Bauerin hatte sie gar keine Chance, schon allein deshalb, weil es für Frauen damals in der BRD nicht einmal Umkleideräume gab. „Überall, wo ich mich vorgestellt habe, kannten die das gar nicht, dass eine Frau im Elektromaschinen-Bau ist. Ich war dann erst mal arbeitslos und entschied mich, Abitur zu machen.“

Schnell häuften sich die negativen Erfahrungen im Westen. „Ich merkte schnell, dass die Menschen hier so mitleidlos sind. Das war in der DDR anders. Da hat man niemanden einfach auf der Straße liegen gelassen. Jeder hätte dem geholfen und jeder hätte Arbeit bekommen. Es ist auch nicht so gewesen, wie es hier dargestellt wird. Was mich schockiert hat, das ist die Tatenlosigkeit, dass man Leute und Obdachlose einfach hängen lässt, dass es Leute gibt, die durch das soziale Netz fallen.“

Was sie ebenso schockiert hat, war die Auseinandersetzung um den Raketenbeschluss in den 1980ern. „Da habe ich brutale Polizeigewalt in Bonn erlebt. Da haben die mit Wasserwerfern auf Leute geschossen, die Ketten gebildet und friedlich demonstriert haben. Ich komme aus der U-Bahn und sehe die Wasserwerfer an mir vorbei zischen und die Leute kippen einfach um. Ich fing an zu heulen und habe fast einen Nervenzusammenbruch bekommen. Ich kannte aus der DDR nicht, dass die Polizei so mit den Leuten umgeht. Und hier haben die Medien immer erzählt, die DDR-Polizei sei so brutal.“ Ab dem Zeitpunkt hat Blue Flower mitdemonstriert.

In der DDR sei sie auch zu Demonstrationen für den Frieden, zum Beispiel in Dresden vor der Frauenkirche, mit „Schwertern zu Flugscharen“ gewesen. „Die haben uns zwar auch angehalten, aber die waren immer freundlich. Im Radio haben sie immer gesagt, sie werden die Demonstration nicht dulden, die ist nicht angemeldet und die ist verboten. Aber die haben nie irgendwelche Brutalitäten gegen das Volk ausgeübt, das haben die nie gemacht. Die hatten vielleicht viele V-Männer dazwischen, das weiß ich nicht. Aber da war niemand, der auf Menschen losgegangen ist.“

Im Nachhinein fühlt sie sich bestätigt, was sie in der Schule der DDR gelernt hatte, obwohl sie sich damals durch das Fach „Staatsbürgerkunde“ immer genervt oder propagandistisch beeinflusst fühlte.  „Wir hatten ja Marxismus-Leninismus in der Schule. Und im Nachhinein muss ich sagen, dass wir gut ausgebildet wurden, nämlich dass sie über den Kapitalismus genau die richtigen Sachen gesagt haben“.  

Am Ende stand Hartz IV

Ihr Studium konnte sie nicht zu Ende bringen, da sie irgendwann Mutter wurde. Trotz der Kinder hatte Blue Flower – zumindest zwischendurch – immer gearbeitet, und sei es halbtags. Gerade auch für die zwei noch kleinen Kinder lief das zu Sozialamtszeiten noch ganz gut. Man nahm Rücksicht auf die familiäre Situation zum Wohl der Kinder. Doch „irgendwann kam Hartz IV und die ARGE. Ich wurde unter Druck gesetzt und sollte Vollzeit arbeiten. Die Sachbearbeiterin hat sofort auf mich eingetreten. Ich sollte mir gefälligst eine Ganztagsstelle suchen oder noch eine zweite Halbtagsstelle, und zusätzlich im Monat 15 Bewerbungen schreiben. Alle vier Wochen wurde ich eingeladen und musste Kopien der 15 Bewerbungen abliefern.“ Doch das war nur der Anfang der Geschichte. Hartz IV war die nächste bittere Erfahrung, die sie schließlich krank gemacht hat – zerbrochen am sogenannten „Sozialstaat“. Inzwischen erhält Blue Flower als Opfer dieses Sozialstaates, der längst keiner mehr ist, eine Frührente.    

Hartz IV war für sie die nächste, ganz besondere Erfahrung im Westen. Und mit Tränen in den Augen meint sie heute noch bitter: „Das war der tolle Westen. Das war mit Hartz IV echt schlimm.“ Zu ihrer Odyssee im Hartz-IV-Westen gab es ein Interview in Radio FLOK, dem Freien Lokalfunk in Köln mit einem Statement ihres Rechtsanwalts Christian Lattorf. Das Interview ist gekürzt, Moderator war Raphael Mader. Für die NRhZ spielt Blue Flower das Lied „Resolution“ mit dem Text von Berhold Brecht, der so gut zu dieser Geschichte passt. Beides können unsere Leserinnen und Leser unten abrufen. (HDH)

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Interview in Radio FLOK

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Resolutionslied, Text: Berthold Brecht
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Online-Flyer Nr. 269  vom 29.09.2010



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