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Kultur und Wissen
Rezension: „Alles außer Tiernahrung – Neue politische Gedichte“
Es wird wieder geschossen
Von Gerrit Wustmann

Lange Zeit galt die politische Lyrik in Deutschland als tot. Was man fand, wenn man denn suchte, oder was sich bisweilen aufdrängte, waren allenfalls platte Meinungsgedichte, letzte Ausläufer des Social Beat. Inhaltlich kaum beachtenswert, stilistisch miserabel, mit missionarischen Unterton. Gedichte, die einfache Antworten gaben, anstatt Fragen zu stellen. Mit seiner mutigen und mit Bedacht edierten Anthologie „alles außer Tiernahrung. Neue politische Gedichte“ präsentiert der Augsburger Schriftsteller Tom Schulz nun die politische Lyrik der heutigen Generation…

Der Altersdurchschnitt der 25 von Schulz ausgewählten Autoren liegt etwa bei 35. Möglicherweise ist das gut so. Das Neue ist oft ein Privileg der jungen Generationen, gerade im Politischen. Revolutionäre waren selten älter als dreißig, Robespierre mal ausgenommen. Nun sind Lyriker keine Revolutionäre, aber viele tragen die Revolution im Kopf, oder zumindest die Veränderung. Es mag ein Zufall sein oder eine Kausalität, dass das Gros der Schriftsteller, Künstler und Intellektuellen sich – gerade heute, gerade hier – als system- und konventionskritisch erweist. Ob sich das „links“ einordnen lässt sei dahingestellt. In jedem Fall sind es Menschen, die in ihrem Schaffen Bestehendes hinterfragen, betrachten, kritisieren, persiflieren, aber nur selten einfach akzeptieren. Politik ist ebenso sehr Material, Arbeitsmaterial, so formbar und wandelbar, wie Sprache. Dass das Ergebnis nicht kategorisierbar ist in gut oder schlecht, sondern in zahlreiche mitunter hochkomplexe Graustufen, ist nicht Schwäche, sondern Stärke.
 
Schulz stellt seiner Anthologie den Ausspruch von Donald Barthelme voran, dass das „Ziel des Meditierens über die Welt“ die Veränderung der Welt sei: Der Grundsatz der Philosophie. Wo in der undurchsichtig strukturierten Medien- und Politwelt die Oberflächlichkeit, die Manipulation und der Aktionismus regieren, die einfachen Antworten auf schwierige Fragen, da bietet die Literatur und insbesondere die Lyrik die Tugend der Langsamkeit, des Innehaltens, des Hinterfragens. Die Zeit dafür ist da, war immer da, nur wird sie im 21. Jahrhundert von der zumeist banal-betäubenden Reizüberflutung übermalt.

Polyphones Panorama
 
Diese Gedichte erwarten keine Zustimmung, kein bestätigendes Nicken. Sie sind durchaus kontrovers ausgewählt, folgen keiner ideologischen Linie, auch keiner stilistischen. Es finden sich sowohl eingängige, lebensnahe Verse, als auch verschachtelte, verfremdende Beiträge, die sich nicht auf Anhieb erschließen. Das ist einer der Aspekte, die dieses Buch so stark machen. Wenn auch thematisch und generationsbezogen eingegrenzt, entfächert sich doch ein erstaunlich polyphones Panorama lyrischen Schaffens, das den vielfältigen Umgang mit Sprache ebenso würdigt, wie den Blick hinter das Vordergründige dessen, was manchmal gar erst auf den zweiten Blick eine politische Ebene hat. Es finden sich literarische Reminiszenzen, wie etwa bei Ron Winkler in Anspielung auf Rolf Dieter Brinkmann, der ja aus den durchaus politisierten 70er Jahren der Popliteratur zu uns spricht – und es finden sich historische, kulturelle, kulturhistorische ebenso wie tagesaktuelle Thematiken: Stichwort Hartz IV (Stan Lafleur) oder die Wirtschaftskrise.

„Wie ein Grenzschutz wieder / eine Linie zieht, es muß, es / darf geschossen werden“, eröffnet Björn Kuhligk seine „Liebe in den Zeiten der EU“ und bricht das Meinhof-Zitat mit der Anspielung auf Marquez, nur um später die Reaktion auf Gleiwitz zu ergänzen. Es ist eine sprachgewaltige Lyrik, die um zahlreiche Ecken denkt, nicht Kampf-, sondern Denk- und Erkenntniszonen ausweitet. Das darf auch ganz offensiv polemisch sein wie bei Adrian Kasnitz: „dein slip, / wird er feucht beim anblick der flakons? bei musik, die der / kaufhaus-dj auflegt für deinen privaten cash-flow?“ Die Stimme der Irritation, der manchmal ratlosen oder auch ratenden Betrachtung findet sich, so etwa in „hot magenta“ der von Thomas Kling entdeckten Sabine Scho: „ein beau vor der gardine / notably pale, oder ein unwürdiger / tod bei lachs in der springer- / kantine, was ist so falsch / an farben?“ Hier wird gar nicht geurteilt, es wird nichtmal politisiert, es wird lediglich, fast sanft, auf die Bahnen der alltäglichen Wahrnehmung verwiesen, um sie zu hinterfragen. Passend dazu das wunderbare Gedicht von Simone Hirth, das augenzwinkernd-bissig unsere Alltagsignoranz über die Folgen unseres Handelns nachzeichnet: Von nichts will das lyrische Ich etwas wissen, „Nur diese eine Zitrone / will ich aus dem Fenster werfen, / und wo sie landet, das / interessiert mich ebenfalls nicht.“

Hintergründig und wunderbar arrangiert
 
Themenanthologien sind so eine Sache, ähnlich wie Konzeptalben in der Musik. Damit hat sich schon Großmeister Johnny Cash verritten, wenn auch nur mit eigenen Werken. Es hat eben nicht jeder immer ein gutes Gespür. Diesen Vorwurf kann man Tom Schulz nicht machen, im Gegenteil. Seine Auswahl gehört zum Besten, was die moderne deutschsprachige Lyrik zu bieten hat. Hintergründige, wunderbar arrangierte Texte voller Sprach- und Lebensgefühl, voller nicht-damit-abfinden, voller kulturell und geographisch vernetzter Denkanregungen. Ein lesenswertes, ein wichtiges Buch.  



Tom Schulz (Hrsg.)
alles außer Tiernahrung
Neue politische Gedichte

Mit einem Nachwort von Theresa Klesper

Rotbuch Verlag, Berlin 2009

ISBN 978-3-86789-079-3
143 Seiten
16,90 €



(GW)



Online-Flyer Nr. 218  vom 07.10.2009

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