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Aktueller Online-Flyer vom 24. April 2024  

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Kultur und Wissen
Harmonie und ein bisschen Kampf mit der bestehenden Ordnung - III
Christliche Gewerkschaften – ein historischer Streifzug
Von Hans-Detlev v. Kirchbach

„Beide Seiten“ – nämlich „Arbeitgeber und Arbeitnehmer“ –, so befand ein Leitdokument der Christlichen Gewerkschaften bereits 1899, hätten im Grunde „gemeinsame Interessen“: Beide beanspruchten sie „ mit Recht eine größtmögliche Verzinsung von Arbeit und Kapital“. Deswegen – proklamierten die betfesten Christgewerkschafter voll jesuanischer Herzenswärme – solle die „ganze Wirksamkeit von versöhnlichem Geist durchweht“ sein. 1) Amen.

Einst fromme Verklärungsrhetorik –


Nicht nur im Hinblick auf die sozialen Realitäten des ausgehenden 19. Jahrhunderts könnte man über derlei illusionistische Verklärung der Verhältnisse, die wir bereits im ersten Teil unserer kleinen Retrospektive zitiert haben, den Kopf schütteln. Doch erwies sich gerade diese verbale Verschönerungsmagie der kapitalistischen Wirklichkeit durch christliche Gesundbeter als langfristig zukunftsträchtiges Erfolgsprojekt.

heute Staatsdoktrin

Denn wer die Passagen aus den „Mainzer Grundsätzen“ der Christlichen Gewerkschaften von 1899 liest, könnte sich ohne weiteres an die seit 1949 staatsverbindliche Phraseologie von „Marktwirtschaft“ und „Sozialpartnerschaft“ erinnert fühlen. Hier haben wir originäre Vorläufer der Ideologie, die für die politische Identität und „sozialethische“ Legitimation der BRD schlechthin konstitutiv ist. Dieser Eindruck einer zwiespältigen Vorausweisung verstärkt sich noch, wenn man die Aussage des christlichen Gewerkschaftsführers Johannes Giesberts beim 1. Internationalen Kongress der Christlichen Gewerkschaften in Zürich anno Domini 1908 liest: „Das Ziel des (Arbeits-) Kampfes ist stets der Friede, das heißt eine Verständigung..., die in jüngerer Zeit ihren Ausdruck findet in dem Abschluss von Tarifverträgen.“ 2) Das könnte man heute auch ohne weiteres in Lehrbüchern zum Arbeitsrecht lesen oder im staatsbürgerkundlichen Schulunterricht hören.

Arbeitsfrieden als oberstes Ziel

Das „Zentralblatt der Christlichen Gewerkschaften“ begründete bereits anno 1905 mit geradezu „bundesrepublikanisch“ anmutenden Sentenzen, wann – und wann nur! - Arbeitsniederlegung, also Streik, gerechtfertigt sein könne: „Die Arbeitseinstellung hat den Zweck, nach Versagen aller friedlichen Mittel den Arbeitgeber durch starken Druck zu veranlassen, den Wünschen der Arbeiter nach einer Verbesserung der Arbeits-und Lohnbedingungen entgegenzukommen.“ 3) Der Tarifstreik als aller-ultimativstes Mittel sollte für begrenzte Zwecke geführt werden können, aber nur, damit es „dem Arbeiter“ in der bestehenden Wirtschaftsordnung stückweise besser gehe. Politischen Streik jedoch, Generalstreik, und jeden Gedanken an eine Überwindung eben jener bestehenden Wirtschaftsordnung, lehnten die christlichen Gewerkschaften unmissverständlich ab. 1906 betonte das „Zentralblatt der Christlichen Gewerkschaften“ erneut die antisozialistische, antimarxistische Grundhaltung: „Die Klassenkämpfe, den Klassenhass, mit seinem die Arbeits- und Berufsfreudigkeit lähmenden Einfluss lehnen die Christlichen Gewerkschaften ab. Eine extreme Scheidung der Lohnarbeiterklasse von den anderen Volksschichten halten sie sowohl im vaterländischen Interesse als auch im Interesse der Weiterentwicklung der deutschen Wirtschaft für verfehlt.“ 4)


Bis heute nichts dazu gelernt?
Quelle: Broschüre „50 Jahre CGB"

Ganz ohne „Klassenkampf“ geht’s doch nicht

Dieser Satz lässt sich durchaus doppelt deuten: einerseits wenden sich die Christlichen Gewerkschaften gegen die hochnäsige Standesarroganz der „besseren Stände“ gegenüber dem „Proletenpack“ und „Lumpengesindel“ - die heute – Stichwort Sarrazin & Co. – in postmodernisierter Form wieder neu aufgelegt zu werden scheint. Andererseits setzen sie dem Projekt einer revolutionären Überwindung der kapitalistischen Klassenherrschaft das Modell einer friedlich-schiedlichen, letztlich ergebenen, Einfindung der „Lohnarbeiterklasse“ in die vorgegebenen Verhältnisse entgegen. Heute würde man in anderem Zusammenhang von „Integration“ sprechen. Freilich funktionieren in der Praxis  die frommen Abstraktionen nur begrenzt. Und so kam es wohl, dass sich die alltägliche Tätigkeit christlicher Gewerkschafter durchaus von den hehren Grundsätzen gottbegnadeter Versöhnlichkeit und Harmonie abheben konnte – ja, musste. Das sah schon Carl Legien, der spätere Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, in seinem Grundlagenwerk über „Die deutsche Gewerkschaftsbewegung“ (1900). Denn die Wirklichkeit ließ den „Christlichen“ nach Beobachtung Legiens gar keine andere Wahl, als die „Erkenntnis, dass sie nicht gegen die anderen Gewerkschaften kämpfen müssen, sondern mit ihnen.“ Um sich nicht selbst als überflüssig aus der sozialgeschichtlichen Agenda zu löschen, mussten sie denn bis 1914 wiederholt „gemeinsame Sache“ mit den sozialistischen, „klassenkämpferischen“, Freien Gewerkschaften machen – etwa beim großen Bergarbeiterstreik 1905 und im Kampf gegen die Aussperrung der Bauarbeiter 1910. 5)

Gesamtverchristlichung der Gewerkschaftsbewegung

Und heute? Das Streikrecht ist als Teil des Koalitionsrechts im Artikel 9 des Grundgesetzes wenigstens theoretisch garantiert. Aber ganz im Geiste der Versöhnungsappelle, welche die Christlichen Gewerkschaften zu Ende des vorletzten Jahrhunderts proklamierten, steht dem Streikrecht die grundlegende arbeitsrechtliche „Friedenspflicht“ entgegen. Streik will das Verfassungs- und Arbeitsrecht der BRD daher nur als „ultima ratio“ zulassen, ausschließlich zur Erreichung begrenzter tarifpolitischer Ziele, letztlich mit Orientierung auf die Wiederherstellung des „Arbeits-“ und mithin Systemfriedens. Der kapital-„versöhnliche Geist“ der klassischen christlichen Gewerkschaften hatte also ausreichend Atem, um noch das Koalitionsrecht der BRD zu „durchwehen“. Mehr noch: das eherne Paradigma des sozialpartnerschaftlichen Friedens schreiben sich heute, gewerkschaftspolitisch gesehen, beileibe nicht nur die christlichen Gewerkschaften auf die Fahnen. Auch der DGB, Erbe der einstigen „Freien“ und von den „Christlichen“ als klassenkämpferisch abgelehnten „sozialistischen“ Gewerkschaften, hat dem Klassenkampf längst abgeschworen und sich ins christliche Gehege der Friedenspflicht und des „Interessenausgleichs“ einzäunen lassen. Damit, so behaupten Theoretiker der „Marktwirtschaft“ seit jeher, sei der Kapitalismus ja im Grunde überwunden – der Klassenkampf, so fehlschließen sie aus der Aufgabe desselben durch die Einheitsgewerkschaften, sei abgeschafft.

Rein spirituell den „Geist des Kapitalismus überwinden“

Freilich scheint diese Analyse kaum reeller als jene Spezies von „Kapitalismuskritik“ und „antikapitalistischer Perspektive“, wie sie beispielsweise der Theologe August Pieper – einer der maßgeblichen Theoretiker der Christlichen Gewerkschaften – 1925 im „Zentralblatt“ programmatisch folgendermaßen entwickelte: „Erst wenn die Christlichen Gewerkschaften die Arbeit der Lohn- und Gehaltsempfänger zur Berufsarbeit erheben kraft Erweckung und Betätigung des Berufsgedankens als der Idee des Dienstes an den lebendigen Mitmenschen in der Lebensgemeinschaft der Volksgemeinschaft (sic!), vermögen sie den Geist des Kapitalismus zu überwinden.“ 6) Solch gutgemeinte, idealistische, fast schon spiritistische, Geistesbeschwörung und Geistervertreibung musste freilich grandios scheitern – nicht an einem diffusen „Geist“, sondern an der realen Materialität des Kapitalismus.

Hauptsache: „Überwindung des Klassenkampfes“

Was acht Jahre später von dieser schönen Vision des Gottesmannes Pieper übrigblieb, war gerade mal die von ihm beschworene „Volksgemeinschaft“, die sich – anders, als von Pieper erträumt – keineswegs als „Dienst am lebendigen Mitmenschen“ erwies, sondern als Kriegs- und Todesgemeinschaft. Nicht ohne Schuld übrigens der Zentrumspartei, für die August Pieper zu Kaisers Zeiten den Wahlkreis Köln im Preußischen Abgeordnetenhaus vertreten hatte (1906-1918) und den Wahlkreis Krefeld im Reichstag (1907-1918). 7) Unter Beschwörung einer neuen „Volksgemeinschaft“ stimmte die Zentrumspartei 1933 für Hitlers Ermächtigungsgesetz und damit auch für die Auflösung der Christlichen Gewerkschaften. Doch diese Art „Volksgemeinschaft“, das muss man einräumen, hatten die Christlichen Gewerkschaften nicht gewollt. Dennoch schwingt die Idee einer „Volksgemeinschaft“, die den Klassenkampf durch soziale Interessenharmonie „überwindet“, auch als hintergründiger Kontrapunkt des großen Staats-Gesangs von der der „marktwirtschaftlichen Friedensordnung“ mit. Insofern haben die christlichen Gewerkschaften über die Epochenbrüche des 20. Jahrhunderts hinweg langfristige Wirkung entfaltet.


Chrichtlich-Demokratische Arbeitnehmer mit berühmten Arbeiterführern
Quelle: Zeitschrift GÖD_3/2005

Insbesondere mit ihrer Orientierung auf eine quasi ständische Befriedung des – geleugneten – Klassenkampfes und ihrer aus der christlichen Soziallehre entnommenen theologischen „Harmonisierung“ der profanen, existentiellen Interessengegensätze zwischen Kapital und Arbeit sind sie als eine der frühen Referenzquellen für die viel später begründete Bundesrepublik „geschichtsmächtig“ geworden. Dass sie selbst, die als Organisation Christlicher Gewerkschaftsbund (CGB) erst 1955 wieder begründet wurden, nach 1949 gleichwohl nur eine sekundäre Rolle spielten, mag insofern aus der Sicht christlicher Gewerkschafter geradezu an Tragik heranreichen. Allerdings kann nicht verschwiegen werden, dass ein Teil der jüngsten Geschichte der CGB- Gewerkschaften in der Bundesrepublik mindestens phasenweise ebenso ausgeprägte Züge der Groteske aufweist. Ihr ohnehin gespaltenes Renommee ruinierten sie zum Teil selbst, namentlich in den siebziger und achtziger Jahren, nicht zuletzt als Folge ihres aussichtslosen Bemühens, sich gleichrangig neben den „Einheitsgewerkschaften“ des DGB zu behaupten, und in ihrer damit korrelierenden Suche nach oftmals dubiosen Bündnissen bis an den äußersten rechten Rand des politischen Spektrums. Hierzu mehr im nächsten, dritten Teil unseres Rückblicks auf die Geschichte der christlichen Gewerkschaften. (HDH)

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1) Isabella Bacher, „Die christlichen Gewerkschaften und ihre Stellung zum kapitalistischen Geist“, Inaugural-Dissertation an der Wirtschafts-und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln, 1927, S.37; s. Auch Teil 1 dieser Serie: NrhZ Nr. 222 vom 04.11.2009
2) Zentralblatt der Christlichen Gewerkschaften, 1908, S. 215
3) Zentralblatt der Christlichen Gewerkschaften, 1905, Nr. 1, S. 201
4) Zentralblatt der Christlichen Gewerkschaften 1906, zitiert bei Bacher, aaO, S. 38
5) Bacher, aaO, S. 39
6) Pieper, Berufsfreude, Beruf und Berufsstand, Zentralblatt der Christlichen Gewerkschaften, 1925
7) August Pieper, 1867-1942, Theologe, einflussreicher Theoretiker der christlichen Arbeitnehmerbewegung, Zentrumspolitiker (s.o.).Pieper war enger Mitarbeiter des katholischen Theologen und christlichen Sozialpolitikers Franz Hitze (1851-1921), der zu den Gründerfiguren der katholischen Arbeitervereine und des Caritasverbandes (1897) zählt. Hitze wird von Historikern als Wegbereiter der Bismarckschen „Sozialreformen“ und somit des modernen Sozialstaates gehandelt. Er gehörte für die Zentrumspartei von 1884-1918 dem Reichstag sowie 1919/20 der Verfassungsgebenden Nationalversammlung von Weimar an. In Köln ist die an das DGB-Haus am Franz-Böckler-Platz angrenzende Straße nach Franz Hitze benannt.

Online-Flyer Nr. 224  vom 18.11.2009

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