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Inland
Enkel eines "Stuttgarter NS-Täters" macht überraschenden Rückzieher
Vorwurf der Zwangssterilisierung
Von Thomas Trueten

Eine mündliche Verhandlung zum Buch "Stuttgarter NS-Täter" (1) ist am Donnerstag kurzfristig abgesagt worden. Grund war das überraschende Zurückziehen eines Antrags auf einstweilige Verfügung durch den Kläger, den Stuttgarter Rechtsanwalt Volker Lempp. Dieser war juristisch wegen eines Kapitels über seinen Großvater Karl Lempp gegen den Autor, Arzt und NS-Forscher Karl-Horst Marquart sowie dessen Verleger, Hermann G. Abmayr vorgegangen.
Karl Lempp, ehemaliger Leiter des Städtischen Kinderheims sowie des Städtischen Gesundheitsamtes war laut Darstellung des Autors als leitender städtischer Beamter an Zwangsterilisierungen und an Kindereuthanasie beteiligt. Sein Enkel wollte nun durch eine Unterlassungsklage erzwingen, die Verbreitung des Buches "sofort und so lange einzustellen,
bis die Seiten, die Herrn Dr. Karl Lempp betreffen, aus dem Buch entfernt oder unkenntlich gemacht worden sind, einschließlich der Namensnennung auf der rückwärtigen Umschlagseite und im Inhaltsverzeichnis". Für den Fall der Zuwiderhandlung wurde beantragt, dem Verleger Hermann G. Abmayr und dem Autor des Kapitels, Karl-Horst Marquart von der Stolperstein-Initiative Vaihingen, ein Ordnungsgeld bis zu je 250.000,00 Euro bzw. Ordnungshaft bis zu sechs Monaten anzudrohen.
 
"Kultur des Wegschauens" weiter unangetastet
 
Der für die Verhandlung vorhergesehene Raum 155 des Stuttgarter war mit weit über 100 Teilnehmern völlig überfüllt. Auf dem Gang vor dem Saal drängten sich dutzende weitere Interessierte, darunter eine Schulklasse. Vertreter des Arbeitskreis „Euthanasie“(2), der
Stolperstein-Initiativen (3), von den AnStiftern (4), des Schmetterling Verlages (5) sowie Herausgeber und  Autoren informierten die Anwesenden im Gerichtssaal kurz über die Hintergründe.


In Dresden kamen sie nach der Befreiung vom Faschismus wegen Euthanasie vor Gericht: Ärzte und Pfleger
Quelle: www.mahnung-gegen-rechts.de/

Mit "gemischten Gefühlen" wurde die geplatzte Verhandlung von den Vertretern der Initativen aufgenommen. Auch wenn damit vorerst der Druck und auch die wirtschaftlichen Folgen von Verlag und Herausgeber genommen sein dürfte, bliebe damit doch die Stuttgarter "Kultur des Wegschauens" vorerst unangetastet. „Bei einer Verhandlung wären die Vertreter der Stadt zu einer Stellungnahme gezwungen worden", so einer der Initiativen-Vertreter.
Schließlich schlummerten in den Archiven der Stadt meterweise Akten über die an den Verbrechen während des Faschismus Beteiligten, die noch immer nicht aufgearbeitet wurden. Das unterstreiche die Notwendigkeit eines Dokumentationszentrums, das nach den Vorstellungen der Initiative Gedenkort Hotel Silber (6) in der ehemaligen GeStaPo-Zentrale
eingerichtet werden soll. Aktuell ist das ehemalige Hotel jedoch vom Abriß bedroht (7).
 
Post von den Anwälten der Beklagten

Volker Lempp hatte kurz vor dem Prozesstermin von den Anwälten der Beklagten umfangreiche Post erhalten. Mit ihrer 12-seitigen Erwiderung und einer ergänzenden 15-seitigen Anlage belegten die Verteidiger, dass „(...) Dr. Lempp federführend in das Zwangssterilisationsverfahren im hiesigen Raum involviert war (...)". Zugleich wurde belegt, dass die Faschisten die Euthanasie und die darin verstrickten verantwortlichen Personen
naturgemäß "diskret" behandelten, und dass auch die Abläufe der Geheimhaltung unterlagen. So sei „bekannt, daß Ärzte nur in Zusammenhang mit einschlägigen Euthanasiefällen Zugang zum Kriminaltechnischen Institut des Reichssicherungshauptamtest hatten", und dass die in den historischen Dokumenten geäußerte Bezeichnung "Behandlung" in Wahrheit "Tötung durch Verabreichung einer Überdosis von Tabletten oder Spritzen bedeutet."
 
Erfolgreich “entnazifiziert“
 
Betraut mit der Besorgung des in der Euthanasie bevorzugt verwendeten Medikamentes "Luminal" (8) war die Assistentin Lempps, Dr. Schütte. Sie und der „an höchster Stelle angesiedelte Medizinalbeamte" Prof. Dr. Eugen Stähle (9), der das Euthanasieprogramm in Baden-Württemberg organisiert hatte und sich „mithin in der Rolle des Vorgesetzten von Dr. Lempp" befand, waren auch die "Entlastungszeugen" für Dr. Lempp während dessen Entnazifizierungsprozesses. In diesem Geflecht aus gegenseitigem Schutz und Verschweigen der Wahrheit werde deutlich, warum bei der so genannten "Entnazifizierung" Dr. Karl Lempp nur als "Mitläufer" charakterisiert und lediglich zur Zahlung eines "Sühnebeitrages" von 2.000 Mark verurteilt und danach nie wieder angeklagt wurde. Für den Kläger Volker Lempp war das Urteil in diesem Spruchkammerverfahren von 1947 jedoch entscheidend gewesen. Er forderte in seiner Klage den „postmortalen Persönlichkeitsschutz" seines Großvaters.
 
Die Geister, die er rief
 
Ob die Erwiderung der Verteidiger für Volker Lempp ausschlagggebend war, den Antrag auf einstweilige Verfügung zurückzuziehen, konnte bisher nicht geklärt werden. Im Gerichtssaal äußerte er sich nicht dazu. Auch sonst enthielt sich der Anwalt, der laut ”Stuttgarter Nachrichten” vom 30.11.09 wegen des Buches für seine Familie befürchtete, „darauf angesprochen oder geschnitten zu werden”, öffentlicher Diskussionen, die ihm mehrfach angeboten wurden. Ob er die Geister, die er rief, so wieder los wird?

In der Hauptsache wolle er jedoch an der Klage festhalten, so die Beklagten. Der Schmetterling Verlag will jetzt überprüfen, ob der Vertrieb an den Handel wieder aufgenommen werden kann, aber auch, ob Schadensersatz gefordert wird. Bis zur Klärung kann das 383 Seiten umfassende Buch mit 48 Schwarz-Weiß-Abbildungen beim Verlag Hermann G. Abmayr wieder bestellt werden. Am 12.12. wurde im Kino Atelier der Film “Spur der Erinnerung“ gezeigt und anschließend über den Fall des "Täterbuchs" diskutiert. (PK)

(1) http://stuttgarter-ns-taeter.de/
(2) http://www.stolpersteine-stuttgart.de/index.php?docid=160
(3) http://www.stolpersteine-stuttgart.de/
(4) http://www.die-anstifter.de/
(5) http://www.schmetterling-verlag.de/
(6) http://gedenkort-hotel-silber.de/
(7)
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/architektur/2074420_Abriss-in-Stuttgart-Zynische-Entsorgung.html
(8) http://de.wikipedia.org/wiki/Phenobarbital
(9)
http://www.landesarchiv-bw.de/sixcms/media.php/120/45258/Lempp_Schreiben.pdf

Mehr Infos unter http://www.stattweb.de
 
“Stuttgarter NS-Täter“, 19.80 Euro (inkl. MwSt, zzgl. Versand), Bestellnummer 978-3-89657-136-6, Buch, broschiert, Schmetterling Verlag

Online-Flyer Nr. 228  vom 16.12.2009



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