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Literatur
Krimi der Woche
Göttin der Jagd – Teil 1/2
Von Isabella Archan

Diana, Göttin der Jagd, neige dein Haupt zu dem Jäger herab, der dir sein größtes Gut, seine Beute zu Füßen legt. Diana, erhöre ihn.

Mir war übel. Ich hätte schon beim ersten Stück Torte Nein sagen sollen, aber hinterher ist man eben immer klüger. Buttercreme und Nougat am Abend konnten nichts Gutes für meinen Magen bedeuten. Sauer statt Süß stieß mir die Torte auf und ich wunderte mich wie eine alte Dame wie Tante Milla sich zwei große Stücke davon einverleiben konnte. Straff spannte sich der Sicherheitsgurt über meinen Bauch und meine Hose klemmte schmerzlich.
Noch dazu hatte ich mich komplett verfahren.

‚An der großen Weide gleich links, dann bist du in Null Komma Nichts auf der Zufahrtsstraße zur Autobahn.’ Ja, Tante Milla, es hätte so sein sollen, war es aber nicht.

Ich fuhr jetzt schon ziemlich lange diese verlassene Straße entlang und kein Hinweisschild zur Autobahn hatte sich in meinem Scheinwerferlicht gezeigt. Bäume und nichts als Bäume, nächtlich dunkel wiegten sie sich im Wind. Dabei war ich mir sicher gewesen, vorne nach Tante Millas Haus eine Weide identifiziert und dort links abgebogen zu sein.
 
Was musste sich Tante Milla auf ihre alten Tage auch unbedingt in dieser gottverlassenen Gegend niederlassen, um, wie sie sagte, ihre letzte Ruhe schon zu erleben, bevor sie starb?!

Ein Blitz zog über den schwarzen Himmel und ich erschrak gewaltig. Der Donner grollte hinterher. Bei meinem Glück heute Nacht würde es gleich auch noch zu regnen anfangen. Das fehlte noch.

Vielleicht hatte ich aus Versehen eine der alten Forststraßen erwischt, die ins Nirgendwo führten und nur dem Abtransport von Baumstämmen dienten. Ich nahm mir vor, noch ein paar Kilometer so in der Dunkelheit weiterzufahren, wenn dann kein Hinweisschild kam, würde ich umdrehen.

Der Geruch nach Nougat und Buttercreme stieg mir in die Nase. Tante Milla hatte darauf bestanden, mir die zweite Hälfte mitzugeben. ‚Verpflegung für unterwegs’, nannte sie es und wenn ich nicht bald aus diesem Waldstück herausfand, hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Das gute halbe Stück stand auf dem Rücksitz in einer festen Pappkiste auf einem alten großen Vorlegeteller.

‚Und bitte bring mir die Sachen wieder zurück, wenn du die Torte aufgegessen hast!’ Natürlich, Tante Milla. Du würdest einen alten Pappkarton und einen Teller mit Sprung sicher vermissen. Nun roch das gesamte Auto nach dem klebrigen Tortenguss. Nie mehr Süßes, schwor ich mir. Morgen würde ich sofort meine nächste Diät starten.

Etwas knallte auf die Kühlerhaube und es gab einen dumpfen ekligen Aufprall.
Ich stieß vor Schreck nur einen leisen Pfiff aus. Mein Fuß trat automatisch auf die Bremse und der abrupte Halt riss meinen Oberkörper nach vorne bis der Sicherheitsgurt einrastete und mir die Luft zum Atmen nahm. Die Bremsen quietschten und das Lenkrad zuckte in meinen Händen. Doch das Auto stand.  

Die Zeit schien still zu stehen, ich hielt den Atem an. Dann überrollte mich der Schrecken in einer heftigen Woge. Meine Hände begannen unkontrolliert zu zucken und mein Herz setzte einen wahren Trommelwirbel in Gang. Ich krallte die Finger um das Lenkrad. Mein Atem ging schwer. Ich wagte kaum zu denken.

 "Ein Reh!" sagte ich laut zu mir selbst "Ich habe in der Dunkelheit ein Reh angefahren!" Langsam bewegte ich mich wieder. Ich löste den Sicherheitsgurt und öffnete vorsichtig die Autotür. Was hatte ich zu tun? Wie mich verhalten? Das Tier einladen und mitnehmen? Die Polizei verständigen?

Die Nachtluft war feucht. Noch hatte der Regen nicht eingesetzt. Eine schwere Stille hing über der Straße. Am Himmel zeigte sich kein Stern. Die Nacht umgab mich und meinen Wagen, die einzige Lichtquelle waren die Scheinwerfer. Ich atmete einmal kräftig durch und ging mutig zwei Schritte nach vorne. Im Lichtkegel der Scheinwerfer sah ich ein Bündel liegen. Ein Reh, ich hatte ein armes Reh überfahren. Echt Scheiße, das hatte mir noch gefehlt.
 
Zwei Schritte weiter erstarrte ich. Ein Körper. Kein Tier, ein Mensch. Eindeutig zu erkennen. `Ich habe einen Menschen überfahren!´

Ein hoher singender Ton war plötzlich in meinem Ohr. Ich übergab mich an Ort und Stelle. Die unverdauten Tortenreste landeten vor meinen Füßen. Oh mein Gott!!

Wie ferngesteuert machte ich den nächsten Schritt über die Tortenreste hinweg und stand vor dem Körper. Ich ging in die Hocke. Ganz vorsichtig streckte ich die Hand aus. "Es tut mir leid, so leid, verzeihen Sie, ich habe Sie nicht gesehen? Sind Sie verletzt? Können Sie mich hören? Hallo?"

Die Worte fielen sinnentleert aus meinem Mund, meine Stimme war ein zitterndes Flüstern. Der Körper bewegte sich nicht. Ich sah lange blonde Haare und einen zarten kleinen Körper. `Ich habe ein kleines Mädchen überfahren!´ Helle Lichter der Panik gingen in meinem Kopf an.
Ich packte das Kind an der Schulter und begann es zu rütteln. "Sag doch was, bitte, irgendwas...bitte"

Ich weinte und flehte. Speichel tropfte aus meinem Mund. Durch mein Gerüttel kam der Körper des Mädchens auf den Rücken zu liegen. Ein blasses rundes Gesicht mit offenen starren Augen blickte zum schwarzen sternenlosen Himmel hoch. Nicht älter als zehn oder elf. Unter dem Kinn der Kleinen sah ich eine klaffende offene Wunde, ihre Bluse darunter war dunkel von geronnenen Blut.

Die Situation glitt vollständig ins Absurde. Hatte das Mädchen sich bei dem Zusammenstoß die Kehle aufgeschlitzt? Was machte ein kleines Mädchen überhaupt mitten in der Nacht auf einer gottverlassenen Landstraße? Meine Beine gaben nach und ich plumpste neben dem toten Kind auf den Boden.

Ein weitere Blitz erhellte die Dunkelheit über uns. Erste Regentropfen fielen. Hilfe!
Das war es, was ich jetzt brauchte. Hilfe von außen! Ich kam in Bewegung, drehte mich auf alle viere und kroch zur Autotür zurück. Der Schotter rieb meine Handflächen und Knie schmerzhaft auf. Ich kam zum Wagen, griff hinter den Fahrersitz und holte meine Handtasche heraus. Achtlos warf ich meine Schminkutensilien, meine Brieftasche und all den anderen Kram hinter mich auf den Boden. Ganz unten war es dann. Das rettende Handy.

Das grüne Licht des Displays machte mir neuen Mut. Ich kroch mit dem Handy in der Hand zurück zu dem Mädchen. "Ich hole Hilfe!" sprach ich das Kind an. Der Regen lief über das starre Gesicht des Mädchens wie Tränen. Ich drückte sie SOS Taste und wartete. `Netzsuche - bitte haben Sie einen Moment Geduld´. Ich schluchzte.
 
"Diana - Göttin der Jagd!"  Die Männerstimme traf mich in den Rücken. Mein Schluchzen ging in einen hohen Schrei über. Ich fuhr so schnell herum, dass ich das Gleichgewicht verlor und zur Seite kippte. Der Mann hinter mir war groß und hager. Er stand neben der offenen Fahrertür und ragte über sie heraus wie ein Turm. Die Innenbeleuchtung des Wagens warf  ihr Licht auf ihn. Er hielt meine Brieftasche in der Hand und starrte hinein. Seine Augen waren auf den Inhalt konzentriert, sein Haar hing ihm zerzaust in die Stirn. Ein Blitz am Himmel – ein Blitz in meinen Gedanken.

Der Mörder. Hier stand der Mörder. Ich hatte das Kind nicht überfahren. Dieser Mann hatte dem Mädchen die Kehle aufgeschlitzt und den toten Körper auf meinen vorbeifahrenden Wagen geworfen. Diese Erkenntnis war der Donnerschlag. Ich war allein, mitten in der Nacht, im Nirgendwo. Mit einem toten Kind. Und dem Kindermörder.

Etwas gab nach in meinem Kopf. Ich stürzte in ein schwarzes Loch und war dankbar, dass alles mit einem Mal verlöschte.

Fortsetzung folgt... (HDH)

Online-Flyer Nr. 266  vom 08.09.2010

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