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Aktueller Online-Flyer vom 18. April 2024  

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Arbeit und Soziales
Über die Zurichtung von Arbeitskraft im Zeitalter des Neoliberalismus, Teil 1/3
Was haben ›Bologna-Prozeß‹ und Hartz IV gemein?
Von Michael Wolf

›Bologna-Prozeß‹ und Hartz-IV-Arbeitsmarktreform stimmen nicht nur in ihrem Ziel überein, sondern auch in ihren auf Kontrolle und Zwang setzenden Methoden. Beide Reformen stellen eine  auf die Herstellung von ›employability‹ zielende Form der Anpassung an die Globalisierung dar, mit der das gesamte soziale Leben gesteuert und staatlich organisiert werden soll. Jeder Arbeitskraftbesitzer soll seine Unterwerfung unter die Bedingungen kapitalistisch-marktwirtschaftlicher Rationalität und die Erfordernisse politischer Machterhaltung selbst betreiben. Hierbei erfolgt der Versuch des totalitären Zugriffs auf die menschliche Subjektivität. Aus einer Vorlesung von Prof. Dr. Michael Wolf. Die Redaktion.
I: Vorrede

Liebe Anwesende,

kurz nachdem der Bildungsstreik vom vergangenen Herbst abgeebbt war, erzählte mir eine meiner Studentinnen, daß der Runde Tisch Hochschulpolitik beabsichtige, eine Alternative Ringvorlesung zum Thema »Privatisierung der Bildung« zu organisieren. Und sie fragte mich, ob ich mir vorstellen könne, mich daran mit einem Vortrag zu beteiligen. Da ich mit dem ›Bologna-Prozeß‹ genannten hochschulpolitischen Putsch von oben erhebliche Schwierigkeiten habe, sagte ich nicht nur spontan zu, sondern erklärte mich darüber hinaus auch bereit, an einem der Vorbereitungstreffen teilzunehmen. Bei jenem Treffen wurde die Frage ventiliert, welche Referenten denn mit welchen Themen für die Vorlesungsreihe in Frage kommen könnten. Da, wie mir schien, über die Themen der übrigen Referenten schon weitgehend Klarheit bestand und ich nicht die Absicht hatte, Sie, liebe Anwesende, erneut mit Überlegungen zu konfrontieren, die Ihnen durch die Beiträge meiner Vorredner bereits in der einen oder anderen Weise geläufig waren, wagte ich mich, einen Vorschlag zu machen, dessen Konsequenzen ich aber nicht so recht zu übersehen vermochte. Ich schlug vor, den Blick etwas auszuweiten und über die Gemeinsamkeiten beziehungsweise den Zusammenhang von ›Bologna-Prozeß‹ und Hartz IV zu referieren. Da mein Themenvorschlag für interessant befunden wurde und allgemein auf Zustimmung stieß, war für mich klar, womit ich mich in der nächsten Zeit verstärkt zu befassen hatte.

Anlaß für meinen Themenvorschlag war ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung aus dem Sommer vergangenen Jahres, in dem Gustav Seibt sich mit der Frage befaßt, ob die Hochschulreform nicht dem gleichen »Geist« (Seibt 2009) entstammt wie die Hartz-IV-Reform. Auch wenn seine Antwort ein unmißverständliches Ja ist, erscheint sie mir dennoch etwas unbefriedigend zu sein. Denn sein Ja begründet er mehr assoziativ denn systematisch. Da aber Seibts Überlegungen durchaus Plausibilität für sich in Anspruch nehmen können, hatte ich mich entschieden, mich mit seiner These etwas intensiver auseinanderzusetzen. Ich ging hierbei von der Erwartung aus, daß ich für eine systematische Begründung der These lediglich Seibts Grundgedanken aufzugreifen und vertiefend zu entfalten hatte. Leider, so muß ich heute sagen, war meine Erwartung höchst unrealistisch, was für das, was ich Ihnen heute präsentieren möchte, nicht ohne Konsequenzen bleiben konnte. Soll heißen, ich möchte Sie bitten, meine Ausführungen als das zu verstehen, was sie sind: nämlich als einen ersten und vorläufigen Versuch, der seine Unabgeschlossenheit weder leugnen kann noch will. Daß die Initiatoren der Alternativen Ringvorlesung mir die Möglichkeit bieten, hier gewissermaßen einen gedanklichen Versuchsballon zu starten, dafür möchte ich diesen ausdrücklich danken.
 


Wer aufgibt...

Wenn ich meine Überlegungen unter den Titel »Über die Zurichtung von Arbeitskraft im Zeitalter des Neoliberalismus« gestellt habe, so um Ihnen zu signalisieren, daß die Beantwortung der Frage nach den Gemeinsamkeiten von ›Bologna-Prozeß‹ und Hartz IV nicht auf direktem Wege zu haben ist durch einen Vergleich beider Reformen. Im Gegenteil, wer die Umbruchstendenzen in der Bildungs- und Sozialpolitik adäquat erfassen und ausreichend erklären will, wird dies nicht können ohne Rückgriff auf die markt- und produktionsökonomischen Restrukturierungsprozesse in den Unternehmen und auf die sie begleitenden politisch-ideologischen Begründungen, wie sie von Seiten der Apologeten des Neoliberalismus geliefert werden. Darüber hinaus ist es erforderlich, sich etwas eingehender mit der Frage zu befassen, inwieweit den veränderten Formen der Arbeits- und Betriebsorganisation auch eine veränderte Subjektivierungsform korrespondiert, worunter hier das Geformtwerden und das Sich-selbst-Formen der Subjekte verstanden werden soll. Und last but not least ist es selbstverständlich unabdingbar, sich der Frage zu widmen, welche Funktion der Bildungs- und Sozialpolitik im Rahmen marktvermittelter Vergesellschaftung zukommt. Lassen Sie mich bitte mit dem letztgenannten Punkt beginnen. Ich werde mich hierbei allerdings darauf beschränken, nur auf jene Aspekte einzugehen, die im hiesigen Kontext wichtig sind.

II: Bildungs- und Sozialpolitik


In einer nach dem Prinzip kapitalistischer Warenproduktion organisierten Ökonomie ist die Sicherung der individuellen Existenz der Arbeitskraftbesitzer strukturell mit Lohnarbeit als dem normalen Modus der Arbeitskraftreproduktion verknüpft. Das heißt, in der Regel sind Arbeitskraftbesitzer gehalten, ihre Arbeitskraft auf einem eigens dafür vorgesehen Markt, dem Arbeitsmarkt, zu verkaufen, um über den Weg des Tausches Arbeitskraft gegen Lohn ihre Reproduktion sicherzustellen. Aus diesem Grund erscheint ihnen die Gefährdung der Tauschvoraussetzungen etwa wegen Arbeitslosigkeit, Krankheit, Behinderung, Alter oder fehlender Qualifikation auch als Gefährdung der Arbeitskraftreproduktion selbst. Da nun, soziologisch gesehen, wenig dafür spricht, daß subsistenzmittellose Individuen ihre Arbeitskraft gewissermaßen spontan oder aber allein aufgrund des »stumme[n] Zwang[s] der ökonomischen Verhältnisse« (Marx 1977: 765) auf dem Arbeitsmarkt zum Kauf anbieten, ist die Lohnarbeiterexistenz eine sozial und kulturell äußerst voraussetzungsvolle Form menschlicher Existenz. Deswegen muß sie auch, wenn sie eine zentrale Rolle bei der Organisation der persönlichen Existenz spielen soll, in aufwendigen Prozessen auf der Ebene der Sozialintegration als »Pflicht normiert« und auf der Ebene der Systemintegration als »Zwang installiert« (Offe 1983: 51) werden.



...hat schon verloren. Demonstrationen gegen Hartz IV und "Bildungsreform"
Fotos: H.-D. Hey - gesichter zei(ch/g)en


Mit Bezug auf diesen Hintergrund können Bildungs- und Sozialpolitik begriffen werden als politisch institutionalisierte Reaktion auf das für kapitalistisch-marktförmig verfaßte Gesellschaften stets prekäre Problem der gesellschaftlichen Verallgemeinerung des Lohnarbeitsverhältnisses. Dieses Problem hat zwei Seiten: Zum einen geht es um die Herstellung der Warenförmigkeit der Arbeitskraft und um die Sicherstellung ihrer Austauschbarkeit, was im sozialwissenschaftlichen Jargon ›Kommodifizierung‹ genannt wird. Dies geschieht a) dadurch, daß Kenntnisse und Fertigkeiten (Stichwort ›Qualifikation‹) vermittelt werden, die auf den konkreten Arbeits- und Produktionsprozeß ausgerichtete sind. Und es erfolgt b) dadurch, daß jene individuellen Verhaltensdispositionen und Einstellungen (Stichwort ›Sozialisation‹) erzeugt werden, die die Arbeitskraftbesitzer zu ihrer sozialen Integration in das System der gesellschaftlichen Arbeit benötigen. Zum anderen geht es um die Rücknahme der Warenförmigkeit, also den der Kommodifizierung entgegengesetzten Prozeß, kurz ›De-Kommodifizierung‹ genannt. Dieser zielt erstens darauf, die Marktgängigkeit von Arbeitskraft wegen vorübergehender Beschädigung (sprich Krankheit) oder wegen unzureichender Qualifikation wiederherzustellen beziehungsweise beständig aufrechtzuerhalten. Und er zielt zweitens darauf, dem Verkaufszwang von Arbeitskraft wegen zeitweiliger oder dauerhafter Entbehrlichkeit (sprich Arbeitslosigkeit beziehungsweise Alter) oder wegen anderweitigem gesellschaftlichen Bedarfs (sprich Aufzucht von Kindern) institutionelle Grenzen zu setzen.

Mit anderen Worten: Kommodifizierung und De-Kommodifizierung sind zwei Seiten ein und derselben Medaille und tragen gemeinsam zur Bewältigung des Problems der Konstitution und kontinuierlichen Reproduktion des Lohnarbeitsverhältnisses bei, und zwar indem sie einerseits die marktförmige Verausgabung von Arbeitskraft ermöglichen und erzwingen und andererseits selektiv Dispens vom Verkaufszwang erteilen. Da dies jeweils mit Mitteln und in Formen und Ausmaßen geschieht, die dem Wandel der politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen geschuldet sind, bedeutet dies, daß sich Bildungs- und Sozialpolitik in Wellen bewegen a) der Ermöglichung beziehungsweise Erzwingung des Tausches Arbeitskraft gegen Lohn (sprich Kommodifizierung), b) der zeitweiligen Aussetzung des Tausches Arbeitskraft gegen Lohn (sprich De-Kommodifizierung) und schließlich c) der Rückkehr zur Erzwingung (sprich Re-Kommodifizierung) des Tausches Arbeitskraft gegen Lohn.
 
Obwohl Bildungs- und Sozialpolitik konstitutiv für die gesellschaftliche Verallgemeinerung des Lohnarbeitsverhältnisses sind, sind sie, vor allem wegen ihrer de-kommodifizierenden Funktion, den Kritikern des Wohlfahrtsstaats stets ein Dorn im Auge gewesen. Denn sie behaupten, die zeitweilige Entbindung vom Verkaufszwang der Ware Arbeitskraft stelle eine Schutzbastion dar gegen Wettbewerb und Leistung, weswegen diese auch geschliffen werden müsse. Dies zeigt sich in aller Deutlichkeit, wenn man die letzten ungefähr vier Jahrzehnte Revue passieren läßt, die in den Sozialwissenschaften für viele der entwickelten kapitalistischen Gesellschaften beschrieben werden als Übergang vom ›keynesianischen Welfare State‹ zum ›schumpeterianischen Workfare State‹. Es würde im Rahmen dieses Vortrags zu weit führen, die Entwicklung dieses Umbruchsprozesses detailliert zu rekonstruieren. Gleichwohl halte ich zum besseren Verständnis meiner These ein paar wenige Bemerkungen für unabdingbar. Teil 2 folgt in der kommenden Woche. (HDH)

Prof. Dr.rer.pol. Michael Wolf, Sozialwissenschaftler, Hochschullehrer für Sozialpolitik und Sozialplanung am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Koblenz. Der Artikel nebst Literaturverzeichnis erschien am 23. August 2010 im »Kritiknetz«. (Kontakt: wolf@fh-koblenz.de)


Online-Flyer Nr. 264  vom 25.08.2010



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