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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Literatur
Kurzkrimi der Woche
Einfach böse – 1.Teil
Von Isabella Archan

Guten Abend, liebe Leserin und lieber Leser – atmen Sie tief ein und langsam aus – entspannen Sie sich – gehen Sie mit mir auf eine Reise in die Welt Ihrer Vorstellungskraft:

Stellen Sie sich vor,
 
Sie sind ein alter Mann und allein in dem alten einsamen Haus.
Es ist kurz vor Mitternacht. Sie haben eben das Licht gelöscht und sich die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Draußen hat der erste Frühlingsregen aufgehört und außer vereinzelten einsamen Tropfen ist es nächtlich still.
 
Nebel liegt vor dem Fenster, ein dicker Polster aus kondensiertem Wasser und verborgenen Wünschen. Sie spüren die Feuchtigkeit und den Frühling in Ihren Knochen ziehen und Sie hassen es, alt zu sein, so verdammt alt. Ihr Geist driftet schon über die Grenze hinüber zum Schlaf, dem kleinen Bruder des Todes, ach wie Sie diesen Vergleich lieben. Sie gleiten den Träumen entgegen und die Träume breiten ihre mächtigen Arme aus um Sie aufzunehmen, einzunehmen, zu verschlingen.


Ihr altes Haus mit seinen Erinnerungen und Staubmäusen knarrt noch etwas, begibt sich aber dann auch zur Ruhe. Und wie auf Knopfdruck entsteht ein Bild vor Ihren geistigen Augen. Das Bild, das Sie jeden Abend in den Schlaf begleitet. DAS MÄDCHEN kommt Ihnen entgegen, DAS MÄDCHEN, das Sie lieben und verehren, nach dem Sie sich verzehren und sich sehnen. DAS MÄDCHEN breitet SEINE Arme aus, ein strahlendes Lächeln auf SEINEN roten Lippen, so rot wie frisches Blut, noch vor dem ersten Frühlingsmorgen vergossen. 

Dann zerreißt diese Stille.

Ihr sanfte Hinübergleiten wird zerschnitten von dem grausamen hellen Ton der Türglocke, der Sie fast zu Tode erschreckt. Ihr Herz setzt eine Sekunde aus, dann beginnt es wie rasend zu schlagen.

Wer zum Teufel ist da, an Ihrer Tür, um diese Zeit? Wer verdammt hat den Weg in Ihre Einsamkeit gefunden? Wer wagt es, Sie aus Ihren Träumen von DEM MÄDCHEN zu reißen? Niemand darf Ihre Träume von DEM MÄDCHEN zerstören, wenn er nicht selbst zerstört werden will. Schon brennt Ihr Hass, Sie fühlen eine tiefe Wut.
 
Keine Angst, nein, Angst kennen Sie nicht, noch nicht, Angst ist etwas für die Memmen, die Schwachen und Willenlosen. Sie haben Willen, oh ja und Sie sind furchtlos, obwohl Ihr Herz jetzt pocht bis zum Hals, Sie können es hinter Ihren geschlossenen Augenlidern trommeln hören. Wieder zerreißt der schrille Ton die nächtliche Kulisse und jetzt sind Sie vollkommen wach.
Wer zum Teufel noch mal klingelt da?

Stellen Sie sich vor,

wie Sie da liegen mit pochenden Herzen, sich einfach tot stellen und abwarten, ob der nächtliche Besucher weggeht, wer immer er ist und was er auch immer vor Ihrer Haustür zu suchen hat. Das Haus ist alt, es liegt einsam und wirkt verfallen, es könnte auch unbewohnt sein. Sie warten. Die Zeit streicht an Ihrer Nasenspitze vorbei, schon wollen Sie aufatmen, ausatmen. Umsonst.

Das nächste Klingeln. Länger und aufdringlicher als die ersten beiden Male.

Ihnen dämmert, dass der Fremde nicht weggehen wird von Ihrer Schwelle, er wird ausharren und bleiben, denn er weiß, dass Sie da sind. Dessen sind Sie sich mit einemmal sicher. Er hat draußen gelauert, hat Sie beobachtet, vor dem Haus, vor dem Fenster, bis Sie das Licht gelöscht und sich in Sicherheit gewiegt haben, dann hat er zugeschlagen, hat auf die Klingel gedrückt.
Er hat Sie gefunden, aufgespürt, entdeckt in dieser Einöde, nach all den Jahren des Rückzugs und der Flucht. Ist heute die Nacht einer Vergeltung? 
Zum Teufel damit! Sie wischen die paranoiden Gedanken fort, jetzt heißt es handeln.

Mit einer Schnelligkeit, die Ihnen in Ihrem Alter niemand mehr zutraut, sitzen Sie aufrecht im Bett, das Laken rutscht nach unten, Ihre nackten Füße berühren schon den kalten Boden. Ihr linker Zeigefinger drückt den Schalter der Lampe, grelles Licht durchflutet das Zimmer, die Dunkelheit weicht erschrocken zurück in den Nebel vor das Fenster. Ihre Augen brauchen einen Wimpernschlag um sich an das Licht wieder zu gewöhnen. Ihr Einatmen rasselt durch ihre Lungenflügel, Ihre Stimmbänder spannen sich an.

Das Klingeln setzt wieder ein.

„Hören Sie auf, Mann, ich bin gleich unten!“ Das ganze Haus duckt sich unter der Wucht Ihrer Worte. Sie hoffen, dass Ihr rüder Ton, Ihre heisere Wut den Fremden vor der Tür erschreckt, ja vielleicht jetzt schon zum Aufgeben bewogen hat.

Das Klingeln reißt tatsächlich ab.

Ruhe unten. Blanke Ruhe jetzt auch in Ihrem Herzen. Ihr Körper spult sein uraltes Programm ab. Rein in den Morgenmantel, das Messer unter dem Kopfkissen hervorgeholt, es in der linken Manteltasche verschwinden lassen, immer links, das ist Ihre schnelle Hand, die Füße in die zerschlissenen Turnschuhe. Die knarrende Treppe nach unten, durch das dunkle Wohnzimmer in den Flur, weiter an der Küche vorbei.
 
Trotz der Eile werfen Sie einen schnellen Blick in die nächtliche Küche auf die Truhe, die große weiße Truhe an der hinteren Mauer, zwischen Spüle und Herd, die selbst im Dunklen schimmert. Der Deckel ist geschlossen, Sie haben vor dem Zubettgehen den Deckel geschlossen, gut so, in letzter Zeit waren Sie vergesslich geworden.
 
Doch heute Nacht sind Sie fast wieder der Alte, nein DER von früher.
Sie stampfen weiter durch den Flur, Licht an über der Eingangstür, dieses Licht dort ist trübe und gelb. Die Sicherheitskette weg, das Messer in der Tasche ist Sicherheit genug, erstes Schloss auf, zweites Schloss, Schlüssel einmal, zweimal, dreimal rum – Sie öffnen die Tür mit einem Ruck und stehen dem nächtliche Besucher gegenüber. „Hallo!“

Stellen Sie sich vor! ER ist eine junge Frau. Eine sehr junge Frau. Blass, blond, groß und nass vom letzten Regen. Ihr altes Herz rast mit einemmal wieder, diesmal nicht vor Schrecken.
‚Steh still mein pochendes Herz!’

DAS MÄDCHEN! DAS MÄDCHEN ist aus Ihren Träumen entstiegen und ist mit der Frühlingsnacht und dem Nebel wiedergekommen. Ihre Instinkte schalten wieder schneller als Sie bewusste denken können. Ihre Finger schließen flink den Bademantel, Ihre schnelle Linke schießt nach oben zu Ihrem Kopf und streicht die grauen Haare glatt, Ihr Mund formt ein sympathisches Lächeln. Ihr Schultern gehen nach unten, Sie mimen jetzt den gebrechlichen alten Mann, der doch nur Angst vor dem nächtlichen Gespenst des Todes hatte.

„Ja, mein Kind?“ Wie weich Ihre Stimme wird, wie einladend. „Ist etwas passiert, mein Kind, brauchen Sie Hilfe?“ „Ich hatte einen Unfall!“ Die Stimme der jungen Frau zittert. „Ich bin von der Straße abgekommen… Der Regen, der Nebel. Mein Auto,.. hinter der Kurve, ich bin in den Graben gerutscht. Es ist zu schlammig, zu nass, ich kann alleine nicht… Mein neues Auto, Scheiße!“

Eine Träne läuft über IHRE weiße Wange.  „Kein Netz, es gibt kein Netz hier, ich konnte mein Handy nicht….und Ihr Haus war das einzige und ich wusste nicht….ich muss telefonieren, bitte, und…“ Die Stimme versagt der jungen Frau und SIE senkt den Kopf. Stellen Sie sich vor, wie Sie beide jetzt da stehen, dieses pulsierende junge Leben und Sie, alter Mann, an der Schwelle zum Tod nur von den Fäden Ihrer Erinnerungen am Leben erhalten. „Kommen Sie doch herein, mein Kind!“ Sagen Sie.

Alles ist auf einmal klar. DAS MÄDCHEN ist wieder da. DAS MÄDCHEN ist zu Ihnen zurück gekehrt. DAS MÄDCHEN will es so wie Sie es wollen, das können Sie jetzt  fühlen, fühlen es wieder nach so langer Zeit. Alle wollten es, alle diese MÄDCHEN, diese vielen, vielen MÄDCHEN. Während Sie zusehen wie die junge Frau in den dunklen Stunden dieser ersten Frühlingsnacht langsam, vorsichtig und zitternd Ihr einsames Zuhause betritt, merken Sie wie auch über Ihre alte runzelige Wange eine Träne läuft.
 
Eine Träne der Dankbarkeit. Heute Nacht müssen Sie sich keine Bilder mehr zurückträumen, heute Nacht ist Showtime! Sie schließen die Tür, den Schlüssel einmal, zweimal, dreim……ach zum Teufel, das reicht. Später werden Sie die weiße Truhe in Ihrer Küche öffnen. Neuen Platz schaffen, zwischen dem Fleisch und dem Gemüse und den Erinnerungsstücken, die Sie so sorgfältig über die Jahrzehnte gesammelt und tief gefroren haben.

Später werden Sie sauber machen, der Geruch von Blut beißt sich sonst in dem alten Haus und Ihrer alten Nase fest. Wenn alles gut läuft werden Sie morgen, wenn es wieder trocken ist, das Auto der jungen Frau finden und es aus dem Graben fahren können. Sie werden es weg bringen, weit weg von hier. Wenn es läuft wie früher, werden Sie wieder Glück haben, wieder davon kommen.  Wenn alles vorbei ist, werden Sie müde sein. Vergessen Sie nicht, Sie sind alt. Immer noch gefährlich, aber alt.
 
Alt zu werden ist immer noch die einzige Möglichkeit, lange zu leben.
Stellen Sie sich vor!!

Fortsetzung folgt... (HDH)

Online-Flyer Nr. 260  vom 28.07.2010



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