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Aktueller Online-Flyer vom 25. April 2024  

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Inland
"Auf dem Weg zum Jugendintegrationskonzept"
Etwas Besseres als Gefängnis
Von Klaus Jünschke

In der Jugendhilfe ist nicht mehr selbstverständlich, dass für alles, was Kinder und Jugendliche tun, in erster Linie die Erwachsenengesellschaft die Verantwortung zu übernehmen hat. Die Etikettierung von Jugendlichen als „Komaschläger“ oder  „Monsterkids“ in den Boulevard-Zeitungen stehen für das Bemühen, sich dieser Verantwortung zu entledigen.  Die Übernahme der polizeilichen Kategorie „Intensivtäter“ durch Teile der Jugendhilfe zeigt, dass das auch gelungen ist.

„Koma-Schläger“ kommt mit Auflagen davon“


– KStA-Schlagzeile zu diesem Foto -
Bildunterschrift: “Erdinc S. verlässt den
Gerichtssaal ungestraft.“
Foto: Bause im Kölner Stadt-Anzeiger
Erving Goffman gab schon mit seiner 1963 erschienenen Studie „Stigma. Über Techniken zur Bewältigung beschädigter Identität“ zu bedenken, dass es Personenkategorien gibt, „die von den „Forschern der Gesellschaft erst geschaffen und dann von ihnen studiert wurden.“ Und er sagte weiter: Ich glaube nicht, dass alle Abweichenden genug Gemeinsamkeiten haben, um eine spezielle Analyse zu rechtfertigen; weit mehr unterscheidet sie voneinander, als sie Gemeinsamkeiten haben…“.

Verdrehungen

Durch Medien, Politik und Polizei ist ein Bild vom die Straßen verunsichernden „Kriminellen“ geschaffen worden, das ihn als jung, fremd und arm präsentiert. Tatsächlich werden die meisten und schlimmsten Taten von Erwachsenen verübt, die gerade bei Gewaltdelikten in der Regel keine Fremden sind, sondern aus dem sozialen Nahraum kommen, oft aus der eigenen Familie. Die Straße ist daher auch nicht der gefährlichste Ort in unserer Gesellschaft, es sind die eigenen vier Wände. Der materielle Schaden, den die sogenannten „weißen Kragen-Täter“ anrichten, ist um ein vielfaches größer, als von allen armen Dieben, Einbrechern und Räubern zusammen genommen.

Kriminalitätsfurcht

Was Kriminologen in den letzten Jahren immer wieder erklärten, hat im Frühjahr 2009 auch Bundesinnenminister Schäuble bei der Präsentation der Polizeilichen Kriminalstatistik mitgeteilt: die Zahl der durch Strafanzeigen bekannt gewordenen Delikte ist gesunken. Wie es dennoch zu einer von der realen Entwicklung abgekoppelten wachsenden Kriminalitätsfurcht kommen konnte, muss wiederum auf den Dramatisierungsverbund von populistischen Journalisten, Politikern und Sicherheitsexperten rückbezogen werden. So ist in den letzten vier Jahrzehnten die Zahl der Morde an Kindern über die Hälfte gesunken, aber die Berichterstattung über diese Delikte hat sich vervielfacht.

Zahlen

Die Präsentation der Polizeilichen Kriminalstatistik bringt in jedem Frühjahr die Meldung von Millionen festgestellter Straftaten. Diesen gigantischen Zahlen entspricht keine Vorstellung davon, wie viele Menschen aus der eigenen Stadt oder dem eigenen Landkreis in Haft sind. In der Millionenstadt Köln z.B. waren im Frühjahr 2009 keine zehn Jugendliche unter 18 Jahren inhaftiert. Sich mit der Anzahl der Inhaftierten aus der eigenen Stadt zu beschäftigen, kann  zur Entdramatisierung der Kriminalitätsberichterstattung beitragen und Kriminalitätsfurcht abbauen helfen. Die kleinen Zahlen machen deutlich, dass wir es beim Thema „Jugendkriminalität“ nicht mit sozialen Konflikten zu tun haben, die nicht mehr zu bewältigen sind.


Anmerkung zum Thema vom Kölner Kabarettisten Richard Rogler

Sich vertraut zu machen mit der kleinen Zahl von kriminalisierten Jugendlichen und Heranwachsenden aus der eigenen Gemeinde, vermittelt,  dass es möglich ist, mit noch mehr ambulanten Interventionen auch diese Zahl weiter zu senken.
In Nordrhein-Westfalen hat die Landesregierung beschlossen, für die ca. 500 Jugendlichen im Alter von 14 bis 17, die jährlich in Untersuchungshaft kommen, Haftvermeidungsplätze zu schaffen.
In Nordrhein-Westfalen sind 20% aller inhaftierten Jugendlichen und Heranwachsenden im Offenen Vollzug, im Bundesdurchschnitt nur 10%.  Warum ist der Offene Vollzug nicht längst Regelvollzug für alle? In der Weimarer Republik hat Justizminister Gustav Radbruch erklärt, dass wir keine besseren Gefängnisse brauchen, sondern etwas Besseres als das Gefängnis.
Wie müsste eine Gesellschaft aussehen, die keine Gefängnisse nötig hat? Die soziale Zusammensetzungen der Gefangenen – männlich, arm, bildungsbenachteiligt, misshandelt, süchtig und oft mit Migrationshintergrund – zeigt, welche Strukturen überwunden werden müssen.

Die Perspektive der Jugendlichen

In den vergangenen Jahren sind viele Studien entstanden, die auf narrativen Interviews mit straffällig gewordenen Jugendlichen basieren. Die Jugendlichen  wurden als Experten für ihre eigene Biographie angehört und in den Studien kommen sie ausführlich zu Wort. Anschaulich wurde damit immer wieder vermittelt, dass man als Straftäter nicht geboren, sondern dazu gemacht wird.

Wo sind diese Jugendlichen als Experten für den Prozess der Kriminalisierung nach der Haft gefragt? Wieso werden nicht wenigstens einige von ihnen zu gut bezahlten Assistenten der Street-Worker ausgebildet, die in den Stadtteilen unterwegs sind?

In der Jugendhilfe haben Anträge auf Projektförderung nur eine Chance, wenn deutlich gemacht wird, dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen im Projekt beteiligt werden und es mitbestimmen können. Bei straffällig gewordenen Jugendlichen hört man aber auch nach der Entlassung mehr von Kontrolle als von Partizipation.

Die Zelle

Die Zelle in den Jugendgefängnissen steht für das genaue Gegenteil von Partizipation. Das Eingesperrtsein in ihr vermittelt Ohnmacht und produziert Misstrauen, Angst, Hass und Resignation.

Auch davon gibt es in unserer Gesellschaft keinen Begriff, weil es völlig undiskutiert ist, was es bedeutet, dass junge Menschen in einem Raum eingesperrt sind, der auch schon im Kaiserreich, in der Weimarer Zeit und im Nationalsozialismus dazu diente, junge Leute zu inhaftieren.

Ein schwäbisches Sprichwort sagt, dass der Raum der dritte Lehrer ist und zwar nach den Mitschülern und der Lehrerin bzw. dem Lehrer. In der Diskussion um die Jugendstrafvollzugsgesetze wurde der Raum – also hier die Zelle – in seiner Bedeutung als „Lehrer“ überhaupt nicht reflektiert. Allenfalls hört man Empfehlungen über die Zahl der maximalen Haftplätze in einer JVA oder die Größe von Wohngruppen.


In der „Schlichtzelle“ kann nicht bewegt
werden, weder der Stühl noch das Bett
noch der Tisch.
Die Jugendlichen sind in Köln in einem Hochsicherheitsgefängnis untergebracht, das in den 60er Jahren gebaut wurde – lange vor Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes und lange vor der Debatte um die pädagogische und therapeutische Neugestaltung des Jugendvollzuges. Die Diskussion um die Käfighaltung von Tieren ist heute weiter, als es damals die Überlegungen zur Unterbringung von Gefangenen waren. Sie finden daher selbst unter den Menschen, die in der JVA Ossendorf arbeiten, niemanden, der dafür wäre, ein Gefängnis dieser Art noch einmal zu bauen. Es ist weder für die Menschen, die dort zwangsweise sind noch für die Menschen, die dort arbeiten, ein akzeptabler Ort. Die JVA Ossendorf gehört abgerissen. Die Unterbringung in diesen Zellenhäusern ist nicht jugendgerecht und trägt dazu bei, dass sechzig bis achtzig Prozent der Jugendlichen rückfällig werden, dass sie brutalisiert werden. Das ist der „heimliche Lehrplan“ solcher Einrichtungen.

Das Bundesverfassungsgericht verlangt vom Jugendstrafvollzug Vorkehrungen, die Jugendliche vor wechselseitigen Übergriffen schützen. In der Nr. 28 der Regeln der Vereinten Nationen für Jugendliche in Freiheitsentzug heißt es: „Dabei ist sicher zu stellen, dass Jugendliche vor schädlichen Einflüssen und gefährlichen Situationen geschützt werden.“


Für die Jugendlichen in den JVAs Ossendorf und Siegburg sammelte der Kölner Appell über hundert kleine und große Fernseher
Fotos: Klaus Jünschke

Nach dem Tötungsdelikt in der JVA Siegburg, bei dem ein Gefangener von drei Mitgefangenen zu Tode gequält wurde, ist der Neubau und die Erweiterung von Jugendgefängnissen in Nordrhein-Westfalen beschlossen worden. Jeder Gefangene soll ein Recht auf Unterbringung in einer Einzelzelle haben. Dass die Unterbringung in einer Zelle selbst ein Übergriff ist, blieb völlig unerörtert.

Bernhard Bueb, der ehemalige Leiter des Internats Salem, sagte in der Sendung Westart am 4.2.2007: „Die Jugendlichen in Haft haben dasselbe Recht auf eine gleich gute Erziehung wie die Jugendlichen in Salem. Der Weg mit Straftätern sollte ein ganz normaler pädagogischer Weg sein. 23 Stunden Einsperren in eine Einzelzelle ist für einen Menschen in der vitalsten Phase seines Lebens jenseits aller Menschlichkeit."

Im Sommersemester 2009 musste Wolfgang Klein, der Leiter der JVA Siegburg in einer Veranstaltung der DVJJ Rheinland in der Universität Köln berichten, dass in der Jugendstrafanstalt Siegburg auch zwei Jahre nach der Tötung von Hermann Heibach immer noch über 20 % aller inhaftierten Jugendlichen und Heranwachsenden ohne Beschäftigung sind. In der Untersuchungshaft für Jugendliche in der JVA Wuppertal waren zur selben Zeit 50% der Inhaftierten ohne Arbeit und ohne Ausbildung auf der Zelle.

Abschiebung

Umfragen aus dem vergangenen Jahrzehnt haben immer wieder ergeben, dass über zwei Drittel der Wählerinnen und Wähler aller Parteien für die Abschiebung von straffällig gewordenen Menschen ohne deutschen Pass sind. Die jahrzehntelange Weigerung, anzuerkennen, dass die Bundesrepublik Deutschland ein Einwanderungsland geworden ist, hat u.a. dazu geführt, dass Menschen glauben, Kriminalität sei eine Ausländereigenschaft.

In der Polizeilichen Kriminalstatistik für 2007 auf der Homepage des Bundeskriminalamtes findet man auf Seite 116 die Nichtdeutschen Tatverdächtigen nach dem Anlass des Aufenthaltes differenziert. Danach waren von den 2007 insgesamt festgestellten nichtdeutschen Tatverdächtigen 12% illegal und 88% legal. Die Nichtdeutschen mit einem legalen Aufenthaltsstatus werden wie folgt differenziert: 17,3 % Arbeitnehmer, 7,1 % Asylbewerber, 8,3 % Schüler und Studenten, 7,2 % Touristen/Durchreisende, 3 % Gewerbetreibende, 0,6 % Angehörige der Stationierungsstreitkräfte, und 44,5 % werden unter der Kategorien Sonstige zusammengefasst. In einer Fußnote wird erläutert, was unter diesen Sonstigen zu verstehen ist: z.B. Erwerbslose, nicht anerkannte Asylbewerber mit Duldung, Flüchtlinge, Besucher und andere Personengruppen.  

Über den damit belegten Zusammenhang zwischen Aufenthaltsstatus und Kriminalisierung  kann im ersten Periodischen Sicherheitsbericht von 2001 nachgelesen werden: „Die Deliktbegehung hängt mit dem Aufenthaltsstatus und dessen Folgen für die Integrationschancen zusammen. Prävention ist vor allem durch Integration, z. B. Bildungsförderung und Sprachkurse, zu erreichen.“

Dieser Einsicht folgen muss die Abschaffung der Abschiebung von straffällig gewordenen  Menschen, die in der Bundesrepublik ihren Lebensmittelpunkt gefunden haben. (PK)

Klaus Jünschkes Beitrag zum Thema Jugendstrafvollzug stammt aus dem Buch "Auf dem Weg zum Jugendintegrationskonzept - Grundlagen und Herausforderungen angesichts veränderter Lebenslagen junger Menschen“ von Christine Müller, Franziska Schulz, Ulrich Thien. Herausgegeben von der Landesgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit Nordrhein-Westfalen, Bd. 26, 368 S., 24.90 EUR, br., ISBN 978-3-643-10510-3

Zusammen mit Christiane Ensslin und Jörg Hauenstein hat Klaus Jünschke 2007 das Buch "Pop Shop – Gespräche mit Jugendlichen in Haft“ im konkret-Verlag veröffentlicht. 240 Seiten, gebunden mit zahlreichen Fotos, 16 Euro, 28 SFr., ISBN 978-3-89458-254-8.


Online-Flyer Nr. 236  vom 10.02.2010

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