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Kultur und Wissen
Sandra Koubas „Perspektive Bahnhof Zoo“
Fragile Strukturen und schmerzhafte Eindringlichkeit
Von Gerrit Wustmann

„Das Thema Drogen ist immer aktuell“, sagt Sandra Kouba. Ihre Bühnenneufassung der Geschichte um Christiane F. und die „Kinder vom Bahnhof Zoo“ ist kompromissloses Off-Theater, das sich nicht für Provokation, sondern für Menschen interessiert. Die gut besuchte Premiere am 6. November im Köln-Ehrenfelder Künstler Theater bot Einblick in einen Stoff, der auch 31 Jahre nach der Erstveröffentlichung nichts von seiner Wirkung eingebüßt hat.

Die Inszenierung ist als Kinder- und Jugendtheater deklariert, zieht aber schon am ersten Abend ein durch alle Alters- und Gesellschaftsschichten gemischtes Publikum an. Die Thematik ist klug gewählt. Das Buch, das 1978 erstmals mit ungeschönter Klarheit Licht in eine Szene warf, von der die deutsche Öffentlichkeit nichts wissen wollte – nur um dann umso schockierter vor den Tatsachen zu stehen -, ist heute Allgemeingut und Schulstoff, ebenso wie der Film von Uli Edel („Der Baader-Meinhof-Komplex“, „Letzte Ausfahrt Brooklyn“).


Sandra Kouba als Christiane F. 
Bild: Rolf Franke / Actorsphotography

Die politische Dimension ist 2009 nicht minder bedeutungsgeladen. Drogentote, Prostitution von Minderjährigen, Beschaffungskriminalität, Polizeigewalt, all das ist immer noch Alltag in Deutschland. Nur hat es in einer Multimediagesellschaft, die zum Abendessen Kriege live und in Farbe auf der Mattscheibe erlebt, um sich danach von den Witzeerzählern der Comedyindustrie bespaßen zu lassen, keine große Wirkung mehr. Unwillkürlich muss man während Koubas Inszenierung an Bret Easton Ellis’ „American Psycho“ denken – es ist die Normalität, die Alltäglichkeit des Elends, die uns hier vorgeführt wird.

„Menschen wie Christiane finde ich interessant. So jung zu sein und schon so viel durchgemacht zu haben, flößt mir Respekt ein“, sagt Kouba, für die ihre Hauptfigur, die sie auch selber spielt, eine Heldin ist, „weil sie trotz aller Schwierigkeiten nie aufgegeben hat“.

„Perspektive Bahnhof Zoo“ ist mit Unterstützung von Peter Körner, dem Leiter des Kölner Spielball Theaters, Sandra Koubas erste Co-Regiearbeit. Das Spiel der Darsteller ist einerseits entfesselt und rücksichtslos, andererseits stets sehr genau und auf den Punkt. Mit den Mitteln des modernen Theaters, mit Musik und Videoinstallationen erforscht die Inszenierung die Schattenseiten einer Existenz am Rande einer Gesellschaft, die ihre „Ausgestoßenen“ lieber als Randerscheinungen abtut, anstatt ihnen den Status von Menschen mit eigenen fatalen Geschichten zuzubilligen. Sandra Kouba ist es gelungen, die Handlung immens zu verdichten. Mit Christiane (Kouba), Babsie (Nadja Wirtz), Detlef (Serjoscha Thiel) und Frank (Ulrich Faßnacht) bricht sie die Ereignisse auf nur vier Charaktere herunter und gewinnt dadurch maximale Intensität. Die Flucht vor der Polizei, die quälenden Erlebnisse der Prostitution, die Verzweiflung an fragilen familiären Strukturen – all das sehen wir nicht, müssen es auch nicht sehen, zumindest nicht szenisch. Die Figuren erzählen es uns, und sie tun es derart überzeugend und eindringlich, dass man bisweilen vergisst, in einem Theater zu sitzen. Die Videoinstallationen, die Peter Körner gezielt, nie aufdringlich und immer mit der nötigen Zurückhaltung einstreut zeichnen ein atmosphärisches Szenenbild und entfalten ihre Wirkung ohne die oft gesehene Effekthascherei.


Kouba und Thiel / Bild: Wolfgang Weimar

Kulisse gibt es nicht. Auch keine Requisiten. Die Örtlichkeit definieren die Darsteller im Spiel selbst, die Heroinspritze ist Pantomime. Das Stück bedient sich minimalistischer Mittel, reizt sie aus bis zur Neige und zeigt auch, dass überzeugendes Theater keinen übertünchenden Bombast, keine Nacktheit und keine vermeintliche Provokation benötigt, die alle zusammen in der Regel andere Defizite überspielen. Ums Spiel geht es eigentlich. Die musikalische Untermalung lässt den Zuschauer das David-Bowie-Konzert erleben, als stünde er in der Menge, der simple Stroboskopeffekt präsentiert eine Entzugsodyssee, die von der Qual lebt, die Kouba und Thiel auf den schwarzen Bühnenboden bringen – und nur noch übertroffen wird von der alptraumhaften Szene in der Besserungsanstalt, in der Kouba und ihre Mitspieler den hilflosen Betrachter in einen absurden Sog der Verzweiflung ziehen. Der Schrei nach Erlösung verhallt mit Babsis Tod – dem damals jüngsten Drogenopfer Deutschlands.

Die beeindruckendste Stärke ist die Sprache. Kouba nimmt sowohl Zitate aus der Buchvorlage als auch eigene Dialogversionen von Szenen, und denkt sich dabei hinein einerseits in den Jugendduktus der Siebziger, andererseits in eine auch heute an jeder Ecke gehörte Alltagssprache, die oft schwammig und rotzig ist, und deswegen echt. Zumeist ergeben Sprache und Spiel eine Symbiose des Realen, des unmittelbar Erlebbaren.


Nadja Wirtz, Ulrich Faßnacht, Serjoscha Thiel, Sandra Kouba
Bild: Wolfgang Weimar


„Menschen, die in Abhängigkeit geraten, sind Menschen wie du und ich“, sagt Kouba. „Das Stück soll anziehen durch seine liebenswerten Figuren, und es soll abschrecken. Junge Menschen brauchen jemanden, der ihnen zuhört. Egal ob Eltern, Lehrer, Familie oder Freunde. Besonders in der Pubertät, in der wir verunsichert sind über uns selbst und die Welt. Wir wollen irgendwo dazugehören, wollen uns unsere Gedanken machen und uns entwickeln. Entwicklung ist aber nur dort möglich, wo man gefördert wird und in gesundem Maß konstruktiv kritisiert. Das ist, glaube ich, ganz wichtig.“

Das ist es in der Tat. Es ist wichtig, die bezeichneten Phänomene als eine Problematik gesamtgesellschaftlicher Strukturen zu verstehen, anstatt sie ins Außen der Innenwelt zu befördern und darüber hinwegzugehen. „Ich brauche jemanden, mit dem ich über meine Probleme reden kann“, sagt Christiane, und Sandra Kouba sagt: „Helden sind für mich Menschen, die eben nicht immer alles richtig gemacht haben“.


PERSPEKTIVE BAHNHOF ZOO
von Sandra Kouba nach dem Buch von Kai Hermann und Horst Rieck
Regie: Peter Körner und Sandra Kouba
mit: Sandra Kouba, Serjoscha Thiel, Nadja Wirtz, Ulrich Faßnacht

Weitere Termine:
13. November 2009 / 12 Uhr / Kölner Künstler Theater
16. November / 11 Uhr / Mütze
20. November / 12 Uhr / Kölner Künstler Theater
22. November / 18 Uhr / Freies Werkstatt Theater
27. November / 11 Uhr / Mütze
4. Dezember / 20 Uhr / Mütze
7. Dezember / 11 Uhr / Mütze
14. Dezember / 11 Uhr / Mütze
18. Dezember / 20 Uhr / Mütze



Weitere Infos unter www.sandra-kouba.de

(GW)

Online-Flyer Nr. 223  vom 11.11.2009



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