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Aktueller Online-Flyer vom 19. April 2024  

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Arbeit und Soziales
Der Entwurf für eine autoritäre Gesellschaft? Teil 1/3
Soziale Marktwirtschaft
Von Herbert Schui

Soziale Marktwirtschaft ist ein äußerst suggestiver Begriff – und eine sehr erfolgreiche Formel. Viele Politiker und Gewerkschafter wollen sie wiederherstellen, berufen sich auf sie oder halten sie für eine vielversprechende Exportidee. Grund genug also zu klären, was es mit der politischen Parole von der Sozialen Marktwirtschaft auf sich hat und aus welchem Grund sie in der Nachkriegszeit lanciert wurde.

Soziale Marktwirtschaft ist die politische Parole der Ordo-Liberalen, einer Gruppe von Wirtschaftswissenschaftlern, die sich um 1930 in der Freiburger Schule zusammenfand. 1) Anfänglich wurde sie repräsentiert von Eucken,

Rechts: Alfred Müller-Armack
Quelle: Bundesarchiv
Böhm und Grossmann-Doerth. Andere bekannte Namen sind Müller-Armack und Erhard. Der Ordo-Liberalismus, darüber herrscht Einvernehmen, ist der deutschen Begründer des Neoliberalismus. Der Gegner der Ordo-Liberalen ist der Interventionsstaat, der totale Staat, wie Eucken dies in einer Publikation 1932 2) genannt hat. Zweck des Staates im Sinne der Ordo-Liberalen ist, die Rahmenbedingungen zu gewährleisten, so den freien Wettbewerb und das Privateigentum. 3) In diesem Rahmen ist für den Ordo-Liberalismus die wirtschaftliche Intervention des Staates dann zulässig, wenn sie „marktkonform“ erfolgt, den Markt also unterstützt, ihn aber nicht ersetzt. Damit wird es auch zur staatlichen Aufgabe, Wettbewerb aktiv zu veranstalten. Vollständige Konkurrenz ist das Ziel. Ergänzt werden sollen Markt und Wettbewerb durch Sozialpolitik.

1. Der politische Zweck der Sozialen Marktwirtschaft: Den Kapitalismus retten

Müller-Armack, er hat den Begriff der Sozialen Marktwirtschaft geprägt, war in der Nachkriegszeit Professor in Köln und gleichzeitig Staatssekretär für Grundsatzfragen im Wirtschaftsministerium. Er hatte die Ideologie zu liefern, die helfen sollte, den Kapitalismus – trotz der antikapitalistischen Stimmung der Nachkriegszeit – in die neue Ära hinüberzuretten. Dies ist die Grundlage für die Einzelfragen, die an das Konzept „Soziale Marktwirtschaft“ zu stellen sind. Zweck dieser Parole ist, der vorherrschenden Stimmung entgegenzukommen, ohne dabei im Kern den Kapitalismus preiszugeben. Deswegen wird der Begriff ‚Kapitalismus‘ mit einem Tabu belegt, an seine Stelle tritt die Bezeichnung ‚Marktwirtschaft’. Müller-Armack schreibt dazu: „Man (hat) es wenigstens im deutschen Sprachbereich wohl mit Recht vermieden, das Wort ‚Kapitalismus‘, das emotionsbelastet ist und im übrigen zur Sache wenig sagt, durch den neutraleren Begriff (…) der Marktwirtschaft zu ersetzen. Kapitalverwertung ist weder historisch auf den Kapitalismus begrenzt, noch in den sozialistischen Wirtschaften unbekannt.

In dem angelsächsischen Sprachkreis wird dieses Wort weiter verwendet, freilich nicht zum öffentlichen Vorteil, da die Entwicklungsländer sich bestärkt fühlen, diesen Terminus mit seinem emotionsgeladenen Inhalt weiter zu gebrauchen.“ 4) In der Tat ist im deutschen Sprachgebrauch

Ludwig Erhard
Quelle: Bundesarchiv
  „Marktwirtschaft“  statt „Kapitalismus“ vorherrschend. Wahrscheinlich verdanken wir es nicht zuletzt dem „angelsächsischen Sprachkreis“, dass gegenwärtig wieder vermehrt von Kapitalismus die Rede ist. Dass „Kapitalismus“ „ zur Sache wenig sagt“, ist eine sehr gewagte These. Denn ‚Marktwirtschaft’ spricht nicht mehr das gesellschaftliche Verhältnis an, das den Kapitalismus auszeichnet. Dieser Ersatzbegriff für Kapitalismus kann nur noch vage zwischen Gesellschaftsformation unterscheiden: Der Markt ist älter als der Kapitalismus, und die Frage ist, zurückhaltend formuliert, offen, ob erst vom Kapitalismus an von Marktwirtschaft die Rede sein kann. Aber wie auch immer: „Sozialer Kapitalismus“ taugt als politische Parole nicht.

Entscheidend für das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft sind zwei Forderungen, nämlich der vollständige Wettbewerb und die sogenannte irenische Formel. In einem theoretischen Sinn führt vollständiger Wettbewerb die Vorstellungen der Neoklassik weiter: Er ist in diesem Kontext das bestmögliche Informationssystem, er sorgt im Sinne der Neoklassik dafür, dass die Ressourcen (Kapital, Arbeit usw.) ihrer effektivsten Verwendung zugeführt werden. Aber nicht diese Debatte ist zu führen, wenn es um das politische Verständnis der Sozialen Marktwirtschaft geht: Der Zweck der vollständigen Wettbewerbs soll vielmehr sein, den Einfluss der Privatwirtschaft auf den Staat auszuschalten. Bei vollständigem Wettbewerb sind die Unternehmen zu klein, um auf den Staat Druck ausüben zu können. Das sollte die Alternative sein zu der Nachkriegsforderung, die Großunternehmen in Gemeineigentum zu überführen, sie also öffentlich zu kontrollieren, statt es zuzulassen, dass sie schließlich den Staat kontrollieren.

Da aber vollständiger Wettbewerb eher ein Ideal ist als ein realistisches Endziel, die Aufgabe der Politik also darin besteht, die Wirklichkeit sich diesem Ideal möglichst anzunähern, steht immer eine Entschuldigung bereit, wenn es mit dem vollständigen Wettbewerb hapert. Die Forderung nach Vergesellschaftung aber kann damit vom Tisch gebracht werden, ohne dass man sich vor der Frage nach dem politischen Einfluss der Privatwirtschaft gedrückt hätte. Zu betonen ist, dass die Soziale Marktwirtschaft vollständigen Wettbewerb nicht nur auf den Gütermärkten, sondern auch auf dem Arbeitsmarkt vorsieht. Für Gewerkschaften, ein Angebotsmonopol auf dem Arbeitsmarkt, ist da wenig Platz.


Herbert Schui
Quelle: DIE.LINKE
Die zweite Forderung, die irenische Formel, versucht, „die Ideale der Gerechtigkeit, der Freiheit und des wirtschaftlichen Wachstums in ein vernünftiges Gleichgewicht zu bringen“, 5) oder kürzer, wirtschaftliche Effizienz mit sozialem Ausgleich zu verbinden. 6) Die Bezeichnung „soziale Irenik“ wurde 1950 von Müller-Armack in das Konzept der Soziale Marktwirtschaft eingeführt. 7) Sozialer Ausgleich ist notwendig, weil die Einkommensverteilung auf dem Markt zu nicht vertretbar niedrigen Einkommen führen könnte, den höheren Bedarf der Familialen nicht berücksichtigt und allgemein individuelle Notlagen nicht beachtet. Es ist allerdings ein Missverständnis zu meinen, dass sich die soziale Marktwirtschaft gegenüber anderen Ausprägungen des Kapitalismus durch eine deutliche Orientierung am Interesse der abhängig Beschäftigten auszeichnete, so am Ziel der sozialen Sicherheit, der Vollbeschäftigung und eines hohen Lebensstandards.

Nicht das ist die leitende Idee, sondern die „irenische Formel“ bzw. „die soziale Irenik“ als „Prinzip des sozialen Ausgleichs“ 8)  bzw. als „gesellschaftpolitische Versöhnungsbotschaft“ 9). Signalisiert wird die Bereitschaft zum Kompromiss, nicht aber will die Soziale Marktwirtschaft, wie etwa der Linkskeynesianismus, den Lebensstandard der Arbeitenden wirtschaftstheoretisch klar begründet orientieren an der Arbeitsproduktivität, d.h. An dem, was objektiv möglich ist. „Sozialer Ausgleich“ ist erreicht, wenn sich alle zufrieden geben, also niemand mehr ernsthaft den Kapitalismus in Frage stellt. Was dabei für Arbeit und Soziales herauskommt, kann weniger sein als das, was die Arbeitsproduktivität tatsächlich hergibt – in einem hypothetischen Extremfall auch mehr. Die Frage danach, ob die wirtschaftlichen Möglichkeiten objektiv vernunftgeleitet genutzt sind, wird nicht mehr gestellt. An ihre Stelle tritt, ob – subjektiv -  Zufriedenheit herrscht.

Unter dem Gesichtspunkt der Bewahrung des Kapitalismus sind beide Forderungen äußerst wichtig: die vollständige Konkurrenz, um den privatwirtschaftlichen Einfluss auf den Staat zu verhindern, und die Irenik als befriedende Sozialpolitik. Bei aller notwendigen theoretischen Würdigung der Sozialen Marktwirtschaft sollte dieser praktisch-politische Aspekt stets im Vordergrund bleiben. Soziale Marktwirtschaft hatte einem Machtinteresse zu dienen: Sie sollte die Fortführung des Kapitalismus ermöglichen, erleichtern. Das war die Aufgabe Müller-Armacks im Grundsatzreferat des Wirtschaftsministeriums!

Durch vollständige Konkurrenz zur Befreiung des Staates vom Einfluss der ‚Machtkörper‘ Welchenostalgischen Umdeutungen oder opportunistischen Vereinnahmungen des Konzeptes der sozialen Marktwirtschaft im einzelnen auch gegenwärtig vorgenommen werden, räumt man den sprachlichen Bombast der Publikationen von Eucken, Müller-Armack oder Erhard zur

Briefmarke Walter Eucken
Quelle: Wikipedia
Seite, dann wird klar, dass Soziale Marktwirtschaft vom Grundsatz her die poltische Lenkung der Wirtschaft, sei es durch das Parlament, sei es durch die Gewerkschaften, verhindern soll. Die Argumentation ist in der folgenden Weise aufgebaut: Der Zweck der sozialen Marktwirtschaft ist, wie gesagt, im Rahmen der Irenik „auf der Basis der Wettbewerbswirtschaft die freie Initiative mit einem gerade durch die marktwirtschaftliche Leistung gesicherten sozialen Fortschritt zu verbinden“. Hierbei wird Wettbewerb und Markt als eine Angelegenheit ‚der Wirtschaft‘ verstanden, während der soziale Ausgleich (Korrektur der Einkommensverteilung durch Einkommensumleitung 10) Sache des Staates ist.

Hieraus wiederum wird die Notwendigkeit einer „verfassungsmäßig zu verankernden Gewaltenteilung zwischen Staat und Wirtschaft“ 11) hergeleitet, die gewährleistet, daß „der Staat innerhalb seiner Sphäre so stark wir möglich ist, außerhalb seiner eigentlichen Aufgaben jedoch so wenig Macht wie mögliche ausüben sollte.“ 12) Die Befreiung des Staates vom Einfluss der Wirtschaft bedeutet im Gegenzug also auch, dass die Wirtschaft vom Einfluss des Staates, des Interventionsstaates befreit wird. Auch wenn das Wettbewerbsideal in der Praxis doch nicht verwirklich werden kann (gegenwärtig sind wir vom vollständigen Wettbewerb weiter entfernt denn je), dann bleibt für die Soziale Marktwirtschaft immer noch genug ideologische Munition, um gegen den Interventionsstaat zu Felde zu ziehen. Der Interventionsstaat nämlich als Vorhaben, wirtschaftliche Abläufe bewusst, kollektiv, also politisch zu gestalten, ist der eigentliche Feind der Sozialen Marktwirtschaft. Diesem Anspruch auf politische Gestaltung wird die Mechanik des Wettbewerbs entgegengesetzt: Die Wettbewerbsidee ist die beste ideologische Waffe gegen den Interventionsstaat. Entsprechend emphatisch werden die Parteigänger der Sozialen Marktwirtschaf bei der Würdigung des Wettbewerbs. Nawroth, einer der bedeutendsten Vertreter der katholischen Soziallehre, wendet sich entschieden gegen die „Ethisierung und Verabsolutierung  des Wettbewerbsprinzips“.

Bei dieser Gelegenheit stellt er einige Beispiele für die fast religiöse Inbrunst beim Umgang mit dem Begriff des Wettbewerbs zusammen. Er kritisiert „die für unsere Begriffe geradezu mythische Personifizierung und Verabsolutierung der Marktautomatik im gegenwärtigen neoliberalen Schrifttum. Da ist nicht nur die Rede von der ›supra-empirischen Gesetzmäßigkeit‹ (O. Veith), der ›großartigen Ordnungsautomatik‹, dem ›bewundernswerten Automatismus‹ (W. Schreiber), der ›geordneten Anarchie‹ (W. Röpke), sondern darüber hinaus von der ›außer- und übermenschlichen Intelligenz des Marktes‹ (F. Böhm), die als ›unsichtbare Kraft‹, als ›höheres Gesetz‹, als ›Instrument einer höheren Vernunft‹ (L Miksch) in Funktion tritt. Es ist erstaunlich, mit welchem Enthusiasmus das Wideraufleben der ›unsichtbaren Hand‹ als Symbol des Glaubens an eine gleichsam ›übermenschliche Vernunft‹ begrüßt wird. Ihren Weisungen gegenüber muss der wirtschaftende Mensch nach der Auffassung Hayeks , eben aus dem Bewusstsein unseres begrenzten Verstandes, die Grundhaltung der ›Demut‹ und des Gehorsams gegenüber den ›unpersönlichen und anonymen sozialen Prozessen‹, die den Menschen angeblich in Gebrauch nehmen, aufbringen, andern falls er empfindlich bestraft wird (…).“ 13)

Diese mythische Verklärung des Wettbewerbs ist verständlich. Er ist der Kern der ideologischen Kampagne. Er ist der Garant der Gewaltenteilung zwischen Staat und Wirtschaft, die Waffe gegen den Interventionsstaat. Ideologisch aber wird die Sache etwas anders gewendet: Der vollständige Wettbewerb verhindert, dass, wie es in den sozialdemokratischen Programmen heißt, die Privatwirtschaft Staatsgewalt usurpiert. Vergesellschaftung ist damit, wie erwähnt, nicht mehr nötig. Denn jede einzelne Wirtschaftseinheit ist bei dieser Konkurrenzform zu unbedeutend, um ökonomisch zu dominieren und zu schwach, um die Machtmittel des Staates zu vereinnahmen. Aber nicht nur dies: Die Wirtschaft der vollständigen Konkurrenz ist so leistungsfähig, daß Sozialpolitik durch Einkommensumleitung möglich ist. Damit wird es möglich, die irenische Formel mit materiellem Gehalt zu füllen.

Was ist der Grund für die Feindschaft der Ordo-Liberalen gegenüber dem Interventionsstaat? Ist dies nur der naive Glaube an die unsichtbare Hand oder sind es handfeste poltische Interessen? Der Ordo-Liberalismus entsteht nicht zufällig in der Großen Depression. „Die Weltwirtschaftskrise und die mit ihr verbundene politische Destabilisierung der Weimarer Republik waren der Auslöser eines ideologischen Syndroms, das ich als die ordoliberale Urangst bezeichnen möchte. Die Weltwirtschaftskrise war gleichzeitig die Phase, in der ein autoritär gewendeter Wirtschaftsliberalismus als das Mittel zur Bewältigung dieser Urangst seine erste Formulierung fand.“ 14)

Walter Eucken wirft die Frage nach der Beseitigung des Interventionsstaates bereits 1932 in einem Aufsatz über „Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus“ 15) auf. Der Weimarer Republik (und vergleichbaren Demokratien) hält er folgendes vor: Die enge Verflechtung mit der Wirtschaft unterhöhlt die Selbständigkeit der Willensbildung des Staates, auf der seine Existenz beruht. Der „Druck der Interessenten“ hat einen „Zersetzungsprozeß“ ausgelöst, so daß der Staat „das reine Staatsinteresse zur Geltung zu bringen, ... nur selten imstande“ ist. 16) (Das reine Staatsinteresse – offenbar völlig frei vom Einfluss der „Massen“?)   Die „staatlich-gesellschaftliche Entwicklung“ hat zur „Entartung“ des Kapitalismus geführt. Den Grund hierfür sieht Eucken in Folgendem: „Letzten Endes waren und sind es die Massen, unter deren wachsenden Druck ... die überkommene staatliche Struktur maßgeblicher altkapitalistischer Länder zerstört, der Wirtschaftsstaat geschaffen, sowie ohne Ersatz das alte Staatssystem aufgelöst wird ...; damit verfällt die staatlich-gesellschaftliche Organisation, in deren Rahmen der Kapitalismus entstanden ist, und ohne die er weder seine starken Kräfte entfalten noch überhaupt funktionieren kann.“ 17)

Diese Passage ist besonders deswegen informativ, weil Eucken zunächst von zwei Gruppen ausgeht, die den Staat zum Eingriff in die Wirtschaft veranlassen, nämlich die Unternehmer und die Arbeiter, 18) um aber dann zu resümieren, daß letzten Endes der wachsende Druck der Massen die Veränderung von Kapitalismus und Staat herbeigeführt hätten. 19)
Bei der weiteren Charakterisierung dieses entarteten Kapitalismus und des Wirtschaftsstaates beruft sich Eucken ausdrücklich auf den Staatsrechtler Carl Schmitt. 20 ) 20 Die Expansion der Staatstätigkeit habe den Interventionsstaat des entwickelten Kapitalismus hervorgebracht und damit den totalen (Wirtschafts)staat: Dieser sei ein schwacher Staat. 21) Bei dieser Gelegenheit lassen sich auch einige Mißverständnisse zum Vorwort der deutschen Ausgabe von Keynes‘ Allgemeiner Theorie klären. Keynes schreibt dort, daß seine Theorie „viel leichter den Verhältnissen des totalen Staates angepaßt werden“ könnte. Dieser totale Staat ist der demokratische Interventionsstaat, den Eucken beseitigen will. 22)

Diesem Verständnis vom Staat bleibt Eucken auch in seinen Nachkriegsschriften treu, in denen es um die Grundlegung der Sozialen Marktwirtschaft geht. In seinen „Grundsätzen der Wirtschaftspolitik“ 23) schreibt er, daß „der weitaus wichtigste Wesenszug staatlicher Entwicklung im 20.Jahrhundert ... die Zunahme im Umfange der Staatstätigkeit und die gleichzeitige Abnahme der staatlichen Autorität“ sei. Diese Zunahme sei gerade auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet zu verzeichnen im Bereich der Regelung der Arbeitsverhältnisse, der Produktion, des Außenhandels, der Kapitalversorgung usw. „Diese Zunahme der Staatstätigkeit nach Umfang und Intensität verschleiert den Verlust der Autorität des Staates, der mächtig scheint, aber abhängig ist. Man stellt es sich meist nicht anschaulich genug vor, welch wesentlichen, oft entscheidenden aber unkontrollierten Einfluß Verbände der Industrie, der Landwirtschaft und des Handels, größere Monopole und Teilmonopole, Konzerne und Gewerkschaften auf die Willensbildung des Staates ausüben.“ 24)

Die Bändigung der Lobby zielt nicht auf eine Stärkung der Volkssouveränität ab, denn diese endet dort, wo die Sphäre der Wirtschaft beginnt. 25) Die Gewaltenteilung zwischen Politik und Wirtschaft, von der eingangs die Rede war, soll nun den Einfluß der „Machtgruppen“ oder „privaten Machtkörper“ beseitigen. Hierbei ist festzuhalten: Für Eucken sind neben aller anderen Lobby auch die Gewerkschaften Machtgruppen im Kontext der anzustrebenden Gewaltenteilung: „Das Übermaß wirtschaftlicher Macht ist kennzeichnend für die bisherige wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland und in anderen Industriestaaten: Macht einzelner Firmen, Macht von Konzernen, Kartellen, zentralen Planstellen oder auch Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften“. 26) Die Gewerkschaften sind „soziale Machtkörper auf dem Arbeitsmarkt, 27) sie „legen die Bedingungen für die Arbeitsverträge fest, nicht der einzelne Arbeiter.“ 28) Diese Klassifizierung der Gewerkschaften durch Eucken ist nicht deswegen hervorzuheben, weil unklar wäre, ob diese nun über Macht verfügten oder nicht – zu betonen ist Euckens Qualifizierung der Gewerkschaften als Machtgruppe oder –körper deswegen, weil die Beseitigung all dieser Macht und damit die Herstellung der Autorität des Staates durch vollständige Konkurrenz erreicht werden soll, was auf die faktische Beseitigung der Gewerkschaften abzielt. (HDH)

Teil 2 folgt in unserer nächsten Ausgabe

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1)    Eingehender hierzu: R. Ptak, Vom Ordo-Liberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft. Stationen des Neoliberalismus in Deutschland, Opladen 2004
2)    W. Eucken, Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus, Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 36, (1932), S. 297-321.
3)    Im Einzelnen hierzu das Essay: Was eigentlich ist Neoliberalismus?
4)    Alfred Müller-Armack, Die wissenschaftlichen Ursprünge der Sozialen Marktwirtschaft (1973). In: Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft, Bern und Stuttgart 1981, S.181 f.
5)    A. Müller-Armack,: Der Moralist und der Ökonom. Zur Frage der Humanisierung der Wirtschaft, in: ORDO 21 (1970), S. 19-41, hier S. 29.
6)    Müller-Armack, Soziale Marktwirtschaft, Handbuch der Sozialwissenschaften (HdSW), 9. Band, Tübingen-Göttingen 1956, S. 390
7)    Derselbe, Soziale Irenik, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 64 (I), 1959
8)    E. Tuchtfeld, Soziale Marktwirtschaft als offenes System, in : F. Windhager, (Hg.) Soziale Marktwirtschaft, Sonderheft 4 der Schriftenreihe ‚Sicherheit und Demokratie‘, Wien 1982, S. 24, zitiert nach R. Ptak, Vom Ordoliberalismus …, a. a. O. S.214
9)    J. Starbatty, Die Soziale Marktwirtschaft aus historisch-theoretischer Sicht, S. 16, in: H. Pohl (Hg.) Entstehung und Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft, Beiheft 45 der Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Stuttgart 1986, zitiert nach R. Ptak, Vom Ordoliberalismus …, a. a. O. S.214
10)    Müller-Armack, Soziale Marktwirtschaft, Handbuch …a.a.O., S. 391
11)    Müller-Armack, Vorschläge zur Verwirklichung der Sozialen Marktwirtschaft (Mai 1948) in: derselbe, Genenalogie der Sozialen Marktwirtschaft, Zweite, erweiterte Auflage, Bern und Stuttgart 1981, S. 102, Hervorhebung im Original. In völliger Übereinstimmung hiermit Walter Eucken, der ein unabhängiges Monopolaufsichtsamt fordert, das nur dem Gesetz unterworfen sein soll und ebenso unentbehrlich sei wie der Oberste Gerichtshof. Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen 1975, S. 294
12)    Müller-Armack, Soziale Marktwirtschaft, Handbuch,… a.a.O., S.391
13)    E. Nawroth, Die wirtschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen des Neoliberalismus. Köln, Berlin, Bonn, München 1962, S. 19. Entschieden wendet sich Nawroth auch gegen den Versuch, die Papstenzyklika Quadragesimo Anno für die Soziale Marktwirtschaft zu vereinnahmen.
Eine ausführliche und sehr lesenswerte Auseinandersetzung mit der Sozialen Marktwirtschaft und dem Neoliberalismus hat Nawroth mit „Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus“, Heidelberg und Löwen 1961 veröffentlicht.
14)    Dieter Haselbach, Autoritärer Liberalismus und soziale Marktwirtschaft. Gesellschaft und Politik im Ordo-Liberalismus, Baden-Baden 1991, S. 17f., Hervorhebung im Original.
15)    Eucken, Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus, Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 36, (1932), S. 297-321.
16)    ebenda, S. 307.
17)    ebenda, S. 314, Hervorhebung im Original
18)    ebenda, S. 303 ff.
19)    Doch nicht nur, was die Staatsintervention im Bereich von Wirtschaft und Sozialem angeht, ist Eucken der Demokratie gegenüber zutiefst skeptisch: Auch eine rationale Außenpolitik werde wegen der „Demokratisierung der Welt und (der) damit vollzogene(n) Entfesselung dämonischer Gewalten in den Völkern unmöglich.“ ebenda, S. 319
20)    zu Schmitts Staatsauffassung bzw. zum totalen Staat vgl. Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 1. Aufl. Tübingen (1931), 2. Aufl., (Berlin), 1969, S. 73 ff., derselbe, Legalität und Legitimität, (Berlin) 1930, derselbe, Weiterentwicklung des totalen Staates in Deutschland (Januar 1933), in Carl Schmitt, Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles 1923-1939, 1. Aufl. (Hamburg) 1940, 2. Aufl. (Berlin) 1988. In seiner „Weiterentwicklung des totalen Staates“ schreibt Schmitt (S. 187): „Der heutige Staat [die Weimarer Republik, H. S.] ist total aus Schwäche und Widerstandslosigkeit, aus der Unfähigkeit heraus, den Ansturm der Parteien und der organisierten Interessen standzuhalten.“ Schmitts und Euckens Verständnis vom totalen Staat im Sinne eines schwachen Interventionsstaates nimmt die Theorie der neuen ökonomischen Rechten vom modernen Staat als Gefangenen bzw. als Beute mächtiger Interessengruppen vorweg (die sog. Regulatory–Capture–Theorie der Chicagoer Schule). Schmitt will diesen totalen Staat weiterentwickelt sehen als „qualitativ totalen Staat“, der dann der faschistischen Vorstellung vom „stato totalitario“ entsprechen würde.
21)    ebenda, S. 319
22)    John M. Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, Berlin 1955, Erste Auflage 1936, S. IX
23)    Eucken, Grundsätze   a.a.O.
24)    ebenda, S. 274,
25)    Es ist von Interesse, daß Eucken Parlamentarismus und Demokratie so gut wie nie anspricht. „Parlament“ taucht im Sachregister der „Grundsätze“ nicht auf, „Demokratie“ ist zweimal zu finden, und zwar beide Male in einem wörtlichen Zitat (einmal aus dem Economist von 1942: „Wenn die liberale Demokratie sich nicht mit Vollbeschäftigung verträgt, dann muß sie verschwinden.“ -Grundsätze S. 140 – und ein zweites Mal aus Keynes‘ „Ende des Laissez-Faire“, wo dieser den Nutzen halb-autonomer Körperschaften im Staat hervorhebt, die aber „letzten Endes der Souveränität der Demokratie, die sich im Parlament verkörpert, unterstehen.“ Eucken lehnt eine solche Vorstellung rundweg ab. Reichlich Eintragungen finden sich dagegen unter ‚Staat‘ und ‚Rechtsstaat‘, wobei der Rechtsstaat nie mit der Demokratie in Verbindung gebracht wird.
26)    Grundsätze...,a.a.O., S. 175
27)    ebenda, S. 176

Aus dem Buch:

Herbert Schui ist emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre und Bundestagsmitglied der Linkspartei. Er ist einer der Mitbegründer der "Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik" und iim Wissenschaftsbeirat von Attac aktiv. 





Schui, Herbert: Gerechte Verteilung wagen!
Verlag VSA, 2009, 179 Seiten, 14,80 Euro
ISBN 978-3-89965-358-8
Neue ISBN: 978-3-89965-358-8



Online-Flyer Nr. 231  vom 06.01.2010



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