NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 25. April 2024  

Fenster schließen

Allgemein
Keiner fragt nach uns MigrantInnen
Was ist mit meiner Angst?
Von Mukadder Bauer

Mukadder Bauer ist seit vielen Jahren in Deutschland lebende Muslima. Durch das Buch von Thilo Sarrazin sieht sie sich einem aufkeimenden, unterschwelligen Nationalismus und Rassismus gegenüber. Inzwischen macht ihr Angst, wie Thesen wie die des Thilo Sarrazin salonfähig werden. Das ist nämlich nicht unwissenschaftlicher Schwachsinn, es scheint Kalkül von Sarrazin zu sein, auf dieser Woge von Rassismus ein bisschen mitzuschwimmen. Und das macht ihr noch mehr Angst. Und sie schreibt über ihre Angst - sehr persönlich. Die Redaktion.


Breite Zustimmung für Sarrazin und Wichtigtuerei
 
Inzwischen ist es rum. Nach Herrn Sarrazin schafft sich Deutschland angeblich ab. Als es hieß, er stellt sein Buch vor, dachte ich wie viele: „na und?“ Mittlerweile kennt ja jeder seine Sprüche. Es wird ein kurzes Rauschen im Blätterwald geben und alles wird schrumpfen, zu dem, was er ist: populistisches Geschwätz. Natürlich habe ich mich gefragt, warum die Grenzen bis hin zum Rassismus bei ihm so gedehnt werden, wenn er über „Kopftuchtürkinnen“ und „Geburtenrate“ schwadronierte. Ich habe allen Ernstes geglaubt, man würde ihn aus der SPD ausschließen, aus der Bundesbank entlassen. Ich habe daran geglaubt, weil das - noch - mein Bild von Deutschland ist. Vielleicht ist dieses Deutschland schon lange abgeschafft, ich habe es nur nicht gemerkt. Jetzt wird Sarrazin auf den Schild gehoben – als Mann der Klartext redet und damit breite Zustimmung erhält. (1)
 
Anfangs hatte ich noch gehofft, Sarrazin würde ignoriert werden. Die Vorabdrucke im Spiegel und in der Bild, noch mehr jedoch die Reaktionen darauf machten mich jedoch fassungslos, machten mir Angst.Ich habe mir die Kommentarbereiche durchgelesen, in vielen Zeitungen bekam er für seine abstrusen Behauptungen Zustimmung, politische Stimmen gaben ihm in der Sache Recht und bemängelten lediglich den „Ton“.Statt Distanzierung, erntete er Zustimmung. Niemand fragt auch offenbar, wieso ein solches Buch es ins „Haus der Bundespressekonferenz“ schafft und wer ihm dabei geholfen hat. Doch das scheint nur wichtigtuerei, weil diese weit weniger offiziell ist, als sie klingt. (2)
 
Mit Sarrazin reduziert auf „Muslimin“?
 
Seit Sarrazin bin ich neuerdings anscheinend nur noch Muslimin, und sonst gar nichts mehr. Ich hatte mir vorher nie viel über meine Religion Gedanken gemacht. Es war für mich zwar immer ein Teil, aber nicht die prägende Kraft meiner Identität.Verwundert und irritiert verfolgte ich, wie „Islamkritiker“ – nicht nur mir – meine Religion erklärten. So kannte ich sie selber noch nicht. Demnach gehöre ich einer Religionsgemeinschaft an, die sehr gefährlich ist, weil sie sich so gut als friedliche Religion tarnt. Sie ist aggressiv und so terroristisch, dass die Bundesinnenminister deshalb mindestens einmal im Monat warnen, auch wenn nichts konkretes vorliegt, und nur, damit das Thema Terrorismus schön im Gespräch bleibt.



Protest gegen Sarrazins Vorstellung in der "Bundespresse-Konferenz"
Foto: Kappa-Foto

 
Man muss ja für diesen Kampf der Demokratie Verluste hinnehmen, Bürgerrechte abschaffen, Datenschutz aushöhlen, Menschenrechte aufheben – und Kriege führen. Ja, wenn ich das nicht will, kann ich ja gehen! So einfach ist das! Aber haben wir vielleicht nicht seit 9/11 und davor gezeigt, dass wir seit über vierzig Jahren der Migration und des friedlichen Zusammenlebens verdeckt an der Islamisierung in Deutschland, Europa, ja der ganzen westlichen Welt gearbeitet haben? Jede Distanzierung von diesem oder anderen Gewaltakten, waren nicht als Muslime das?

Inzwischen anscheinend verantwortlich für alles
 
Wir sind stellvertretend für alles verantwortlich gemacht, was in muslimischen Ländern passiert, selbst dann, wenn es Reaktionen auf Angriffskriege sind. Spätestens jetzt weiß ich: Muslimen darf man irgendwie alles unbewiesen in die Schuhe schieben.
 
Besonders Menschen, die es eigentlich besser wissen müssten. So wie Necla Kelek, die heute als Sarrazins Sekundantin auftrat und aus seinem Buch vorlesen durfte. Und die fiel unisono in diese Kakophonie ein. Sie, die in einer soziologischen Untersuchung festgestellt, dass ein muslimischer Hintergrund kein Hindernis für Integration ist. Nun stellt sie alles auf den Kopf. Plötzlich waren alle integrationsunwillig, rückständig, frauenfeindlich. Sie als Muslimin muss das ja wissen!
 
Was da läuft, macht mir Angst. Ein Land, das Menschen aus anderen Ländern zwar gern als preiswerte Arbeitskräfte nutzt, aber keine Konzepte entwickelte, um ihre gesellschaftliche Teilhabe zu sichern. Ein Land, das Menschen in abbruchreifen Wohngegenden gesammelt hat, um sie nach getaner Arbeit wieder abzuschieben – aber genau jetzt diesen Zustand kritisiert.
 
Ein Land, das, statt strukturelle Diskriminierung in Schule, Ausbildung und Beruf zu bekämpfen, die Migranten für ihre Diskriminierung selber verantwortlich macht. Das Land, das weder ein Wahlrecht auf kommunaler, geschweige Bundesebene gewährt, und sich im gleichen Atemzug beschwert, das Migranten kaum politisch und gesellschaftlich teilhaben.
 
Ein Land, das nur den Migranten aus Nicht-EU-Ländern eine Staatsbürgerschaft auf Bewährung gibt, weil sie sonst angeblich Loyalitätskonflikte hätten. Ein Land, das in keiner Weise auf die Aufbauleistung und Wirtschaftsleistung dieser Menschen hinweist, die Gesundheit und Leben für dieses Land riskiert haben, und ohne die es die Wirtschaftsmacht Deutschland nicht gegeben hätte. Ein Land, das Migranten über Jahrzehnte das Gefühl gegeben hat, sie wären Menschen zweiter Klasse, erniedrigt mit „Ausländergesetzen“, die das zementieren!
 
Ein Land, das geflissentlich verdrängt, das es ganz Europa in Schutt und Asche gelegt, Millionen von Menschen auf dem Gewissen hat und aufgrund seiner rassistischen Großmachtpolitik erst den Bedarf an Arbeitskräften aus dem Ausland geschaffen hat. Und jetzt sind wir daran schuld ?
 
Unterstützung durch Berliner Bündnis „Rechtspopulismus stoppen“
 
Das Bündnis gegen Rechtspolulismus (3) hatte zur Buchvorstellung zu einer Protestkundgebung aufgerufen. Ursprünglich war es gegründet worden, um gegen die islamophobe „Bürgerbewegung“ Pro-Deutschland zu protestieren. Es kamen schätzungsweise 150 Personen, zum großen Teil vom Bündnis, den Linken, der SPD und auch einigen Grünen.
 
Ich bin Teilnehmern und Unterstützern zutiefst dankbar, dass es uns in unserem Anliegen zur Verteidigung unserer Menschenrechte unterstützt und gegen abstruse Vorstellungen wie die von Thilos Sarrazin protestieren. Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder religiösen Identität anzugreifen oder herabzusetzen ist nichts anderes als Rassismus. (4) Wenn Deutschland nicht aus der Erfahrung gelernt haben sollte, macht mir das Angst. (HDH)
 
_______________________________________________________________
1) http://nachrichten.t-online.de/thilo-sarrazin-mehrheit-gibt-ihm-nach-umfrage-recht/id_20213946/index

2) http://www.bundespressekonferenz.de/content-details.php?108

3) http://rechtspopulismusstoppen.blogsport.de/http:

4)
http://resources.metapress.com/pdf-preview.axd?code=p48h1484q1q67301&size=largest

 


Online-Flyer Nr. 265  vom 01.09.2010



Startseite           nach oben