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Aktueller Online-Flyer vom 19. April 2024  

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Literatur
Kurzkrimi der Woche
Schatten
Von Isabella Archan

Wissen Sie, wenn ich mich umdrehe ist ER hinter mir. Immer. In jeder verdammten Sekunde meines nichtswürdigen Daseins steht ER hinter mir und starrt mich an. Von Zeit zu Zeit versuche ich ihn zu überlisten. In meinem kleinen Denken hat sich die Idee breitgemacht, dass ER verschwinden wird, wenn ich ihn nur einmal, ein einziges Mal mit meinen Augen direkt von Angesicht zu Angesicht zu fassen bekomme.

Ha, Ha, hab’ dich!
Sie werden lachen, wenn ich Ihnen erzähle, wie ich versuche ihn zu überlisten. Indem ich meinen Kopf von allen Gedanken freimache, wie bei einer dieser Meditationen, deren Ziel es ist am Ende alles Denken auszuschalten. Im reinen Nichts reiße ich im Bruchteil einer Sekunde meinen Kopf herum. Eine zufällige Bewegung, die ER nicht voraussehen kann. Aber ER ist immer schneller als ich, denkt schneller. Ich drehe mich um und weg ist ER.

Ha, ha, wirklich komisch, finden Sie nicht? Ach ja und neulich, als ich diesen fiesen Streit mit der Obstverkäuferin hatte. Die wollte mir doch glatt zwei Äpfel weniger zum selben Preis wie neulich geben und als ich die Frau darauf ansprach, faselte sie etwas von Preiserhöhung und gestiegenen Transportkosten. Aber nicht mit mir, sagte ich und warf der Frau die Tüte vor die Füße. Die auf den Boden gefallenen Äpfel solle ich aber unbedingt zahlen, schrie sie zurück und ich warf ihr blind vor Wut mein Kleingeld zu den Äpfeln auf die Erde. Dann rannte ich weg. Schnell und wie von Sinnen. Später tat es mir leid und ich schämte mich für meinen Ausraster.

Ich beschloss sie am Abend, kurz vor Ladenschluss nochmals zu besuchen, um mich zu entschuldigen. Und ich wollte für mein hin geschleudertes Geld doch noch meine Äpfel mit nehmen. Ich fühlte mich frei von jeglicher Wut und war fast sogar ein wenig glücklich, denn wegen des Streites mit der Obstverkäuferin hatte ich immerhin für wenige Minuten vergessen, dass ER noch auf mich lauerte.
 
Also, ich warte ab und freue mich, als ich in den Abendstunden wieder im Laden aufkreuze. Meine Obstverkäuferin ist ebenfalls in besserer Stimmung.
Hier die Äpfel zum gleichen Preis wie früher, nur nicht weiter erzählen, sagt sie mit einem Augenzwinkern. Richtig aufgeräumt ist meine Obstverkäuferin an diesem Abend und auch ich fühle mich in einem Hoch.
Doch, wissen Sie, ER ist mir gefolgt.

Denn als meine Obstverkäuferin sich bückt um eine Münze aufzuheben, nimmt ER meine linke Hand und ER schiebt mir wortlos einen Totschläger über die Knöchel. Ich schlage zu, sofort ohne nachzudenken. Es tut gut zu sehen, wie die Frau mit einem leisen Seufzer noch tiefer zu Boden geht, ihre Knie nachgeben und ihr Blut fließt. Ja, jetzt bitte mich nur um Verzeihung, du Schlampe schreie ich wie von Sinnen und trete ihr als krönenden Abschluss noch in den Unterleib. Obwohl ich denke, dass die Frau das nicht mehr spürt. Dann gehe ich raus, mit meinen Äpfeln.

Ha, Ha, guter Deal, was?...
Und danach? Na ja, Ich verschwand in der Dunkelheit und fühlte mich unsagbar heiter. Trotz allem aber nahm ich mir vor, am nächsten Tag wieder zu kommen, um meine Obstverkäuferin um Verzeihung zu bitten. Der Frau sagen, dass ER es doch war. Ich wollte von ihm erzählen. Ich wollte meiner Obstverkäuferin erklären, dass es sein Totschläger war und dass ich die Äpfel richtig gut fand und noch ein Dankeschön für das Angebot das Obst weiter zum alten Preis kaufen zu können. Am nächsten Tag war der Laden geschlossen und ich habe meine Obstverkäuferin nie wieder gesehen. Weiß Gott, es musste der Frau etwas zugestoßen sein.

Traurig, traurig, finden Sie nicht?
Aber ER bleibt bei mir, Tag und Nacht. Wenn die Sonne hell am Himmel steht ist ER schmal wie die Mondsichel, aber wenn die Nacht uns beide überrascht, ist ER fast, wirklich fast ganz für mich zu sehen. So wie jetzt.
Sagen Sie, Können Sie ihn sehen?

Der alte Mann starrt mit großen tellerrunden Augen auf den jungen Mann. Hier im Park ist es in den Abendstunden kühl geworden, aber das allein ist nicht der Grund, warum es den Alten fröstelt. Der alte Mann will aufstehen und weg, nur weg von dieser Bank, weg von dem jungen schmalen Mann. Aus der Dunkelheit des Parks zurück ins Licht, wo sich der Alte wieder sicher fühlen kann. Doch er ist wie gelähmt.

Der alte Mann kann einen Schatten sehen, der noch dunkler ist als die Dunkelheit dieser Nacht und sich langsam über das Gesicht des jungen Mannes schiebt. In diesem Moment meint der alte Mann, in die Tiefe der Hölle zu schauen, so und nicht anders muss die unendliche Schwärze dort sein.

In diesem Moment wären die Muskeln des Alten wieder bereit sich zu bewegen, er könnte jetzt laufen, um sein Leben rennen. Doch die Zeit ist gegen ihn und das Messer bohrt sich tief in seine Eingeweide. Der Schmerz ist gewaltig und grell, doch der alte Mann heißt ihn willkommen. Der Schmerz ist reiner als der Schatten und trägt ihn fort von dem dunklen Nichts, das jetzt den jungen Mann einhüllt. Der Alte kippt langsam zur Seite und kann den Schatten aus einer seltsamen verdrehten Perspektive sehen.

Langsam wie zäher Schleim zieht sich der Schatten zurück und vereint sich mit den anderen Umrissen im dunklen Park. Der junge schmale Mann, der aufsteht und langsam weiter geht ohne sich um den verblutenden Alten zu kümmern, wirkt wieder fast wie jedermann. Durchschnittlich, nett, normal. Nach wenigen Schritten reißt der junge Mann seinen Kopf zur Seite und schreit.:

„Hab dich!“
Der junge Mann wartet, zögert. Doch dann zuckt er bedauernd mit den Schultern und geht weiter. Als der Alte stirbt, dankt er Gott, dass es keinen Schatten im Licht am Ende des Tunnels gibt. (HDH)



Online-Flyer Nr. 262  vom 11.08.2010

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